Kapitel 2
Mittelalter und Moderne
In Addis Abeba koexistieren Mittelalter und Moderne. Doch die Moderne, die manchmal wie die Zukunft aussieht, zeigt dem Mittelalter immer häufiger und immer schneller, dass ihre Zeit gekommen ist. Vor unserem Haus stampft ein etwa vierzehnjähriges Mädchen mit einem schweren, unförmigen Stamm Getreide. Ihre Muskeln treten an ihren sehnigen Oberarmen hervor, bevor sie den Stößel, der fast so groß wie sie selbst ist, mit voller Wucht in den grob behauenen, hölzernen Mörser donnern lässt. Ich sehe sie, wenn ich am Schreibtisch sitze.
Das Mädchen lebt mit seiner Familie in einer Hütte aus Ästen, Lehm, Plastikplanen und Wellblech. Fließend Wasser gibt es dort nicht. In unserem von einem Wachmann beschützten Haus, das nur durch eine hohe, mit rasiermesserscharfem NATO-Draht bewehrte Mauer von der Hütte des Mädchens getrennt ist, gibt es fließend Wasser. Meistens zumindest. Es sei denn, es wird mal wieder gebaut. Dann macht der Wasserversorger einfach die Leitung dicht, und unser kompletter Stadtteil sitzt auf dem Trockenen. Spätestens nach ein paar Tagen kann man das riechen. Doch das ist die Ausnahme. Dennoch sieht es oft so aus, als könnte das Mädchen jederzeit unter die heiße Dusche steigen, und ich wäre derjenige, der in einer Hütte lebt. In der Trockenzeit mischen sich oft Schweiß und Staub auf meiner Stirn. In der Regenzeit spritzt mir der Schlamm auf der unbefestigten Straße, die zu unserem Haus führt, bis an die Waden. Das Mädchen dagegen wirkt stets wie aus dem Ei gepellt, sieht immer so aus, als hätte es sein einziges Kleid und seine Schuluniform gerade aus der Reinigung geholt.
Manchmal sehe ich das Mädchen, wenn ich mir morgens auf dem Balkon mit einer elektrischen Bürste die Zähne putze. Ich muss mir dabei einen meiner Frontschneidezähne mit den Fingern festhalten. Als ich vierzehn Jahre alt war, bin ich zusammengeschlagen worden; der Zahn stand danach waagerecht im Mund. Die schlimmsten Schmerzen, an die ich mich erinnern kann, hatte ich als ein Arzt ihn wieder gerade bog und mit meiner Zahnspange fixierte. Die »Brutalotherapie« wirkte, zumindest achtzehn Jahre lang. Bis ich in Äthiopien auf einem Kugelschreiber kaute, und es plötzlich laut krachte. Sofort unterstellte ich dem Stift minderwertige Qualität, doch als ich den Plastikschreiber aus dem Mund nahm, war er völlig unversehrt. Im nächsten Augenblick fiel mir mein Zahn aus dem Gesicht. Schmerzen hatte ich keine, da die Wurzel bereits einige Jahre zuvor gezogen worden war. Doch als ich in den Spiegel schaute, musste ich mit Erschrecken feststellen, dass ein einziger fehlender Zahn ein Gesicht ziemlich verändern kann. Nicht unbedingt zum Besseren.
Ich suchte in Addis Abeba allerlei Zahnärzte auf. Sie versuchten mit einer Art Fimo, Metall, Porzellan und Schrauben ihr Bestes. Einmal hatte ich einen phosphorisierend weißen Zahn, der im Dunkeln leuchtete, einmal fühlte ich mich an meine Wackelzahn-Grundschulzeit erinnert, einmal sah ich aus wie der Beißer aus den James-Bond-Filmen. Eines hatten alle Ersatzzähne gemein: Sie waren als Kauwerkzeuge weitestgehend ungeeignet und blieben nicht lange in meinem Mund. Einmal fiel mir der Zahn aus, als ich zu Besuch in Berlin war. In Deutschland gehört man ohne Frontschneidezahn nicht mehr dazu. Aus den Gesichtern der Menschen, die ihren Blick nicht von der klaffenden Lücke in meinem Gesicht abwenden konnten, konnte ich diese Gedanken ablesen: Seltsam, der Typ sieht gar nicht so aus, als würde er sich prügeln. Und warum ist sein Gesicht sonst ganz unverbeult? Ist er gefährlich? Warum geht er nicht zum Zahnarzt? Putzt er sich nicht die Zähne?
In Addis Abeba musste ich mich diesen Fragen nicht stellen. Wer in Äthiopien einen von zweiunddreißig Zähnen verliert, der lebt in der Regel mit einunddreißig Zähnen weiter. Wenn man trotz der Lebenserwartung, die derzeit bei knapp über sechsundfünfzig Jahren liegt, sehr alt wird, bleiben am Ende manchmal nicht allzu viele Zähne übrig. Während der bisweilen fehlende Zahn mich in Deutschland von der Mehrheitsgesellschaft trennte, gab er mir in Äthiopien endlich die zuvor so oft vermisste Street Credibility. »Du bist nicht so ein ferenji, der wegen jedes kleinen Wehwehchens gleich zu einem Arzt nach Europa oder Amerika fliegt«, sagte mir der Besitzer eines kleinen Ladens, in dem ich oft Eier, Milch und Brot kaufe, anerkennend. Als ferenji werden in Äthiopien alle Ausländer bezeichnet. Das aus dem Arabischen stammende Wort bezeichnete ursprünglich die aus dem mittelalterlichen Frankenreich stammenden Franken, wurde jedoch schon bald für alle Europäer verwendet.
Als ich ohne Zahn zum Einkaufen kam, zahlte ich das erste Mal keine ferenji-Preise mehr. Das änderte sich auch nicht mehr, nachdem eine Berliner Implantologin mir einen künstlichen Zahn eingesetzt hatte. Ihre Dienste waren deutlich teurer als die ihrer Kollegen in Addis Abeba, aber immerhin hält der Zahn sich jetzt schon ein paar Monate in meinem Mund, auch wenn ich ihn beim Putzen festhalten muss.
Aber eigentlich wollte ich nicht von meinem Wackelzahn, sondern von den Zähnen des Mädchens mit dem Mörser und den starken Armen erzählen. Während ich mir die Zähne elektrisch und mit einer Pasta für schmerzempfindliche Zähne poliere, schrubbt sie sich die Zähne mit einem am Ende ausgefransten Stöckchen. Manchmal winkt sie mir dabei lächelnd zu. Ich lächele dann mit dem Schaum im Mund, der weißer als meine Zähne ist, zurück. Ihr Lächeln ist so strahlend weiß und makellos, dass sie problemlos Werbung für einen der vielen Zahnärzte machen könnte, die ich in Addis Abeba aufgesucht habe.
Neben der Hütte des Mädchens ist in den letzten Jahren ein hässlicher, achtstöckiger Klotz aus blaugrün getöntem Glas und einer metallisch glänzenden Fassade entstanden. Eigentlich sah er schon bei der Eröffnung wie eine kariöse Bauruine aus. Blaues Glas altert schnell und nicht in Würde. Doch meine Nachbarn sind stolz darauf, dass nun endlich auch in unserem Viertel so ein moderner Block steht. Bei seinem Bau konkurrierten noch Mittelalter und Moderne. Tagelöhner in zerfetzten Lumpen errichteten aus Eukalyptusbäumen, die an den dreitausend Meter hohen Hängen, die Addis Abeba umgeben, geschlagen wurden, schiefe Baugerüste. Teilweise barfuß (Sicherheitsschuhe und Helme kosten wahrscheinlich mehr, als diese Lohnsklaven im Monat verdienen) balancierten die Arbeiter auf einem zwischen zwei Stöcken genagelten Stück Blech monatelang Steine über die brüchigen Stämme. Die Gerüste erinnerten mich an alte Gemälde vom Turmbau zu Babel. Einige Monate bevor der neue Stolz unserer Nachbarschaft fertig wurde, hüllten die Arbeiter die Baustelle in riesige, blaue Tücher. Zunächst hätte die Verpackung Christo alle Ehre gemacht, doch schnell riss der Wind die Laken von den Eukalyptusstämmen, bald hingen sie nur noch in Fetzen von der Baustelle. Als die Arbeiter das schiefe Gerüst schließlich entfernten, kam dahinter zu meinem Erstaunen tatsächlich eine völlig lotrechte Glasfassade zum Vorschein. Ein weiterer Punktsieg für die Moderne.