Kapitel 23
Die biblische Hungersnot
Morgendämmerung. Als die Sonne auf einer Ebene außerhalb von Korem die beißende Kälte der Nacht durchbricht, bringt sie eine biblische Hungernot ans Licht. Jetzt, im 20. Jahrhundert. ›Dieser Ort‹, sagen die Helfer hier, ›ist der Ort auf Erden, der der Hölle am nächsten kommt.‹ Tausende von ausgemergelten Gestalten kommen auf der Suche nach Hilfe hierher. Viele finden nur den Tod. Jeden Tag strömen sie aus Hunderte von Meilen entfernten Dörfern herbei. Abgestumpft vom Hunger, hoffnungslos. Fünfzehntausend Kinder sind hier. Sie leiden, sie sind verwirrt, sie sind verloren. Der Tod ist überall. Alle zwanzig Minuten stirbt ein Kind oder ein Erwachsener. Korem, eine unbedeutende Stadt, ist zum Ort der Trauer geworden.«
Mit diesen Worten leitete der damalige BBC-Reporter Michael Buerk am 23. Oktober 1984 seinen Bericht über die Hungersnot in Äthiopien ein. Während der Journalist mit getragener Stimme spricht, zeigt die Kamera Tausende ausgemergelte Menschen, die auf einem Feld apathisch auf Lebensmittel-Hilfslieferungen warten: Kinder mit riesigen Köpfen, staksigen Streichholzbeinchen und aufgeblähten Bäuchen; Mütter, die versuchen, ihren Kindern die Brust zu geben, aber keine Milch mehr geben können; Männer, die die in Decken gehüllten Toten der Nacht zu einer zentralen Sammelstelle bringen; Alte, die zu schwach sind, um die Fliegen aus ihrem Gesicht zu verscheuchen, und eine weinende Mutter. Sie hat gerade ihr viertes, ihr letztes, Kind verloren. Als das Baby starb, hielt die Kamera voll drauf.
Der kaum zu ertragende Film brachte den Tod in Äthiopien zunächst direkt in britische Wohnzimmer, rüttelte später Menschen auf der ganzen Welt wach, inspirierte Rockstar Bob Geldof 1985 zum Live-Aid-Konzert, dem größten Rockkonzert der Geschichte. Eineinhalb Milliarden Menschen sahen und hörten die weltweit übertragenen Konzerte, rund zweihundert Millionen Mark an Spenden kamen zusammen. Doch für viele Menschen kam die Hilfe zu spät. Aufgrund jahrelang ausgebliebener Regenfälle, einer Heuschreckenplage, katastrophaler Infrastruktur und der Unwilligkeit und Unfähigkeit des Regimes des kommunistischen Diktators Mengistu Haile Mariam starben in den Jahren 1984 und 1985 in Äthiopien bis zu eine Million Menschen. Die Hungerkatastrophe ist noch immer ein Trauma der nationalen Psyche, noch immer haftet Äthiopien das Hungerimage an.
Achtundzwanzig Jahre nachdem Michael Buerk seine schockierenden Bilder filmte, fahren Senait und ich nach unserem Trip in die Danakil auf dem Weg von Mekele in Richtung Süden durch die Ebenen um Korem. Hier irgendwo muss es gewesen sein. Hier muss der Engländer, umringt von Menschen, die dem Tod näher waren als dem Leben, Zeuge der vermeidbaren Katastrophe geworden sein. Aber wo? Auf den kleinen, wie ein Flickenteppich die Berghänge bedeckenden Feldern dreschen Bauern die Ernte, türmen das Stroh zu kunstvollen Haufen auf und haben aus bis zu drei Meter langen Hirsepflanzen große Garben errichtet. Andere bringen die Getreidestoppeln mit dem vom Ochsen gezogenen Holzpflug bereits wieder unter die Erde. Am Straßenrand liegen Getreide und Hülsenfrüchte auf großen Planen zum Trocknen in der Sonne, Händler bieten Tomaten, Kartoffeln und rote Zwiebeln an. Andere bringen ihre Ernte auf dem Rücken oder auf von Eseln gezogenen Karren nach Hause, zur Mühle oder zum Markt. Fröhliche Kinder winken uns zu.
Senait ist zwei Jahre nach der schlimmen Hungersnot geboren. Als wir uns am Vorabend den BBC-Bericht auf Youtube angesehen haben, hat sie, die Ärztin, die Müttern schon oft mit fester Stimme sagen musste, dass sie nichts mehr für ihre Babys tun konnte, Tränen in den Augen. Sie möchte nicht, dass ich die Leute auf den Feldern nach den Erinnerungen an die große Hungersnot frage. »Der Hunger, das war Äthiopien. Das ist nicht mehr Äthiopien. Das ist vorbei. Das ist Vergangenheit. Lass die schlimmen Erinnerungen ruhen«, sagt Senait. Ich stimme ihr zu. Der Hunger, der einst in Äthiopien wütete und Hunderttausende tötete, gehört der Vergangenheit an. Doch ich denke, dass die Erinnerung daran, bei allen, die so alt wie ich oder älter sind, ohnehin noch wach ist, dass nicht erst meine Fragen die schlummernde Vergangenheit wieder ins Bewusstsein bringen werden. Senait hat dennoch kein gutes Gefühl, als sie mir auf ein abgeerntetes Feld folgt. Drei wohlgenährte Ochsen stampfen, sich im Kreis drehend, auf vollen Ähren herum, die Männer werfen die Spreu mit hölzernen Mistgabeln in die Luft, Frauen fegen die dicken Weizenkörner mit kleinen Besen zusammen, Kinder spielen hinter den Garben Verstecken.
»Dieses Jahr hatten wir eine sehr gute Ernte. Es hat zur richtigen Zeit geregnet und zur richtigen Zeit wieder aufgehört«, sagt Bauer Ayane Hadis zufrieden. Nicht nur für ihn und seine Familie hat das kleine Feld genug abgeworfen, er wird sogar noch einiges auf dem Markt verkaufen können. Der Sechzigjährige ist der Älteste auf dem Feld, alle anderen Männer und Frauen sind unter dreißig Jahre alt. Als ich ihn frage, ob er auch schon hier gelebt habe, als der Hunger wütete, antwortet er: »Ja, aber ich habe es überlebt.« Als der Alte zu erzählen beginnt, setzen sich viele der Kinder und Jugendlichen zu ihm und hören still zu. Für sie sind seine Geschichten Geschichten aus einer anderen Zeit. Ich kann mich noch daran erinnern, dass ich als kleines Kind im Fernsehen und auf Postern von Hilfsorganisationen die Bilder von verhungernden Kindern sah, die genau so alt waren wie ich damals.
»Mein Onkel, mein Nachbar, seine Frau und ihre Tochter starben. An die anderen Toten kann ich mich nicht mehr erinnern. Aber es waren viele, sehr viele«, erzählt der Bauer. »Siehst du die Straße dort?«, sagt er und zeigt dorthin, wo wir unser Auto geparkt haben. »Auf dieser Straße haben sich Tausende ins elf Kilometer entfernte Korem geschleppt, weil sie gehört hatten, dass die Regierung dort Essen verteilt. Aber auch in Korem gab es nichts. Viele schafften es ohnehin nicht bis in die Stadt. Sie fielen tot um und blieben einfach liegen. Niemand hatte mehr die Kraft, sie zu beerdigen.«
Was er als junger Mann mit eigenen Augen gesehen hat, etwas so Schreckliches, das wird sich in Äthiopien nie wiederholen. Da ist Ayane Hadis sich sicher. Das wird Allah nicht ein zweites Mal zulassen. Selbst wenn er es, wie damals, vier Jahre lang nicht regnen lässt, wird die Hölle nicht auf Erden zurückkehren. »Wir bewässern jetzt unsere Felder, wir haben die steilen Äcker am Hang terrassiert, und wir verwenden Dünger und dürreresistente Samen. Die Regierung hat für schlechte Zeiten Getreidespeicher angelegt, und die ausländischen Organisationen würden uns nicht noch einmal in unserer Not alleine lassen. Dürren wird es bei uns immer wieder geben, aber Dürren müssen jetzt nicht mehr zu Hunger und Tod führen«, sagt der Bauer.
Tatsächlich waren Äthiopien und das gesamte Horn von Afrika im Sommer 2011 von der schlimmsten Dürre seit sechzig Jahren betroffen. Während im vom Bürgerkrieg geplagten Nachbarland Somalia Zehntausende verhungerten, konnten die Notleidenden in Äthiopien anders als vor achtundzwanzig Jahren diesmal versorgt, eine Katastrophe verhindert werden.
Ayane Hadis, der einst nur knapp dem Hungertod entging, ist mittlerweile ein halbwegs gemachter Mann. Er besitzt zwei Ochsen, ein Pferd, drei Kühe, einen Esel, drei Schafe und fünf Hühner. Wie groß seine Felder sind, weiß er nicht. Mit Maßeinheiten wie Quadratmetern, Morgen oder Hektar kann der alte Mann nichts anfangen. Er weiß, dass er mit zwei Ochsen zwei Tage braucht, um sein Feld zu pflügen. So messen hier alle die Größe ihres Besitzes. Wer mit zwei Ochsen zwei Tage zum Pflügen braucht, dem geht es gut. Nachdem die Ochsen ihre Arbeit getan haben, baut Ayane Hadis die Hirsearten Sorghum und Teff, Weizen, Mais und Bohnen an.
»Erzähle ihm nicht, dass es dir so gut geht. Sonst kriegen wir nichts von ihm«, ruft ihm ein anderer Bauer zu, als der Alte mir stolz von seiner guten Ernte berichtet. Wenn irgendwo in Äthiopien ein ferenji mit Stift und Block bei einem Bauern auf dem Feld auftaucht, ist es meist ein Mitarbeiter einer Hilfsorganisation, der wissen will, wie die Ernte war. Meist übertreiben die Bauern dann ihre Not gewaltig, in der Hoffnung, auf diese Weise etwas rausschlagen zu können. Schilderwälder an den Straßen weisen darauf hin, dass ausländische Nichtregierungsorganisationen in den letzten dreißig Jahren eine Parallelgesellschaft aufgebaut und Aufgaben, von der sanitären Versorgung bis zur Aids-Aufklärung, übernommen haben, die eigentlich dem Staat obliegen. Denn dieser kann oder will selbst viele Grundbedürfnisse seiner Bürger immer noch nicht befriedigen.
»Solange ich lebe, haben wir von der UNO etwas zu essen bekommen. Wir wissen, dass sie uns nicht hängen lassen«, sagte mir eine dreißigjährige Frau einmal, als ich bei einer Lebensmittelverteilung des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen im chronisch von Dürren betroffenen Südosten Äthiopiens dabei war. Teilweise beziehen offensichtlich auch Menschen Hilfe, die darauf gar nicht angewiesen sind. Denn kurz nach den Verteilungen entdeckte ich auf den Märkten der Region Waren, die für Bedürftige bestimmt waren und eigentlich nicht weiterverkauft werden durften. Bethlehem Tilahun Alemu, die in Addis sehr erfolgreich Schuhe für den Export produziert und in den letzten Jahren fast alle wichtigen Unternehmerpreise gewann, macht das wütend: »Seit 1984/85 hat sich eine ganze Generation auf Hilfe von außen verlassen. Viele betteln um Almosen, anstatt ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen«, wettert die Unternehmerin, die ihren Arbeitern weit überdurchschnittliche Löhne zahlt.
Ich weiß genau, was Bethlehem meint. Als ferenji gilt man in Äthiopien automatisch als reich. Im Vergleich zu den meisten Menschen ist man es auch. Wo auch immer ich auftauche, dauert es meist nur wenige Augenblicke, bis ein Kind, eine Frau oder ein Mann mit anklagender Leidensmiene die Finger der rechten Hand zum Mund führt und »hungry« sagt. Wenn ich mit dem Auto vor einer roten Ampel anhalte, drücken oft Frauen Babys an die Scheibe und sagen: »Mister! Baby hungry!« Nicht immer sind die Bettlerinnen die Mütter der Babys. Manche »mieten« sie, um ihre Einnahmen mit den herzerweichenden Kinderblicken zu steigern. Alten, Verletzten und Kranken gebe ich meistens etwas, bettelnden Frauen mit kleinen Kindern gebe ich nie etwas – und jedes Mal komme ich mir dabei schlecht vor. Was müssen diese Frauen von mir denken? Ich sitze in einem Auto, das das Tausendfache von dem kostet, was sie an einem Tag zusammenbetteln können. Selbst meine Dreißig-Euro-Armbanduhr ist mehr wert, als sie in einer Woche einnehmen. Ich schaue den Frauen und den Kindern in die Augen, dann sage ich: »Nein«. Was müssen sie nur denken? Wie soll ich ihnen klar machen, dass ich Nein sage, damit in Zukunft hoffentlich zumindest die instrumentalisierten Babys nicht mehr für diese entwürdigende Bettelei missbraucht werden? Aber haben diese Frauen überhaupt eine Alternative dazu, Kinder an die Fenster zu drücken und die Hand aufzuhalten? Sollte ich ihnen nicht lieber etwas geben? Würde es dann nicht ihnen und mir besser gehen?
Äthiopiens verstorbener Ministerpräsident Meles Zenawi hatte kurz vor seinem Tod vollmundig angekündigt, dass sein Land bis 2015 nicht mehr auf internationale Lebensmittel-Hilfslieferungen angewiesen sein möchte. Doch unabhängige Experten glauben nicht, dass das Ziel erreicht werden kann. Obwohl Äthiopien mit Unterstützung ausländischer Regierungen und internationaler Hilfsorganisationen seit Jahrzehnten gegen den chronisch drohenden Hunger kämpft, leben immer noch Millionen Menschen in bitterer Armut, sind jedes Jahr Millionen auf Lebensmittel-Hilfslieferungen angewiesen. In Äthiopien leben rund fünfundachtzig Prozent der rund neunzig Millionen Einwohner von der Landwirtschaft. Auch wenn Bauer Ayane Hadis dieses Jahr mit der Ernte sehr zufrieden ist, gehören die Erträge des äthiopischen Ackerbaus zu den geringsten weltweit.
Weil die Bevölkerung vor allem auf dem Land rasant schnell wächst, es dort aber kaum Jobs außerhalb der Landwirtschaft gibt, werden die ohnehin schon kleinen Felder durch Erbteilung immer kleiner. Oft sind es bereits jetzt eher Gärten als Felder. Viele von ihnen können schon heute keine Familie mehr ernähren.
Das liegt auch daran, dass auf vielen der winzigen Flächen die Zwerghirseart Teff angebaut wird. »Teff ist die ertragärmste Nutzpflanze der Welt. In vielen der chronisch von Hunger bedrohten Gebiete wird sie jedoch weiterhin angebaut. Teff muss durch andere Getreidesorten ersetzt werden«, schimpft Bernhard Meier zu Biesen, der sieben Jahre lang die Aktivitäten der Deutschen Welthungerhilfe in Äthiopien leitete. Um die Erträge zu steigern, müsste zudem dringend die hohe Zahl der kirchlichen Feiertage reduziert werden. Inklusive Sonntage gibt es in manchen Regionen bis zu 171 Feiertage. An diesen Tagen dürfen nach Ansicht der einflussreichen Äthiopisch-Orthodoxen Kirche viele landwirtschaftliche Tätigkeiten nicht verrichtet werden, die Felder liegen dann brach. Langsam lässt der Dogmatismus der Kirche zwar nach, doch gerade auf dem Land hat das Wort des Dorfpriesters immer noch großes Gewicht. Und wenn der sagt: »Heute wird nicht gepflügt«, dann trauen sich immer noch viele Bauern nicht, den Ochsen vor den Pflug zu spannen.
Doch es sind nicht nur die Zwerghirse und der Glauben. Das größte Problem ist das Bevölkerungswachstum. Momentan wächst die Bevölkerung jedes Jahr um etwa drei Prozent. Das ist schnell. Zu schnell. In diesem Jahr heißt das: rund 2,7 Millionen neue Äthiopier, die satt werden, anständig wohnen, medizinisch versorgt, später zur Schule gehen und einen guten Job haben wollen. Die Gefahr, dass das Bevölkerungswachstum die bisher erzielten Fortschritte auffrisst, ist groß.
Johannes Schoeneberger ist dennoch optimistisch. »Äthiopien hat in den letzten Jahren in punkto Ernährungssicherheit große Fortschritte erzielt«, berichtet der promovierte Ernährungswissenschaftler. Der Rheinländer leitet in Äthiopien im Auftrag des Bundesentwicklungsministeriums das Programm »Nachhaltige Landbewirtschaftung« der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ).
Doch internationale Experten beklagen auch die in Äthiopien weitverbreitete, die Eigeninitiative erstickende und bis zur Selbstentmündigung führende Nehmermentalität. Seit Jahrzehnten ist das Land ein Liebling der internationalen Gebergemeinschaft. Die Republik, in der sich nach offiziellen Angaben fast zwei Drittel der Bewohner zum christlichen Glauben bekennen, gilt in der Unruheregion am Horn von Afrika als Bollwerk gegen den sich ausbreitenden Islamismus. Weitere Unterstützung ist der Regierung also sicher.
Bauer Ayane Hadis sagt, dass er schon seit fünfzehn Jahren keine Hilfe mehr erhalten und mindestens ebenso lange nicht gehungert habe. Als ich ihm erzähle, dass dort, wo ich herkomme, für viele Leute Äthiopien immer noch das Äthiopien aus dem achtundzwanzig Jahre alten BBC-Bericht und nicht das Korem von heute sei, wird er wütend. »Dann sollen deine Leute herkommen und sich selbst anschauen, dass die Kinder hier nicht mehr mit aufgeblähten Hungerbäuchen rumlaufen«, schimpft der Bauer, als wir uns verabschieden. »Siehst du, habe ich dir doch gesagt«, sagt Senait zu mir, als wir zurück zum Auto gehen.