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Wir Steckdosen
In der Kabine hing ein Zettel mit dem Motto der Saison: »Was wir machen, machen wir zusammen.« Darunter stand es auf Englisch. Ich hatte diesen Aushang anfangs übersehen oder nicht ernst genommen, weil ich ihn für das übliche Motivationsgerede hielt, mit dem die Spieler ihre ganze Karriere lang traktiert werden. Aber im Laufe der Monate war dieser Satz immer mehr in mich eingesickert, und als die Saison sich ihrem Ende näherte, fiel mir ein Gespräch wieder ein, das ich an ihrem Beginn geführt hatte. An einem schönen Spätsommerabend im September, vor dem Spiel in Leverkusen, hatte ich mit Akaki Gogia vom Mannschaftshotel aus einen Spaziergang durch den Kölner Grüngürtel gemacht. »Das ist die beste Mannschaft, die ich je erlebt habe, sonst wären wir auch nicht aufgestiegen«, sagte er damals und klang enthusiastisch, obwohl er keine sonderlich guten Wochen hinter sich hatte. Kurz vor Ende der Transferperiode hatte ihm der Manager nahegelegt, den Klub zu verlassen, weil er kaum Chancen hätte zu spielen. In den ersten beiden Spielen war er nicht einmal im Kader gewesen, anschließend hatte er zweimal auf der Bank gesessen, war aber nur einmal kurz eingewechselt worden.
Doch selbst das bremste seine Begeisterung nicht. »Stell dir eine Wand vor mit Steckdosen aus aller Welt, und jeder von uns hat in eine dieser Steckdosen gepasst«, sagte er.
»Aber was ist mit den Spielern, die neu dazugekommen sind?«, fragte ich.
»Es gibt doch Adapter.«
»Und wo bekommt man die her.«
»Das sind wir«, sagte er. »Und weißt du, was der schönste Ort für einen Spieler ist?«
»Nein.«
»Die Kabine. Das ist wie eine Familie, ich bin da lieber als zu Hause. «
Eine Familie der passenden Steckdosen, Stecker und Adapter, Gogias Enthusiasmus war ansteckend. Diese Spieler waren offensichtlich bereit, sich als Team gut zu finden. Sie mochten nicht alle miteinander befreundet sein und ständig miteinander abhängen. Es gab beste Freunde wie Florian Hübner und Robert Andrich oder Grischa Prömel und Marvin Friedrich. Und es gab Freundeskreise, die mal zusammen essen gingen. Aber sie waren keine elf oder schon gar keine 32 Freunde, und doch hatte sich der Schaltkreis geschlossen, auch wenn manchmal Adapter dazu nötig waren. Es ging bei alldem aber nicht um eine Form von Magie. All das entstand nur, weil Leute bereit waren, sich darum zu kümmern, die Trainer und das Team, der Kapitän und der Mannschaftsrat.
»Wir sind ziemlich pflegeleicht«, hatte Hübner mir mal erklärt und wirkte dabei, als ob er gerne sagen würde, dass sie wilder und weniger ausrechenbar wären. Zugleich steckte darin ein gewisser Stolz. »Wir sind schon eine gute Gruppe«, sagte er. Auch Christian Gentner hatte sich bei Union vom Beginn an wohlgefühlt. »Ich weiß nicht, ob es am Verein oder an der Mannschaft liegt. Aber der Umgang miteinander ist super, keiner ist immer der Idiot.« Vermutlich hatte er das vorher in Stuttgart anders erlebt.
Dabei hatte es diese Mannschaft nie leicht gehabt. Die Bundesligasaison dauerte inzwischen fast 3000 Spielminuten, aber wie viele davon waren leicht gewesen, weil die Spieler eine klare Führung gemütlich nach Hause spielen konnten? 15 Minuten vielleicht, bestenfalls eine halbe Stunde. Die restlichen 2970 Minuten waren anstrengend gewesen, weil das Spiel auf der Kippe stand oder klar war, dass die Mühen nicht belohnt würden. Die Mannschaft hatte frustrierende Wochen ohne Sieg aushalten müssen und am Ende sogar noch die Unterstützung des Publikums verloren, auf die sie eigentlich dringend angewiesen war.
Ich hatte im Laufe der elf Monate keine heile Welt erlebt. Sie waren sich zwischendurch auf die Nerven gegangen und einmal fast an die Gurgel. Es gab Einzelgänger und Frustrierte, die wenig gespielt hatten oder nie. Es gab Verletzte wie Gogia, die monatelang außen vor waren. Auch im Leben einer Fußballmannschaft gibt es bessere und schlechtere Tage, doch die schlechteren hatten den Zusammenhalt nie zersetzt. Sie waren es zwischendurch leid gewesen, wenn ihr Trainer schon wieder forderte, dass der Ball zum Zielspieler sollte, obwohl sie einfach nur gerne eine Ermutigung oder ein Lob von ihm gehört hätten. Aber sie bewunderten ihn auch wieder dafür, dass er nie die Nerven verlor und sich immer darum bemühte, klar und gerecht zu sein. Dass er sie nie ohne Plan ins Spiel schickte und dass er sie besser machte.
Im ersten Geisterspiel, dem gegen die Bayern, das Hoffmann in Vertretung von Fischer gecoacht hatte, hatte ich immer wieder seinen Ruf bis unters Tribünendach gehört: »Zusammen!« Das war eine taktische Anweisung gewesen, weil alle der gleichen Idee folgen sollten und nicht einer denken, es würde von hinten heraus aufgebaut, während der andere einen langen Ball des Torwarts erwartete. Aber man konnte es auch als das verstehen, was diese Mannschaft in dieser Saison ausmachte: Es ging nur zusammen, als ein Wir.
Fußball hat dieses utopische Moment, indem das Gesamte größer wird als die Summe der Einzelteile und die Gemeinschaft den Einzelnen größer macht. Alle reden im Fußball ständig davon, alle wollen das, aber man bekommt es nicht so leicht. Wenn das passiert, entsteht auch bei den Profis ein besonderer Zauber, weil sie die gleiche Sehnsucht danach haben wie jeder Amateurkicker, und deshalb war Gogia so enthusiastisch.
Am Morgen vor dem Spiel gegen Paderborn ging die Mannschaft zum Anschwitzen vom Hotel auf einen Kunstrasenplatz hinüber. Irgendwann kam eine Gruppe junger Fußballspieler, die anschließend dort spielen würde. Die Kinder fragten ihren Betreuer: »Gegen wen spielen die?«
»Gegen Paderborn.«
»Wie spielen die?«
»Mit schnellen Spielern.«
»Und Union?«
»So als Mannschaft«, sagte der Betreuer.