»Was hofft ihr?«

Sie kamen gut voran. Mit der Zeit wurde Rosa ruhiger. Es waren viele Menschen unterwegs. Die Wachmänner beachteten sie gar nicht. Simon kannte den Weg. Er wollte Wien bis zum Abend hinter sich lassen und irgendwo bei einem Bauern in einer Scheune einen Schlafplatz finden.

Erst im Schlosspark von Schönbrunn machten sie eine Rast. Simon holte die Jause aus dem Rucksack. Seit zwei Stunden waren sie nun unterwegs.

»Was machen deine Füße?«, fragte Simon.

»Geht schon«, sagte Rosa. »Die alten Schuhe sind gut eingegangen.«

Sie musste lachen, er lachte mit.

»Und dein Bein?«, fragte sie.

»Gar kein Problem«, sagte Simon.

Bei einem Brunnen füllten sie die Feldflasche auf. Weil das Wetter schön war und der Weg angenehmer als die stark befahrene Straße daneben, stiegen sie zur Gloriette hinauf und schauten noch einmal auf die Stadt hinunter.

»Wirst du’s vermissen?«, fragte Simon.

Rosa ließ den Blick über die Häuser schweifen.

»Manche Sachen«, sagte sie. »Aber nicht alle. Und du?«

»Manche Sachen«, antwortete er.

Rosa nahm noch einen Schluck aus der Feldflasche. Als sie sie in den Rucksack packte, bemerkte sie drinnen etwas. Sie hob es hoch. Ihr Märchenbuch. Ihre Bücher.

»Ach du …«, sagte sie verblüfft.

Simon grinste verlegen. »Ich konnt sie nicht liegen lassen.«

Rosa konnte gar nichts dazu sagen. Sie gingen einfach wieder los.

Sie verließen das Schlossgelände. Zurück auf der Straße waren sie noch nicht weit gekommen, als sie bemerkten, dass die Leute um sie herum unruhig wurden. Viele blieben stehen, lauschten und starrten zum Himmel hinauf. Rosa tat es ihnen nach.

»Was ist das?«, fragte sie.

»Flugzeuge«, sagte Simon und blickte ebenfalls hinauf.

Das Geräusch wurde lauter, ein Brummen und Dröhnen. Rosa beobachtete Simon. Er war einen Schritt zurückgetreten, in den Schatten einer Hecke, er stand da, als wäre er bereit, jeden Moment Deckung zu suchen.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte sie.

»Geht schon«, murmelte er. Seine linke Hand krallte sich um den Griff des Koffers. Rosa nahm seine rechte und hielt sie fest.

Jetzt wurde das Brummen sehr laut. Ein paar Menschen stießen überraschte Rufe aus. Flugzeuge, in schöner Formation. Fünf, nein, sechs … sieben. Alle Menschen waren stehen geblieben und starrten nach oben. Die Flugzeuge drehten eine große Schleife über der Stadt, dann kamen sie in ihre Richtung zurück.

Simon zitterte. Rosa sah sich um. Die meisten Menschen schauten einfach nur verwundert. Flugzeuge waren etwas Besonderes, die bekam man sonst nie zu Gesicht. Rosa wusste, dass Simon gute Gründe hatte, vor ihnen Angst zu haben, aber die anderen Menschen empfanden die Flieger nicht als Gefahr.

Da fiel etwas aus den Flugzeugen, für Bomben bewegte es sich zu langsam. Und zu leicht.

Alle sahen den Flugzeugen nach, die nun wieder am Horizont verschwanden. Das ganze Ereignis hatte keine zehn Minuten gedauert.

Es war Papier, das überall in der Stadt zu Boden flatterte. Die Leute bückten sich danach. Rosa sah, dass Simon wieder etwas Farbe ins Gesicht bekam. Sie ließ seine Hand los und griff nach einem der Blätter. Eine grün-weiß-rote Fahne war darauf abgebildet, die von Italien. Rosa las den Text:

»Wiener! Lernt die Italiener kennen! Wenn wir wollten, wir könnten ganze Tonnen von Bomben auf eure Stadt hinabwerfen, aber wir senden euch nur einen Gruß der Trikolore, der Trikolore der Freiheit. Wir Italiener führen den Krieg nicht mit Bürgern, Kindern, Greisen und Frauen. Wir führen den Krieg mit euerer Regierung, dem Feinde der nationalen Freiheit, mit euerer blinden, starrköpfigen und grausamen Regierung, die euch weder Brot noch Frieden zu geben vermag und euch nur mit Hass und trügerischen Hoffnungen füttert …«

Rosa musste sich beim Lesen sehr konzentrieren. Der Text ging noch weiter und klang sehr kompliziert. Sie verstand nicht alles, was da stand. Sie hielt ihn Simon hin. Zuerst lag seine Stirn in Falten, aber je länger er las, desto mehr entspannte sich sein Gesicht. Am Ende gab er ihn ihr lachend zurück.

»Was ist das?«, fragte Rosa.

»Irgendein Schrieb von den Italienern«, sagte er. »Furchtbar geschwollen, oder?«

»Aber wieso haben sie das hier abgeworfen?«, fragte Rosa.

»So macht man das«, sagte Simon. »An der Front passiert das oft. Die Österreicher werfen was auf die Russen ab, die Italiener bei uns, die Franzosen bei den Deutschen … Das ist Propaganda, Rosa. Das soll die Leute verunsichern. Jeder erzählt sein Märchen. Man braucht drauf nichts zu geben.«

Rosa las noch einmal die Worte auf dem Zettel. An einem Satz blieb sie hängen. Der war besonders.

»Sag nicht, dass du das ernst nimmst«, sagte Simon.

»Nein«, sagte Rosa. »Nicht alles. Aber da ist dieser Satz …« Rosa suchte mit dem Finger auf dem Papier: »Was hofft ihr?« Er war eine Anspielung auf den Sieg am Ende, den die Deutschen versprachen. Aber für Rosa war es nur dieser Satz, der sie zum Nachdenken brachte. Was hoffte man? Was hoffte sie?

»Schau mal«, sagte sie. »Da: ›Was hofft ihr?‹«

»Was ist damit?«, fragte Simon.

»Ich weiß nicht«, meinte Rosa. »Er gefällt mir, der Satz.«

Simon sah sie an. Dann lachte er. Er stellte den Koffer hin, nahm Rosa den Zettel ab und warf ihn auf den Boden. Plötzlich war sein Gesicht ganz nah an ihrem, er nahm sie mit beiden Händen an den Schultern, und ehe sie verstand, was passierte, hatte er sie auf den Mund geküsst. Nicht lange, aber fest. Als er sich zurückzog, spürte sie den Druck seiner Lippen weiter auf ihren.

Rosa starrte ihn an. Seine Augen leuchteten, dann grinste er verlegen.

»Was ich hoff?«, fragte er. »Na, auf dich hoff ich. Was denn sonst. Seit du mich da im Gasthaus gefunden hast, bist du nämlich die einzige, auf die ich mich verlassen kann. Weil, ich hab mich schon so dran gewöhnt, dass du bei mir bist, ich glaub nicht, dass ich mir das wieder abgewöhnen kann. Ich will’s auch gar nicht.«

Rosas Herz wollte aus ihrer Brust springen.

»Das musst du auch nicht«, sagte sie mit einer komischen Stimme, die ihr gar nicht wie ihre eigene vorkam. »Ich will’s auch nicht mehr anders.«

Jetzt lachte Simon, laut und glücklich, mit offenem Mund und leuchtenden Augen, wie sie ihn noch nie lachen gehört hatte.

»Na, dann ist’s ja gut«, sagte er. »Wenn ich auf dich hoff und du auf mich, was brauchen wir dann sonst noch?«

Er hob den Koffer auf und streckte ihr seine Hand hin. Rosa nahm sie und drückte sie fest. Und Hand in Hand gingen sie weiter.