Kapitel 3

 

 

 

Das Schrillen meines Handyweckers warf mich fast aus dem Bett. Gut, es schrillte nicht wirklich, aber ich war so im Tiefschlaf gewesen, dass mir vom Hochschrecken kurz schwindelte. Im Geiste eine Hasstirade schimpfend wälzte ich mich herum und tastete nach meinem Smartphone. Selbst schuld, wenn du dich freiwillig für den Wochenenddienst einträgst , dachte ich verschlafen. In zwei Stunden begann meine Schicht, und ich quälte mich nur deshalb ins Institut, weil ein saftiger Sonntags-Bonus für mich als Studentin winkte.

        Eigentlich müsste ich nicht arbeiten gehen. Meine Eltern verdienten genug, um mir das Studium finanzieren und mich durchfüttern zu können. Aber ich konnte es nicht mit meinem Gewissen vereinbaren, ihnen mit meinen 21 Jahren noch auf der Tasche zu liegen. Und hätte mich mein Stolz nicht motiviert, dann spätestens die Vorstellung, meinen Vater regelmäßig wegen Geld anpumpen zu müssen, wenn ich mal wieder Tampons oder Kondome brauchte. Nein danke, da verdiente ich lieber meine eigenen Moneten. Außerdem konnte ich meinen Eltern auf diese Weise etwas zurückgeben und mich beispielsweise am Wocheneinkauf und den Telefon- sowie Internetkosten beteiligen.

        Mein Handy klingelte noch immer. Es war zwischen die Matratze und das Bettgestell gerutscht, sodass ich einen Moment brauchte, um es herauszufischen und den Ton abzustellen. Normalerweise hätte ich jetzt noch fünf Minuten geschlummert, aber die Textnachricht auf dem Display machte mich schlagartig hellwach.

    Guten Morgen, Sonnenschein. Ich hoffe, du hast von mir geträumt.

Oh, Mann! Stimmte ja. Jack und ich hatten gestern Nummern getauscht.

     Klar habe ich von dir geträumt. Davon, wie du mir feierlich die 400 Mäuse überreichst. Danke schon mal im Voraus , schrieb ich zurück, bevor ich stöhnend wieder ins Kissen plumpste. Ich hatte schon so einige Schnapsideen im Leben umgesetzt, aber die hier war die absolute Krönung. Noch unklar war, wie ich die jüngsten Ereignisse meiner besten Freundin beibringen sollte, ohne, dass sie mir den Kopf abriss. Amy war zwar für jeden Spaß zu haben, aber wenn es um die Liebe ging, tickte sie anders als ich. Sie nahm das Thema sehr ernst und hielt nichts von lockeren Bekanntschaften. Was Jack ja im Grunde war, denn nur weil eine Beziehung mit ihm nicht infrage kam, musste das nicht bedeuten, dass ich keinen Spaß mit ihm haben konnte. Ein Wunder, dass Amy, die neugierige Elster, mich noch nicht mit Fragen über den gestrigen Abend bombardiert hatte. Andererseits war es noch früh, das Verhör würde sicher noch folgen.

Jack ignorierte meine sarkastische Antwort und schrieb: Übrigens habe ich morgen ein Attentat auf dich vor. Nur, damit du dir nach der Uni nichts vornimmst.

Ich: Dachte ich mir schon, dass du direkt am Montag loslegst. Wenigstens war ich noch das Wochenende vor dir verschont.

Jack: Ich will eben keinen Tag verschwenden. Eigentlich ist ja heute Wettanfang, aber du hast Glück, dass du arbeiten musst. Das geht natürlich vor. Du musst doch heute arbeiten, oder? Wenn du mich anlügst, ziehe ich dir das vom Preisgeld ab.

Ich: In welcher Vereinbarung soll das stehen? Hier wird gar nichts abgezogen. Du sagtest, keine Regeln und keine Konsequenzen. Aber nein, ich lüge nicht.

Jack: Habe ich auch nicht von dir erwartet. Wo arbeitest du?

Ich: Geht dich nichts an.

Mein Chatpartner antwortete mit einem lachenden Smiley. Meine trockene Art schien ihn ja schwer zu amüsieren. War ihm nicht klar, dass ich jedes Wort ernst meinte? Ist auch egal, ich werde es sowieso bald herausfinden. Zusammen mit deinen dunkelsten Begierden ;) Aber dazu kommen wir morgen, heute hast du noch Schonfrist. Ich melde mich am Abend noch mal, dann besprechen wir den morgigen Ausflug.

Ich: Yey! Ich kann‘s kaum erwarten.

Erst nachdem Jack den Chat verlassen hatte, wunderte ich mich, dass er so früh schon wach war. Nachdem wir gestern unseren Deal mit einem Drink an der Bar besiegelt und uns noch etwa eine Stunde lang unterhalten hatten, war ich nach Hause gefahren, wohingegen Jack bis Ladenschluss geblieben war. Laut den Öffnungszeiten also bis 4 Uhr morgens. Wie konnte er schon wach sein und die Energie haben, fröhlich mit mir zu chatten? Na ja, war mir auch egal. Jack konnte noch so charmant sein. Er würde sich derart die Zähne an mir ausbeißen, dass er mir das versprochene Geld nach zwei Wochen freiwillig in die Hand drücken würde.

 

Devils Club LOGO

 

 

„Morgen, Dad“, trällerte ich 20 Minuten später und gab meinem Vater einen Kuss auf die Stirn. Wie jeden Samstagmorgen saß er Zeitung lesend und Kaffee trinkend am Esstisch und hielt mir lächelnd eine Wange hin. Sonne flutete die offene Küche und in der Luft hing das verlockende Aroma von frisch aufgebrühtem Kaffee.

„Morgen, Schatz. Ich hab‘ dich gestern nicht nach Hause kommen hören. Wo hast du dich wieder so lange herumgetrieben?“

„Ach, hier und dort. Bin mit Amy um die Häuser gezogen“, erklärte ich und ging in die Küche, die, nach meinem Zimmer, mein Lieblingsort im Haus war. Ich liebte den offenen, verwinkelten Schnitt, der genügend Raum für eine freistehende Kücheninsel bot, und die Helligkeit. Einziger Nachteil waren die bodentiefen Fenster, die im Hochsommer nicht nur viel Licht, sondern auch viel Hitze hereinließen. Morgens war es noch erträglich, aber spätestens am Mittag mussten wir die Schotten dichtmachen, um hier nicht eines qualvollen Todes zu sterben.

„Im Brotkorb ist noch ein fertiges Aufbackhörnchen, das habe ich nicht mehr geschafft“, ließ Dad mich wissen. Doch von einem Hörnchen allein würde ich nicht satt werden. Nicht am Morgen, wenn ich wie ein Scheunendrescher fraß. Nein, ich brauchte etwas Gehaltvolleres zwischen die Kiemen. Etwas, was mich mit genügend Energie versorgte, um die lange Schicht heute zu überstehen.

Aber zuerst … 

Ich schaltete die Kaffeemaschine ein und kramte eine Tasse aus dem Hängeschrank. Per Knopfdruck ließ ich heiße, duftende Brühe in mein Trinkgefäß plätschern, die das Aroma in der Luft intensivierte. Hach ja, es gab doch nichts Belebenderes als frischen Kaffeeduft am Morgen. Begierig inhalierte ich den Dampf, dann stellte ich die Tasse beiseite und sah mich verwundert um.

„Es ist so ruhig. Ist Mom nicht hier?“, erkundigte ich mich, bevor ich die benötigten Frühstücksutensilien zusammensuchte. Eine Pfanne, Olivenöl, Pancake-Teig aus der Fertigpackung – böse, böse, ich weiß –, Ahornsirup, eine Banane und Beeren. 

„Nein, sie ist zu deiner Großmutter gefahren. Irgendetwas im Garten helfen.“

Schade. Ich mochte unsere anregenden Gespräche am Morgen, wenn jeder eine dampfende Kaffeetasse in der Hand hatte und wir den neusten Klatsch und Tratsch austauschten. Andererseits regte Mom sich immer furchtbar auf, wenn ich Tütenfraß konsumierte, daher war es vielleicht ganz gut, dass sie weg war. Sie hätte mir nur wieder stundenlange Predigten über gesunde Ernährung gehalten. Dabei war es ja nicht so, dass ich mich ausschließlich von Fastfood ernährte. Mir fehlten morgens nur oft die Zeit und die Energie, um gesund zu kochen. Und hey, immerhin garnierte ich die Pancakes mit Obst … bevor ich 10 Liter Ahornsirup drüber kippte, verstand sich.

Mit meinem sündhaften Frühstück und einem schwarzen Kaffee setzte ich mich an den Tisch und ignorierte Dads stirnrunzelnden Blick auf meinen Teller. Du hast da etwas Pancake in deinem Ahornsirup, wollte er mir damit wohl sagen. Zugegeben, ich hatte ein paar gewöhnungsbedürftige Essgewohnheiten, aber jeder hatte doch seine Laster – ich stand zu meinem Sirup-Fetisch.

In friedlicher Stille aß ich meine Pancakes. 

Das war das Tolle an meinem Vater. Er brauchte nicht viele Worte und konnte einen auch mal gut und gern eine Stunde lang anschweigen, ohne, dass es unangenehm wurde. Mit Mom hätte ich jetzt herumgeblödelt, Gerüchte ausgetauscht oder über ihre tyrannische Kanzleichefin gelästert. Aber gerade heute, da ich noch etwas gerädert war, genoss ich die Ruhe.

„So, ich mach mich dann los“, informierte ich meinen Vater geraume Zeit später und schulterte meine Handtasche. „Morgen bin ich vermutlich den ganzen Tag unterwegs. Du kannst Mom also sagen, sie braucht mich nicht fürs Essen mit einplanen.“

„Mach ich. Viel Spaß auf der Arbeit. Hab‘ dich lieb.“

„Ich dich auch.“

 

 

 

 

Die Arme hinter dem Kopf verschränkt lag ich in meinem Bett und starrte grinsend an die Decke, weil ich mein Glück noch immer nicht fassen konnte. So leicht, wie es gestern gewesen war, Willow von der Wette zu überzeugen, hatte ich zuerst Sorge gehabt, sie könnte doch eine von den Frauen sein, die leicht um den Finger zu wickeln waren. Aber der kurze Schlagabtausch per Whats-App eben hatte meine Bedenken ein für alle Mal vertrieben. Der Rotschopf hatte einen herrlich trockenen Humor. Außerdem ging sie sparsam mit Informationen über sich um, was mir ebenfalls gefiel. Ich hasste es, wenn Frauen mir schon nach fünf Minuten ihre Lebensgeschichte auftischten und ohne Punkt und Komma redeten. Nicht so Willow. Es hatte mich gestern eine geschlagene Stunde gekostet, um ihr so simple Dinge wie ihren Namen, ihr Alter und den Namen ihrer Uni zu entlocken. 

Sie war kühl wie das Bier in meiner Hand gewesen, gleichzeitig hatte ein Feuer in ihren rauchgrünen Augen gebrannt, das direkt in meine Lenden geschossen war. War ich scharf auf die Kleine? Definitiv. Aber mehr noch, als sie flachzulegen, reizte es mich, ihre harte, sarkastische Schale zu durchbrechen. Sie war die perfekte Wettpartnerin, und dieser Umstand hatte mir gestern noch bis nach Feierabend gute Laune beschert. Wyatt übrigens auch, der offenbar wirklich glaubte, er könnte sie mir vor der Nase wegschnappen. Idiot. Reichte es ihm nicht, dass ich die letzten beiden Wetten gewonnen hatte? Wollte er unbedingt eine weitere Niederlage kassieren? Aber ich sollte mich nicht beschweren – mehr Teilnehmer bedeuteten schließlich eine größere Herausforderung.

Ein Husten drang durch meine geschlossene Zimmertür und ließ meine gute Laune schlagartig verpuffen. Mom saß offenbar im Wohnzimmer und frühstückte schon um 9 Uhr morgens Zigaretten. Ich hatte längst aufgehört zu zählen, wie oft ich ihr deswegen schon ins Gewissen geredet hatte. Es kamen ohnehin immer dieselben Antworten: Dass sie alt genug wäre, um selbst entscheiden zu können, dass es ihre Lunge wäre und dass ich mir an die eigene Nase fassen sollte. Wie so oft vergaß die Gute dabei, dass ich ein paar Jahre jünger war als sie und mir lediglich hin und wieder einen Joint genehmigte, was absolut nicht dasselbe war.

Als sich der Zigarettengestank einen Weg durch den hohen Türschlitz meines Zimmers bahnte, entschied ich, eine Runde joggen zu gehen. Die frische Luft würde mir guttun, außerdem würde ich so etwas Zeit totschlagen.

Gott, wie ich die Sonn- und Montage hasste!

Ich war wahrscheinlich der einzige Devil, der sich nicht über die zwei Tage freute, an denen der Club geschlossen hatte. Denn anders als die anderen hatte ich weder den Platz noch das richtige Familienklima, um meine Freizeit genießen zu können. Deshalb arbeitete ich auch so gern im Club, weil ich mich dort mit schönen Frauen ablenken und der Realität entfliehen konnte. Einer Realität, in der ich mir mit meiner Mom einen winzigen Trailer teilte, der in etwa so komfortabel war wie ein Pappkarton. 

Erschwerend kam hinzu, dass ich mich mit der Frau ständig in den Haaren hatte. Das fing bei der grottenschlechten Wahl ihrer Partner an und endete damit, dass sie mich regelmäßig um Geld für Zigaretten anpumpte, obwohl ich mich bereits großzügig an der Miete und den Lebenshaltungskosten beteiligte.

Egal, ich wollte jetzt nicht darüber nachdenken und meinen Lauf genießen. 

Das klappte auch ganz gut. Bis ich 90 Minuten später wieder in meinem verqualmten Zuhause war und unter der Dusche stand. Ich musste hier endlich ausziehen. Ich war jetzt 23 Jahre alt und hatte es hier so lange ausgehalten wie ich konnte. Für meine Mutter. Um sie finanziell und im Haushalt zu unterstützen. Aber es ging nicht mehr. Länger als ein halbes Jahr hielt ich das nicht mehr aus, und wenn alles nach Plan lief, musste ich das auch nicht mehr. 

Frisch geduscht kam ich aus dem Bad und ging in mein Zimmer, ohne einen Blick ins Wohnzimmer zu werfen. Ich wollte meine Laune nicht noch weiter dämpfen, indem ich meine Mutter auf dem Sofa herumgammeln sah. Wegen ihrer beschädigten Lunge konnte sie nicht mehr arbeiten und bezog Frührente. Was sie natürlich nicht am Rauchen hinderte – Süchtige fanden immer Ausreden, um ihren Konsum zu rechtfertigen.

Die Zimmertür achtlos hinter mir zutretend riss ich mir das Handtuch von den Hüften und kramte in den Schubladen meiner Kommode nach einer sauberen Shorts und Jeans. Links daneben stand mein Schreibtisch, an der Wand gegenüber das schmale Bett und neben der Tür quetschte sich ein noch schmalerer Kleiderschrank. Nicht gerade ein Vorzeigezimmer, in das man gern Ladys einlud, aber Nataniel schmiss so oft Partys, dass das zum Glück auch nicht nötig war. Wenn ich mit einer Frau allein sein wollte, zog ich mich in eines der Dutzend Gästezimmer in seinem Herrenhaus zurück oder mietete ein billiges Motelzimmer.

Ich überlegte gerade, ob ich meinen besten Freund Wyatt belästigen sollte, obwohl ich wusste, dass der Sonntag ihm und seiner Familie gehörte, als ich durch das Fenster eine Person herannahen sah, deren Anblick meiner Laune endgültig den Rest gab.

Nicht sein fucking Ernst!

Ich machte wieder kehrt und marschierte barfuß und nur in Jeans ins Wohnzimmer. „Wehe, du machst die Tür auf!“, knurrte ich meine Mutter an, die Zigarette paffend vor dem Fernseher saß und sich die 999zigste Realityshow reinzog.

„Wieso? Wer kommt denn?“, wollte sie wissen und drückte hustend den Glimmstängel aus.

„Dein Arschloch von Ex-Freund, den du nie wiedersehen wolltest!“

Kaum hatte ich die Worte ausgesprochen, sprang sie auf und stürzte zur Tür, doch ich hatte mich bereits davor positioniert und versperrte ihr den Weg. Mit den bunten Lockenwicklern im Haar sah meine Mutter aus wie eine Vogelscheuche. Sie war sehr auf ihr Äußeres bedacht und trotz der unzähligen Fältchen mit ihren 49 Jahren noch immer wunderschön. Leider auch naiv, wie mir das Lächeln zeigte, dass jetzt ihr Gesicht zierte. Die Frau lächelte! Obwohl es noch keinen Monat her war, dass er sie bei einem Streit die Verandatreppe heruntergeschubst und sie mit ihm Schluss gemacht hatte!

„Geh beiseite“, verlangte sie, mit einem Zittern in der Stimme, als wäre sie eine Süchtige, die wochenlang auf Entzug gewesen war und der man nun ihre Lieblingsdroge in Aussicht stellte. Ich starrte sie an, und meine Mutter starrte gebieterisch zurück. Abgesehen von unserem Sturkopf hatten wir kaum Gemeinsamkeiten. Meine Mom war winzig, blond, hatte strahlend blaue Augen und blasse Haut, womit sie das exakte Gegenteil von mir war. Ich hingegen kam nach meinem Bastard von Vater. Groß, dunkelhaarig, gut gebaut und – zugegeben – manchmal etwas autoritär.

Das Läuten an der Haustür fuhr mir durch Mark und Bein. „Du hast Bryce verlassen!“, erinnerte ich meine Mutter und konnte den Zorn in meiner Stimme nicht verbergen. „Du wolltest ihn nie wiedersehen!“

Ich musste ihr lassen, dass sie keinen Millimeter vor meinem düsteren Blick zurückwich. Gut, ich war ihr Sohn, sie hatte nichts vor mir zu befürchten. Aber viele Menschen fühlten sich von meiner Größe und meinen Blicken eingeschüchtert. Das war auch bei meinem Vater so gewesen, und ich wusste nicht, ob mir die geerbte Eigenschaft gefiel. Manchmal war es echt anstrengend, den Leuten erst die Angst vor mir nehmen zu müssen, bevor sie sich in meiner Nähe entspannten. Logan sagte immer, dass ich wie ein Mörder guckte, wenn ich angefressen war. Aber das war keine Absicht. So guckte ich nun mal.

„Das geht nur mich und Bryce etwas an!“, wetterte meine Mutter. „Jetzt geh mir aus dem Weg, Junge!“

Mit ihrer Stimme wurde auch das Läuten immer energischer, doch ich rührte mich nicht vom Fleck. „Mom“, versuchte ich es jetzt ruhiger. Tief in meinem Inneren wusste ich, dass jedes weitere Wort verschwendete Atemluft war – sie hatte sich längst entschieden –, aber ich konnte es auch nicht sein lassen. „Dieser Kerl benutzt dich nur. Ohne dich beleidigen zu wollen, aber glaubst du wirklich, er hat es nötig, sich eine zehn Jahre ältere Freundin zu nehmen? Er gibt sich nur mit dir ab, weil du ihm alles bezahlst und er hier umsonst wohnen darf. Das musst du doch erkennen.“

Fassungslos und den Tränen nahe sah sie mich an. „Wie kannst du es wagen, so mit mir zu reden, du undankbarer Mistkerl? Geh mir sofort aus den Augen, oder ich schwöre dir, ich setze dich auf die Straße!“

Eine schallende Ohrfeige hätte mich nicht härter getroffen. Sprachlos glotzte ich sie an, und sie nutzte meine Bestürzung, um mich beiseitezuschieben und die Tür aufzureißen. Wie sie ihren Lover begrüßte, bekam ich nicht wirklich mit. Zu schockiert war ich über ihre Androhung. So weit war es also schon. Sie würde mich für diesen Parasiten auf die Straße setzen, der ihr nicht nur die wenige Rente, sondern auch die Lebensfreude aussaugte.

Wenn man den Begriff Toxische Beziehung googelte, müsste man von den beiden ein Beispielbild auf Wikipedia finden. Bryce war ein Nichtsnutz, ein Blender mit einem halbwegs hübschen Gesicht, der meiner Mom seit einem dreiviertel Jahr auf der Tasche lag. Sie hatten sich in dieser Zeit so oft gestritten und getrennt, dass ich Buch darüber führen sollte, um nicht den Überblick zu verlieren. Aber der Altersunterschied schien ihr das Gefühl zu geben, wieder jung zu sein, weshalb sie Bryce‘ gelegentliche Übergriffe in Kauf nahm. Schon komisch. Meinem Vater hatte sie nie erlaubt, handgreiflich zu werden, obwohl er durchaus aggressive Züge gezeigt hatte. Erst nachdem er sie wegen einer Jüngeren verlassen hatte, war sie weicher geworden. Um nicht zu sagen, sie hatte ihren Kampfgeist verloren, und jetzt war sie offenbar schon froh darüber, überhaupt noch mal einen Mann in ihrem Leben zu haben.

„Es tut mir so leid, Babe“, drang Bryce‘ reumütige Stimme an mein Ohr. „Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist. Ich hätte das nicht tun sollen, ich …“ Was auch immer er noch hatte sagen wollen, es blieb ihm im Hals stecken, als er mich im Flur entdeckte. Sein Blick wurde stahlhart und sprühte nur so vor Funken. Ganz recht, du Wichser, ich bin auch hier! , dachte ich und starrte herausfordernd zurück. Nur eine falsche Bewegung und ich prügle dich windelweich. Das war ohnehin längst überfällig. Ich hatte mich nur zurückgehalten, weil Mom mir angedroht hatte, mich rauszuschmeißen, falls ich Hand an ihn legte. Und noch brauchte ich diese Bleibe. Aber Bryce sollte nicht glauben, dass ich es nicht tun würde, wenn er sich erneut an ihr vergriff

Diesmal würde ich es tun.

Das schwor ich bei Gott.

„Komm rein“, sagte Mom zu dem blonden, kleingewachsenen Kerl, und er ließ sich nicht zweimal bitten. Manchmal kam es mir so vor, als hätte sie sich bewusst einen Mann gesucht, der nichts mit meinem Vater gemein hatte. Um nicht daran erinnert zu werden, wie abgöttisch sie ihn geliebt hatte und dass es sie fast umgebracht hatte, von ihm verlassen zu werden. Vielleicht stritten wir deshalb so oft, weil sie ihren Exmann in mir sah und meinen Anblick nicht ertragen konnte. So groß, wie mein Hass auf meinen Erzeuger war, konnte ich es ihr nicht einmal verübeln. Ich war 16 gewesen, als der Mann, dessen Namen ich nie wieder aussprechen würde, unser Leben zerstört hatte. Denn mit seinem Auszug war auch ein Großteil des Einkommens weggefallen, weswegen wir aus unserem Haus und in diesen versifften Trailer hatten ziehen müssen. 

Ich versteifte mich, als Bryce an mir vorbeiging, doch er würdigte mich keines Blickes mehr. Anders als Mom, die mir zuraunte, ich solle mich benehmen, ehe sie die Tür zum Wohnzimmer hinter sich schloss. Schnaubend marschierte ich in die Küche und nahm eine Dose Cola aus dem Kühlschrank. Damit verschwand ich in mein Zimmer, zog mich fertig an und machte, dass ich aus dem Trailer kam. Sicher wollten die beiden jetzt ihre Versöhnung feiern, und dabei wollte ich bestimmt nicht in der ersten Reihe sitzen.

Der Trailer war ohnehin zu klein für drei Personen. Neben dem Wohnzimmer und der Miniküche gab es nur noch die beiden Schlafräume, die ebenfalls winzig waren. Dass meine Mutter 24/7 zu Hause hockte, machte es nicht gerade komfortabler.

Nur noch 6.000 Dollar , dachte ich und stieg in mein Auto. Dann hast du genug zusammen, um dir einen eigenen Trailer zu kaufen und deine Mutter aus der Ferne unterstützen zu können . Allerdings sparte ich nicht auf so ein altes, klappriges Ding wie das hin, in dem ich derzeit wohnte, sondern auf ein modernes Mobile Home, mit einem großzügigen Schnitt und kleinem Gärtchen. Am anderen Ende der Stadt gab es einen hübschen Mobile Home-Park, und schon bald würde eins der Häuser dort mir gehören. Mit diesem aufheiternden Gedanken startete ich den Motor und fuhr ins Stadtzentrum, um dort den Nachmittag zu verbringen.