zurück
Last Dance
Keven Schlotterbeck drückte sich im Trainerzimmer herum, als wollte er gar nicht wieder gehen. Er hatte den Trainern einen Geschenkkorb voller Weinflaschen mitgebracht. »Und ist der Wein gut?«, fragte Hoffmann. Schlotterbeck hob eine heraus, schaute ratlos das Etikett an und sagte: »Bestimmt, hat meine Mutter ausgesucht.« Es war sein letzter Tag, nicht nur der Saison, sondern auch bei Union. Er würde zum SC Freiburg zurückkehren, von wo er ausgeliehen war. Aber in diesem Moment fiel ihm das schwer.
»Er ist bei uns zu einem Bundesligaspieler geworden«, sagte Hoffmann, als Schlotterbeck das Zimmer verlassen hatte. Anfang der Saison hatte er ihn mal gefragt: »Schlotti, liebst du deinen Körper?« Er hatte zwar genickt, aber nicht verstanden, was Hoffmann von ihm wollte. Dann erklärte der Co-Trainer ihm, dass sein Körper sein Gut war, dass er pflegen müsste. Also hatte Schlotterbeck mehr Zeit im Kraftraum verbracht, hatte sich mehr pflegen lassen und war fitter geworden. Er ließ sich auf dem Platz nicht davon irritieren, wenn ihm ein Fehler unterlief. Er machte einfach weiter, auch das hatte er lernen müssen. Zugleich hatte er sich seine jungenhafte Leichtigkeit bewahrt, die ihn so sympathisch machte. Sie würden ihn in jeder Hinsicht vermissen.
Auch Christopher Lenz, Marius Bülter, Grischa Prömel, Marvin Friedrich, Marcus Ingvartsen und Robert Andrich waren richtige Bundesligaspieler geworden. Jeder hatte dem Portfolio seiner Fähigkeiten neue hinzufügen können. Lenz hatte gelernt, einen Pass oder eine Flanke nicht mehr gerade hinter die Abwehr zu spielen, sondern mit Schnitt, weil das viel schlechter zu verteidigen ist. Bülter griff nun schon mit dem ersten Kontakt den Raum an, was ihn viel dynamischer machte. Andrich fand besser die Balance zwischen Offensive und Defensive, er hatte auch gelernt, seine Aggressivität zu kanalisieren. Friedrich traute sich inzwischen häufiger, aus der Abwehr mit dem Ball den Gegner anzudribbeln, um im Spielaufbau neue Möglichkeiten zu schaffen.
Auch die Älteren hatten sich in der höchsten Spielklasse bewiesen, Christopher Trimmel, Rafał Gikiewicz und Sebastian Andersson konnten nun auf eine komplette Bundesligasaison zurückschauen. Aber nun war sie vorbei.
Nebenan hatte Adrian Wittmann bereits die Tafel abgewischt, auf der er die Saison über eigenartige Wörter und komische Formulierungen gesammelt hatte. Erwartungsgemäß war auch Urs-Deutsch dabei, seltsame Ableitungen aus dem Schwyzerdütsch wie »Schluckweh« für Halsschmerzen oder Seltsamkeiten, die nur die Bewohner dieses Büros verstanden, weil sie die zugehörigen Momente erlebt hatten. »Der Schweizer Mourinho« stand da auch, wie Fischer ein Fan auf der Rückfahrt aus Paderborn genannt hatte. Doch nun war die Tafel wieder leer, und das passte zur Kehraus-Stimmung.
Das erste Spiel nach dem Sieg über Paderborn mit der anschließenden Party in der Kabine war fast etwas peinlich gewesen, ein 0:4 in Hoffenheim, gegen eine allerdings sehr gute Mannschaft, für die es auch noch darum ging, sich für die Europa League zu qualifizieren. Bei Union hingegen war die Luft raus, und besonders für Ersatzkeeper Moritz Nicolas war es der frustrierendste Tag der Saison. Endlich hatte er mal spielen dürfen und kassierte nicht nur vier Gegentore, sondern verletzte sich auch noch. Ich schaute mir das aus einer Loge hoch über dem Spielfeld an, als Mitglied der Delegation des 1. FC  Union Berlin, die zunächst nur aus mir bestand und dann auch noch aus einem Scout, der für den Klub arbeitete. Zingler war schon in den Urlaub gefahren, und die anderen Präsidiumsmitglieder wollten am Wochenende wohl auch nicht mehr quer durchs Land fahren, um sich ein aus Sicht von Union bedeutungsloses Spiel anzuschauen. Also schauten nur der Scout und ich zu und aßen dabei Nüsse und Kekse, die uns netterweise gebracht wurden. Dann fuhr ich mit der Mannschaft zum Flughafen nach Baden-Baden. Im Bus vom Gate zum Flugzeug lag Marius Bülter schlaff dort, wo man sonst Koffer abstellte. Im Flugzeug stöhnte er: »Hoffentlich bekommen wir morgen frei, ich hab keine Lust, schon wieder zum Stadion zu kommen.« Es gab aber keinen freien Tag.
Union galt danach als Mannschaft, die mit der Saison abgeschlossen hatte, und die letzte Trainingswoche war frei von aller Anspannung. Dienstagmorgen saß ich im Gras und bewunderte die Schönheit einer konzentriert ausgeführten Technikübung. Ein Spieler warf dem anderen den Ball zu, zwischen ihnen zwei Stangen in den Boden gesteckt. Der andere musste den Ball um die linke Stange mit dem Vollspann und um die rechte mit der Innenseite des Fußes zurückspielen. Dann passten sie sich den Ball an den Außenseiten der Stangen vorbei zu, und ich hätte hier ewig sitzen und ihnen zuschauen können. Mir fiel dabei ein, dass die Tennisspielerin Andrea Petkovic mal gesagt hatte, Spieler würden auf »Jahrzehnte gelebter Werte« zurückgreifen. Konzentrierte Trainingsarbeit gehört dazu, im Fußball wie im Tennis: ein sauberer Spannstoß, ein Pass mit der Innenseite oder den Körper beim Kopfball richtig anzuspannen und nach vorne schnellen zu lassen.
Freitag stand ich am Ausgang des Trainingsplatzes, als Ken Reichel ihn mit einem demonstrativen Schritt verließ. »Das letzte Mal hier«, sagte er und ging. Sein Vertrag war ausgelaufen und nicht verlängert worden. Ich nannte Ken Reichel »den Klempner«, aber nur für mich, weil ich wusste, dass es als respektlos missverstanden werden könnte. Aber für mich verkörperte Reichel prototypisch eine oft übersehene Untergruppe in der Welt der Fußballprofis, die ihrer Tätigkeit mit der Haltung eines Facharbeiters nachgeht. Nichts an Reichel war sonderlich spektakulär, weder auf dem Platz noch in der Kabine. In der Gruppe fiel er kaum auf, ohne ein Mauerblümchen zu sein. Sein Schicksal, vom Stammspieler der Vorsaison zum Reservist geworden zu sein, nagte an ihm, aber er ließ es sich kaum anmerken. Allenfalls dadurch, dass er im Winter deutlich mehr Krafttraining machte als zuvor. Nur im Frühjahr hatte es einen Moment gegeben, als Trimmel mit ihm reden wollte, weil er sich seinen Frust wohl doch zu sehr anmerken ließ .
Als sich Christopher Lenz dann verletzte, hatte Reichel ihn so vertreten, dass das Fehlen von Lenz kein Thema wurde. Man merkte Reichel an, wie gut es ihm tat, in dieser Saison noch einen Beitrag geleistet zu haben. Bei der Niederlage gegen Hertha im Olympiastadion hatte er, wie so viele andere, nicht sonderlich gut ausgesehen, doch danach hatte er einen solide-verlässlichen Job gemacht. Mit inzwischen 33 Jahren ging er seltener nach vorne als Lenz, schlug aber gute Flanken. Außerdem hatte Reichel einen sehr guten Schuss mit links, und alle warteten darauf, dass er doch noch ein Tor für Union schießen würde, so wie in den Jahren zuvor, als er für Eintracht Braunschweig gerade gegen Union einige Male getroffen hatte. Reichel ging dem Job auf dem Platz mit der Haltung eines Spielers nach, der sachkundig und unaufgeregt seine Aufgaben erledigte, wo das nötig ist, und der zufrieden nach Hause geht, ohne tosende Ovationen dafür zu erwarten, dass der Wasserhahn nicht mehr tropft oder die rechte Angriffsseite des Gegners trockengelegt wurde.
Reichel war nicht der Einzige, der an diesem Freitag den Trainingsplatz zum letzten Mal verließ, Rafał Gikiewicz hatte sogar Tränen in den Augen, als er in die Kabine ging. Nachmittags kam das Trainerteam zusammen, zur »Auslegeordnung«, wie Fischer das nannte. Mit diesem Wort landete er noch auf Wittmanns Tafel. Sie trafen sich, um zu besprechen, was gut gelaufen war, was nicht und was sie in der kommenden Saison besser machen wollten.
Am Samstagmorgen fand im Hotel dann die letzte Mannschaftsbesprechung der Saison statt. Wittmann zeigte die Aufstellung und die Aspekte, die im letzten Spiel wichtig sein würden.
»Jungs, was ist der wichtigste Punkt auf dem Zettel?«, fragte Fischer.
»Die 41«, sagte einer der Spieler, ich konnte nicht ausmachen, wer es war. Die ganze Saison über war die Mannschaft an dem Aushang in der Kabine vorbeigelaufen, wo als oberstes Saisonziel die »40+« ausgewiesen war. Nun hatten sie 38 Punkte, mit einem Sieg über Düsseldorf könnten sie es erreichen .
»41, das ist mein wichtigster Punkt. Das ist Mentalität. Ich erwarte von uns, dass wir noch mal unser Gesicht zeigen. Und da schaue ich genau hin«, sagte Fischer. Es war heiß, auch schwül, und der Gegner würde alles versuchen, um nicht abzusteigen. Es würde noch mal einer besonderen Anstrengung bedürfen.
Als wir zum Stadion fuhren, wartete knapp einen Kilometer vor der Alten Försterei eine große Gruppe Fans am Straßenrand. Sie hielten Leuchtfackeln in der Hand und standen in einer roten Rauchwolke, sangen und klatschten. Sie hielten ein Transparent hoch, auf dem sie sich bei der Mannschaft bedankten. Ich sah Vossi im Vorbeifahren und fand es unendlich traurig, dass er und Unions Ultras ihren Spielern nur in der Unwirtlichkeit einer Durchgangsstraße für einen kurzen Moment zujubeln konnten. Die Spieler bekamen das kaum mit, weil wir so schnell vorbeifuhren, dass die Situation irreal wurde, wie eine Traumsequenz.
»Last Dance«, sagte Keven Schlotterbeck in der Kabine. Fast alle Spieler hatten die monumentale Dokumentation über Michael Jordan gesehen, den größten Basketballspieler aller Zeiten, die in der Corona-Pause bei Netflix gestartet war. Aber hier ging es nur um den letzten Tanz am Ende der Saison und für Schlotterbeck um das Ende seiner Zeit bei Union. Sie tanzten ihn, wie ich es nicht mehr von ihnen erwartet hätte. Sie schlugen Fortuna Düsseldorf mit 3:0, was der höchste Sieg der Saison war. Fischer konnte hinschauen, wohin er wollte, er sah nur Mentalität und Willen und Bereitschaft. Als wenn es eines endgültigen Beweises bedurft hätte, lief Christian Gentner in der letzten Minute des Spiels noch einmal mit nach vorne. Ich sah, wie er mit sich rang, mit 34 Jahren, in seinem 408. Bundesligaspiel, diesen Weg noch zu machen an diesem heißen Nachmittag, in einem Spiel, das entschieden war. Dann machte er ihn doch, kam auch noch mal an den Ball und legte ihn zu Manni Abdullahi hinüber, der das letzte Tor der Saison schoss. Gentner sank auf den Rasen, und mein Respekt hätte nicht größer sein können.
In der Kabine zeigte mir Anthony Ujah, der mal in Bremen gespielt hatte, wie viele Dankesnachrichten er bekommen hatte. Hätte Union verloren, wäre Werder Bremen abgestiegen, trotz eines hohen Sieges über Köln, nun musste Fortuna Düsseldorf in die Zweite Liga. Felix Kroos, der noch länger als Ujah in Bremen gespielt hatte, vermeldete am nächsten Tag via Twitter: »Habe jetzt mal alle Nachrichten von den Werder-Fans gelesen. Aktueller Stand: 1678 Kisten Bier und 5467 Liebesbekundungen (meistens männlich!). Danke dafür«.
Sie waren alle unheimlich stolz auf sich, und das durften sie auch sein. Entsprechend guter Dinge ging es ins Strandbad am Müggelsee, wo eine Saisonabschlussfeier stattfand, diesmal gesittet und geordnet. Die Spieler, deren Zeit bei Union vorbei war, wurden verabschiedet und stellten sich noch zu einem Gruppenfoto auf. Auch Michael Parensen war dabei, es war schlimm für ihn. Nicht nur seine Saison war vorbei, sondern seine Karriere. Als er sich verabschiedete, kämpfte er erfolglos mit den Tränen. Dann bedankte er sich bei den Menschen, »auf die ich mich immer verlassen konnte«.
Ich schaute übers Wasser und dachte daran, wie vehement Dirk Zingler zu Saisonbeginn behauptet hatte: »Wir wollen uns nicht verändern.« Doch seitdem war die ganze Welt nicht mehr die, die sie vor elf Monaten gewesen war. Und auch Union, diese Versammlung der Eigensinnigen, die sich gerne von der Welt abschotteten, um ihr Ding zu machen, hatte dem nicht entgehen können. Natürlich hatten sie sich verändert, aber das hieß ja nichts. Sie waren sich nicht verloren gegangen.
Sonntag war der allerletzte Tag. Die Spieler räumten ihre Spinde aus, und Susi machte im Lager schon Platz für die neuen Trikots, die bald kommen würden. Markus Hoffmann heftete seine Unterlagen zum letzten Spiel ab und stellte den Saisonordner in den Büroschrank. Urs Fischer schloss seine Schubladen zu. Dann gingen wir frühstücken, Ruhnert hielt eine letzte Ansprache und Fischer auch. Ich bedankte mich bei allen, und das tat zum Schluss auch Akaki Gogia, weil die Jungs dafür gesorgt hatten, dass er in der kommenden Saison in der Bundesliga würde spielen können, wenn er wieder gesund war. Schließlich nahmen wir uns alle gegenseitig in den Arm, was nicht den Vorschriften entsprach, aber trotzdem richtig war. Denn nun war alles, was wir erlebt hatten, bereits Geschichte. Wir würden unserer Wege gehen und in dieser Zusammensetzung nie mehr zusammenkommen.
»In vier Wochen ist alles vergessen, dann geht es wieder von vorne los«, sagte Fischer, als er sich im Trainerzimmer seine Tasche nahm, um nach Hause zu fahren. Ich widersprach ihm ungern, aber diese Saison würde niemand vergessen.