Nachwort

»Wer nicht reist, der wird immer glauben, dass seine Mutter die beste Köchin ist«, lautet ein afrikanisches Sprichwort. Mir hat es zu Hause immer gut geschmeckt, aber ich wollte auch immer schon wissen, was in anderen Töpfen brutzelt. Viele Äthiopier haben mich auf meinen Reisen ihr Essen kosten lassen. Im wahrsten Sinne des Wortes und im übertragenen Sinn. Meistens hat es mir gut geschmeckt.
»Die Straße sagt dem Reisenden nicht, was vor ihm liegt«, heißt ein anderes afrikanisches Sprichwort. Ich habe mich in Äthiopien treiben lassen. Nicht selten haben die Tramper, die wir mitgenommen haben, den Verlauf unserer Reise und meinen Blick auf das Land und die Menschen bestimmt. Mehr oder weniger zufällig landeten so Namen und Geschichten in meinem Notizblock. Momentaufnahmen. Nach drei Jahren in Äthiopien, Hunderten Gesprächen und Tausenden von Kilometern habe ich versucht, diese Momentaufnahmen zu einem Mosaik zusammenzusetzen, und musste feststellen, dass mir immer noch viel zu viele Steinchen fehlen, um ein halbwegs vollständiges Bild von diesem großen und widersprüchlichen Land zu gewinnen. In Äthiopien bin ich teilweise immer noch blind. Ich glaube, dass ich es auch noch nach vielen weiteren Jahren im Land sein werde. Doch gerade das macht den Reiz dieses geheimnisvollen Landes für mich aus. Zugleich fällt es mir deshalb so schwer, mir ein Urteil zu bilden, das meiner momentanen Heimat gerecht wird.
Vieles, was ich gesehen, gehört, gerochen und gefühlt habe, hat mich gefreut, mich erstaunt und hoffnungsvoll gemacht. Dennoch bemühe ich mich, das Land nicht naiv zu idealisieren und in kitschige Afrika-Gefühlsduselei zu verfallen. Manches, was ich gesehen, gehört, gerochen und gefühlt habe, hat mich traurig oder sogar wütend gemacht. Ich habe es nicht verdrängt, aber ich bemühe mich, Äthiopien nicht als hoffnungslos und auf ewig rückständig abzustempeln. Ich habe bedingungslose Gastfreundschaft erlebt und bin auf großes Misstrauen gestoßen. Selbst wenn ich die vielen Sprachen Äthiopiens perfekt spräche, wären mir ohne Senait und Solomon viele Türen verschlossen geblieben. Die Skepsis gegenüber Fremden ist nach wie vor groß. In Äthiopien, einem Land mit mehr als neunzig Millionen Einwohnern, ist man fast nie allein. Doch als ferenji, der auch nach Jahren nicht richtig dazugehört, der vieles nicht versteht und von vielen nicht verstanden wird, ist man dennoch manchmal einsam.
Ich habe viele Äthiopier gefragt, wie ich ihr Land in meinem Buch darstellen solle. Die meisten haben gesagt: »Schreibe nur das Gute und Schöne auf, verschweige das Schlechte und Hässliche.« Die Augen vor der Wirklichkeit zu verschließen, ist in Äthiopien ein weitverbreitetes Phänomen, Kritikfähigkeit in einer sehr harmoniebedürftigen und konfliktscheuen Gesellschaft ein seltenes Gut. Gespräche dienen oft ausschließlich dazu, Konsens herzustellen, nicht dem Austausch von Informationen oder gar von unterschiedlichen Standpunkten. Zu Beginn einer Unterhaltung werden zunächst meist ritualisierte, oft phrasenhafte Erkundigungen nach dem werten Befinden ausgetauscht. Komischerweise geht es immer allen gut. Zumindest wenn man den Antworten Glauben schenken darf. Die Realität dürfte häufig anders aussehen.
Kritik wird fast nie offen ausgesprochen. Passiert es doch einmal, fühlt das Gegenüber sich meist persönlich angegriffen und reagiert in der Regel mit a) dem Bestreiten jeglicher Kritik, b) Beleidigtsein oder c) einer völlig überzogenen Gegenoffensive. Eine fruchtbare Diskussionskultur hat sich in dem Land, das von feudalen Monarchen, von einem kommunistischen Diktator, einem autokratischen Premierminister und jetzt von einer übermächtigen Partei, die kaum Presse- und Meinungsfreiheit duldet, (noch) nicht gebildet. Vor allem Amts- und Respektspersonen würden die meisten Äthiopier im Hierarchie gläubigen Land niemals kritisieren. Ich habe damit oft meine Probleme. Ich bin ein direkter Mensch, und es ist mir egal, ob jemand eine Uniform trägt oder das Parteibuch besitzt. Mich und meine Reisebegleiter habe ich dadurch manchmal in unangenehme Situationen gebracht, aus denen Senait und Solomon uns jedoch stets wieder rausmanövrieren konnten. Die beiden sind anders als die meisten Äthiopier. Sie sagten mir: »Schreibe auf, was wir erlebt haben. Das Gute und das Schlechte. Die Leute sollen erfahren wie Äthiopien ist und nicht wie es sein sollte.«
Das Äthiopien, das ich erlebt habe, befindet sich einerseits in rasantem Aufbruch, andererseits ist es in Stillstand erstarrt. In der Hauptstadt entsteht ein Blendwerk des Fortschritts nach dem anderen; doch im Vergleich zu den schwindelerregenden Veränderungen in Addis, scheint das Leben in mancher abgelegenen Klause sogar rückwärts zu gehen. In Zeiten des Umbruchs gibt die Besinnung auf uralte Bräuche, Riten und Vorstellungen vielen Äthiopiern Sicherheit. Zumindest zeitweise. Doch nicht alle wollen sich darauf verlassen. Manche Äthiopier versuchen atem- und rastlos den Modernisierungswettlauf mitzurennen, manche stehen am Wegesrand und schauen verwundert zu, manche wünschen sich, der Lauf hätte nie begonnen. Auf unserer Reise habe ich die Läufer, die Zuschauer und die Verweigerer getroffen, oft lebten sie nur wenige Kilometer voneinander entfernt und wussten nichts von den unterschiedlichen Welten, in denen sie zu Hause sind. Die Grenzen, die die Moderne von der Tradition trennen, sind in Äthiopien häufig unsichtbar, doch schwer zu überwinden.
Mit Senait, Solomon und Falk habe ich während unserer Tour viel über das Reisen gesprochen. Unsere afrikanische Reise war nicht gefährlich oder strapaziös wie die des Whiskey trinkenden Draufgängers und Schriftstellers Graham Greene, der 1935 zu Fuß durch den Busch Liberias zog und seine Recherchen für »Journey without Maps« (auf Deutsch erschienen als: »Der Weg nach Afrika«) mehrfach beinahe mit dem Leben bezahlte. Und sie war kein Trip in das von Joseph Conrad beschriebene afrikanische »Herz der Finsternis«, auf der Kapitän Marlow Zeuge von Grausamkeiten wurde, die ihn für immer veränderten. Doch auch für uns war die Reise eine Reise zu uns selbst, auf der wir viel gelernt haben.
Ich habe etwa fünfundzwanzig Staaten Afrikas und viele Länder auf allen anderen Kontinenten bereist. Außer in Deutschland war ich nirgendwo so lange wie in Äthiopien. Doch auch nach drei Jahren erscheint mir kaum ein anderes Land so fremd wie das ostafrikanische. Aber gerade das Fremde lässt mir bewusst werden, dass das, was uns trennt, kleiner ist, als das, was uns verbindet. Viele Reisende erzählen nach ihrer Rückkehr von dem, was in der Fremde anders ist. Die Menschen sehen anders aus, sie sprechen anders, sie glauben an etwas anderes, sie essen etwas anderes. In Äthiopien ist das nur schwer zu übersehen. Auch wenn viele Menschen, die ich getroffen habe, an die Kraft des heiligen Wassers glauben, fest davon überzeugt sind, dass wir nicht vom Affen, sondern von Eva und Adam abstammen, viele von ihnen Individualismus als etwas Gefährliches, den familiären und nationalen Zusammenhalt Gefährdendes ansehen und die meisten von ihnen ihr kärgliches Auskommen durch harte Arbeit auf dem Feld finden, ist das, was sie wollen, und das, was ich will, so unterschiedlich nicht.
Das klingt banal und lässt Raum für jede Menge Differenzen, aber letztlich haben wir weitestgehend die gleichen Bedürfnisse. Sie und ich wollen ein Leben ohne Not. Unsere Vorstellungen davon und Ansprüche daran, mögen unterschiedlich sein, der Wunsch ist der gleiche. Sie und ich wollen Partner, Freunde und Familie, die Geborgenheit geben. Dass ich mit vierunddreißig Jahren immer noch nicht verheiratet bin und noch keine Kinder habe, hat mir oft Mitleid eingebracht. Sie und ich wollen eine erfüllende Arbeit und verdiente Freizeit. Viele Menschen, mit denen ich gesprochen habe, machen eine gute Ernte und Zeit mit der Familie glücklich. Dass es mich glücklich macht, an Orte zu reisen, an denen ich noch nicht war, und über die Menschen zu schreiben, die dort leben, und dass ich auch ohne ständig von meiner Familie umgeben zu sein, froh sein kann, können viele von ihnen nicht verstehen. Sie und ich wollen an etwas glauben, das Hoffnung gibt. Sie glauben unter anderem an die Macht der Bundeslade. Mein Vertrauen in das göttliche Wirken ist weniger konkret und nicht so unerschütterlich, doch es ist da.
Ich bin auch nach meinen Reisen durch Äthiopien ein rational denkender Mensch. Ich glaube nach wie vor, dass es sinnvoller ist, antiretrovirale Medikamente zu nehmen, anstatt sich mit heiligem Wasser taufen zu lassen, wenn man HIV-positiv ist. Ich glaube nach wie vor, dass es besser ist, das Leben in die eigene Hand zu nehmen, anstatt sich schicksalsergeben darauf zu verlassen, dass Gott es schon richten wird. Aber ich habe auch gelernt, dass das eine das andere nicht ausschließt, es sich sogar positiv ergänzen kann.
Senait kannte die meisten Orte, die wir besucht haben, nicht. Dabei ist sie äußert reiselustig und unterscheidet sich dadurch von den meisten ihrer Landsleute: »Ein äthiopisches Sprichwort lautet: ›Einen Ort, den du nie gesehen hast, wirst du nie vermissen‹«, erzählte Senait mir, als wir gemeinsam unterwegs waren. Es sagt viel über das Beharrungsvermögen der Äthiopier aus. Dabei sind viele von ihnen ständig unterwegs. Sie laufen an den Rändern der Straßen, sie sitzen auf den Rücken ihrer Pferde und drängen sich in die aufgrund ihrer (selbst-)mörderischen Fahrweise oft Al-Qaida genannten Busse. Doch nur ganz selten ist der Weg das Ziel. Meist ist der Weg nur der Weg zum Ziel. Menschen sind unterwegs, weil sie ihre Ernte zum Markt bringen, weil sie zur Schule wollen, weil sie ins Krankenhaus in der weit entfernten nächsten Stadt müssen, weil sie Familie oder Freunde oder eine Pilgerstätte besuchen möchten, weil sie zu einer Hochzeit, einer Beerdigung oder zur Dorfversammlung im Schatten eines Baumes eilen.
Als Senait ihr Medizinstudium beendete, wünschte sie sich als Einzige von achtzig Absolventen Geld von ihren Eltern, um auf Reisen zu gehen. Ihre Freundinnen und Freunde wünschten sich Handys, Computer und andere Fetische der Moderne. Niemand konnte verstehen, warum Senait unbedingt nach Kenia, Ruanda und Uganda wollte. Auch Senaits Mutter nicht. »Reisen ist gefährlich und bringt nichts«, meint die Frau, die ihr Land nie verlassen hat, obwohl sie es sich hätte leisten können. »Manche meiner Freunde haben mir sogar vorgeworfen, dass ich unpatriotisch sei, weil ich ins Ausland reisen wollte«, erzählte Senait mir. Tatsächlich wird in traditionellen und modernen äthiopischen Liedern immer wieder besungen, dass es in Äthiopien so schön wie nirgendwo sonst auf der Welt ist. Oft schwingt in den Texten mit, dass die uralte Kultur Abessiniens der anderer Länder überlegen ist. Bis sie ins Ausland reiste, hat Senait viel von dem, was ständig aus dem Radio und dem Fernsehen schallt, geglaubt. »Die meisten Leute, die solche Texte schreiben, waren offensichtlich noch nie im Ausland«, schimpfte sie nach ihrer Rückkehr. Als sie ihren Freunden erzählte, dass Ruanda grüner, Kenia moderner und Uganda wohlhabender als Äthiopien sei, wollten viele ihrer Zuhörer das nicht wissen. Sie wollten nicht hören, dass die stolzen, relativ hellhäutigen und gegenüber Menschen mit dunklerer Hautfarbe oft rassistischen Äthiopier von ihren Nachbarn etwas lernen könnten. »Viele Äthiopier glauben, dass viele andere Afrikaner noch nackt im Busch leben«, sagt Senait. Tatsächlich haben Äthiopier mich oft vor den gefährlichen »Schwarzen« gewarnt, bevor ich in eines ihrer Nachbarländer aufbrach.
Solomons erste Auslandsreise fand unter Lebensgefahr, versteckt zwischen Reifen, statt. Für ihn war auch unser gemeinsamer Trip nicht ungefährlich. In der Nähe der eritreischen Grenze versteckte er sich, weil er Angst hatte, wieder in einem äthiopischen Knast zu landen. Mich hätte es nicht gewundert, wenn jemand wie Solomon nie wieder hätte reisen wollen. Doch als ich ihm von meiner geplanten Tour erzählte, wollte Solomon sofort mit. Als Flüchtling aus dem verhassten Eritrea ist sein Leben in Äthiopien nicht immer einfach. Offiziell darf Solomon nicht arbeiten, oft kann er nachts nicht schlafen, weil er nicht weiß, wie er für seine beiden kleinen Töchter und seine Frau sorgen soll. »Mir hat es gut getan, zu sehen, dass es in diesem Land Menschen gibt, denen es noch viel schlechter als mir selbst geht, und die dennoch Hoffnung und Freude haben«, sagte Solomon mir, als wir uns am Flughafen in Mekele verabschiedeten. Solomon war der frommste und gottesfürchtigste meiner Reisebegleiter. Die heiligen Klöster, Quellen und Kirchen zu besuchen, war für ihn das größte Erlebnis der Reise. »Es hat mich beeindruckt, Menschen kennenzulernen, die sich freiwillig entschieden haben, sich von der Welt abzuwenden, um sich ganz Gott zu widmen«, sagte Solomon.
Falk war von Äthiopien zunächst völlig überwältigt. »Am Anfang konnte ich mir gar nicht vorstellen, was ich in Bremen tun müsste, um so viel Aufregung und Abenteuer zu erleben wie in Addis bei nur einem einzigen Schritt vor die Haustür«, sagte er am Ende der Reise. Äthiopien ist kein Afrika-Anfänger-Land, und Falk war das erste Mal auf dem Kontinent. Ich spürte, dass Äthiopien für ihn eine echte Herausforderung und spannend, beängstigend und bedrückend zugleich war. Nie zuvor hatte er existenzielle Armut, wie sie in Äthiopien immer noch allerorten herrscht, gesehen. In den ersten Tagen wich er kaum von meiner Seite und führte mir vor Augen, wie sehr ich, gegen meinen Willen, schon abgestumpft war. Er sah Dinge, die ich manchmal bereits nicht mehr sehe. Einen Hirten, der seine Ziegen in Addis seelenruhig durch den Feierabendverkehr trieb, ein Kind ohne Schuhe, einen sein verkrüppeltes Bein zur Schau stellenden Bettler. Doch bereits nach wenigen Tagen hatte auch Falk einen Weg gefunden, mit dem Elend umzugehen. Schon am dritten Tag marschierte er allein durch Addis, kam in Gassen, in die sich wahrscheinlich noch nie ein ferenji verirrt hatte, kehrte in winzigen Cafés ein, um die Touristen normalerweise einen großen Bogen machen. Sobald er den Menschen nicht mehr mit Bestürzung und unterschwelliger Angst, sondern auf Augenhöhe mit Respekt, Interesse und viel Humor begegnete, war mein Freund mit dem Bauchansatz vor allem bei den neugierigen Kindern äußerst beliebt. Wenn er sagte: »My name ist Falk«, konnten sie kaum noch aufhören zu lachen und prusteten immer wieder. »My name is Fuck! My name is Fuck.« In Deutschland löst der Name keine Lachkrämpfe aus. »Nie werde ich das Gefühl von Freiheit in den Straßen vergessen, die kurzen Gespräche und Begegnungen, die meine grußlosen Spaziergänge in Bremen nun oft trist wirken lassen«, erzählte Falk mir, kurz nachdem er wieder in Deutschland gelandet war.
Ich habe auf der Reise viel über ein mir teilweise immer noch rätselhaftes Land gelernt, doch auch, wenn ich reisend lerne und viele Äthiopier zu Hause bleiben (müssen), wissen sie oft mehr über mein Leben in Europa als ich über ihres. Sie fragen mich, ob ich glaube, dass Greuther Fürth noch den Klassenerhalt schaffe (hat nicht geklappt). Sie fragen mich, ob ich es richtig fände, dass Werder Bremen, mein Lieblingsverein, den äthiopischstämmigen tschechischen Nationalspieler Gebre Selassie (nein, nicht den Läufer, den Rechtsverteidiger) verpflichtet habe. Oft wissen sie besser, auf welchem Platz Werder gerade steht. Doch sie wollen mit mir nicht nur über Fußball sprechen: Manchmal fragen sie mich, ob es stimme, dass es in Europa viele Rassisten gebe, und ob der Euro überleben werde. Was in Europa, Amerika und China passiert, erscheint auch auf den alten Röhrenfernsehern in strohgedeckten Hütten. Was in Äthiopien passiert, flimmert nur selten über Flachbildschirme in zentralgeheizten Wohnzimmern.
Viele ferenji entdecken in Afrika die Langsamkeit, oder entdecken sie wieder. »Ihr habt die Uhren, wir haben die Zeit«, wurde mir schon oft auf meinen Reisen gesagt. Ich habe die Langsamkeit nicht (wieder-)entdeckt. Ich schaue noch immer oft auf meine Armbanduhr. Oft bringt es nichts. Denn in Äthiopien sind es meist nicht Sekunden, Minuten oder Stunden, die den Tag, das Jahr und das Leben einteilen. Es sind Ereignisse: Tag und Nacht, Regen- und Trockenzeit, Arbeits- und Ruhephasen, Fasten- und Feiertage, Aussaat und Ernte, Krieg und Frieden, Geburt und Tod. Und trotzdem fällt die Geduld mir schwer. Oft habe ich in Äthiopien Menschen gesehen, die einfach nur dasaßen und auf nichts warteten. Mich macht das nervös, doch wer auf nichts wartet, der hat auch nicht das Gefühl, Zeit zu verlieren, etwas zu verpassen – und wird nicht nervös.
Nie zuvor habe ich so viel Zeit mit Warten verbracht wie in Äthiopien. Warten, dass der Strom nach dem Stromausfall wiederkehrt; warten, dass ich endlich am Kopf der Schlange ankomme; warten, dass sich jemand bequemt, sich seiner Aufgaben anzunehmen. Andere warten zu lassen, heißt, seine eigene Macht zu demonstrieren. Je wichtiger man ist, desto länger lässt man die anderen warten. Vor allem die Herren über die Stempel, ohne die in Äthiopien nichts geht, finden sich selbst meist sehr wichtig.
Ich hatte gehofft, dass Lij-Alem, der kleine Junge, den wir in Weldiya auf der Polizeistation kennenlernten, meine Verbindung nach Äthiopien bliebe, wenn ich irgendwann nicht mehr dort leben würde. Die Hoffnung wurde nicht erfüllt. Drei Tage nachdem ich mich von ihm verabschiedet hatte, erhielt ich einen Anruf vom Waisenheim. »Lij-Alem ist verschwunden. Wir haben ihn mit Hilfe der Polizei in der gesamten Stadt gesucht. Er ist weg.« Ich war so naiv, wollte naiv sein, hatte glauben wollen, dass ich Lij-Alem nur eine Chance bieten müsste, die er dankbar nutzen würde. Ich hatte mich getäuscht. Der Leiter der Einrichtung fragte mich, ob ich die Patenschaft für ein anderes Kind übernehmen möchte. Ich lehnte ab.