Kapitel 12

 

 

Zwei Tage verstrichen, und wahrscheinlich war Jack schon total genervt von mir, weil ich gefühlt jede Stunde nachfragte, ob bei ihm alles in Ordnung sei. Ich wollte echt keine Klette sein, aber ich machte mir nun mal Sorgen um ihn. Zumal er sich weiterhin weigerte, zum Arzt zu gehen. Beim Football auf der High School hätte er ständig Schläge gegen den Kopf abbekommen, hatte er mir gestern geschrieben. Es sah angeblich schlimmer aus, als es war und ich sollte mir doch nicht so viel Sorgen um ihn machen. Aber natürlich machte ich mir die, und obwohl es verständlich war, dass Jack jetzt Zeit für sich brauchte, fiel es mir schwer, ihm diese einzuräumen.

Ich war noch nie richtig verliebt gewesen.

Hier und da hatte ich mal für einen Jungen geschwärmt und einem sogar anonyme Briefe geschrieben. Aber richtiges verliebt sein, mit Kribbeln im Bauch, Herzklopfen und gedanklichen Aussetzern? Ich hatte immer geglaubt, ich würde wie Tante Rosalie enden, die noch heute unverheiratet, kinderlos, aber glücklich war. Ich brauchte keinen Mann in meinem Leben, um mich zu verwirklichen oder sexuell auszuleben. Das war mein Leitspruch gewesen, mein heiliges Mantra. Nun war mir klar, dass ich nur noch nicht den Richtigen getroffen hatte. Insgeheim hatte ich mich nach jemandem gesehnt, der mich zum Lachen brachte, der mir mit seinen Blicken den Atem raubte und mir aufmerksam zuhörte, egal, welchen Blödsinn ich mal wieder von mir gab.

Und so jemanden hatte ich nun gefunden.

Am Anfang war es vielleicht nur eine Wette gewesen, aber inzwischen glaubte ich ihm, was er in seinem Zimmer zu mir gesagt hatte. Kurz bevor man ihm seinen Traum gestohlen hatte. 

     Morgen , sagte ich mir.

     Morgen würde ich zu ihm gehen und ihm eine Antwort auf seine Frage geben, ob ich mit ihm ausgehen wollte.

 

 

 

Jack

 

Das Herz schlug mir bis zum Hals, als ich am Samstagabend an die Bürotür meines Chefs klopfte. Er hatte mich hergebeten, ohne mir den genauen Grund zu nennen, und das, obwohl er wusste, was mir am Mittwoch passiert war. Es ist wichtig. Ich kann nicht mehr sagen, aber du musst sofort herkommen , hatte er mir geschrieben. Also war ich ins Auto gesprungen und hierher gedüst. Meine Rippen taten noch etwas weh. Der kleine Bullige hatte mir eine fiese Rechte in die Seite gegeben, bevor ich ihn mit dem Schläger niedergestreckt hatte. Zudem waren die Schwellung und Verfärbung meines blauen Auges so schlimm geworden, dass ich wie Quasimodo aussah. Aber aus Erfahrung wusste ich, dass es in wenigen Tagen wieder abklingen würde. 

Trotz meiner Nervosität glaubte ich nicht, dass mein Boss mir kündigen würde. Stan Hopkins war nicht so ein Arsch. Er war selbst jahrelang Tänzer gewesen, bevor er letztes Jahr die Leitung des Clubs übernommen hatte. Er würde mich wegen etwas, für das ich nichts konnte, nicht vor die Tür setzen. Aber irgendetwas war im Busch, sonst hätte er mich nicht aus meinem Krankenbett gescheucht.

Er rief mich herein, und ich öffnete die Tür.

Sein Büro war deutlich komfortabler als unsere Aufenthaltsräume, aber das hatte nicht er, sondern sein Vorgänger verfügt. Außer der ursprünglich violetten Wandfarbe, die nun grau war, hatte er nichts im Büro ersetzt. Weder die schummerige Beleuchtung, die einem das Gefühl gab, man wäre im Hinterzimmer eines Mafiosos gelandet, noch die massiven Möbel, die sich überall im Raum fanden. Die Arme vor der Brust verschränkt stand mein Boss vor dem klobigsten aller Möbelstücke, dem Schreibtisch. Er hatte mir den Rücken zugewandt und drehte sich jetzt zu mir um.

„Jack“, begrüßte er mich, doch sein Lächeln wirkte angespannt, als er mir entgegen kam. „Tut mir leid, dass ich dich holen ließ, aber sie wollte es so.“

Sie?

Dann trat er beiseite und gab den Blick auf das schönste Wesen frei, das vermutlich auf unserem Planeten wandelte. Rotes, flammendes Haar, blasse Haut, ausgeprägte Wangenknochen und perfekt geschwungene Lippen. Wie eine Königin thronte sie auf dem Bürostuhl, die langen Beine überschlagen, und ihre Augen leuchteten auf, als sie mich erblickten.

„Valeria“, stieß ich perplex aus.

„Ich lass euch mal allein“, murmelte Stan, klopfte mir auf die Schulter und verließ das Büro. Ich sah ihm noch nach, wie er die Tür hinter sich schloss, dann wandte ich mich wieder meiner ehemaligen Chefin zu, die sich lächelnd erhob und mit wiegenden Hüften auf mich zukam.

 

 

Willow

 

 

„Hey! Nataniel“, rief ich über die wummernde Musik hinweg, bevor er in der Menge entschwinden konnte. In seinem maßgeschneiderten Anzug drehte er sich zu mir um, doch falls ich geglaubt hatte, Freude oder Sympathie in seinen eisblauen Augen zu sehen, so wurde ich enttäuscht. Die Hände in die Hosentaschen geschoben blickte er gewohnt desinteressiert auf mich herab. Dass wir am Wasser Sandwiches geteilt und zusammen gefeiert hatten, schien er schon wieder aus seinem Gedächtnis getilgt zu haben.

„Kannst du mir sagen, wo ich Jack finde? Ich war gerade bei ihm zu Hause. Du weißt ja sicher, was vorgefallen ist, und ich wollte … na ja, ich wollte nachsehen, ob alles in Ordnung ist“, brabbelte ich drauf los. „Aber er war nicht dort, nur seine Mutter. Sie sagte, dass er in den Club gefahren wäre, also arbeitet er scheinbar wieder. Kannst du ihn herholen oder mich zu ihm bringen?“

Während ich gesprochen hatte, war Nataniels linke Braue immer weiter hochgewandert, bis sie fast in seinem Haaransatz verschwunden war. Kurz suchte sein Blick die Menge hinter mir ab. Dann sagte er: „Ich denke, es ist gerade unpassend.“

„Bitte“, sagte ich. „Ich will ihn nur kurz sprechen und wissen, ob alles in Ordnung ist. Außerdem … muss ich ihm etwas sagen.“ Nataniel sah mich ganz komisch an. Keine Ahnung, worüber er so fieberhaft nachdachte, aber schließlich sagte er: „Du hast es so gewollt.“ Mit einer höflichen, aber auch irgendwie spöttischen Geste bedeutete er mir, vorzugehen. Ich kannte den Weg. Er führte zum Personalbereich. Doch kurz bevor wir den Gang erreichten, stellte sich uns Wyatt in den Weg.

Ich lächelte ihn an, doch sein Blick fixierte Nataniel. Und das nicht gerade freundlich. „Wo bringst du sie hin?“

„Ins Büro des Chefs. Sie will Jack sehen.“

„Spinnst du?“, fuhr Wyatt ihn zu meiner Verwunderung an. „Du weißt doch, wer gerade bei ihm ist!“

„Gerade deswegen ja. Sie will es so, und ist es nicht besser, wenn sie es gleich erfährt?“

Verwundert sah ich von einem zum anderen. „Kann mir mal bitte jemand verraten, wovon ihr redet?“ Doch keiner der beiden beachtete mich. Sie fochten ein stummes Blickduell aus, das Nataniel offenbar gewann, denn Wyatt seufzte.  

„Du hast recht“, murmelte er. „Sie hätte es schon viel früher erfahren sollen. Das ist vermutlich zum Teil auch meine Schuld. Also gut, aber ich werde es tun. Ich bringe sie hin.“

Nataniel widersprach nicht. Er musterte mich nur kurz mit diesem undurchdringlichen Blick, dann ging er davon und Wyatt schob mich in den Gang. 

 

 

Jack

 

„Stan hat mir schon erzählt, was dir passiert ist. Das tut mir leid“, sagte Valeria und musterte mein ramponiertes Gesicht. „Du hast dich verändert“, stellte sie fest. „Bist erwachsener und männlicher geworden.“ Sie umkreiste mich wie ein Geier seine Beute, während ich stocksteif da stand und versuchte, ruhig weiterzuatmen.

„Bist du auf der Durchreise?“, fragte ich betont kühl. Sie sollte mir auf keinen Fall anmerken, was ihr Auftauchen mit mir anstellte. Wie ihre bloße Gegenwart mein Innerstes aufwirbelte. Ein Jahr hatte ich Valeria nicht mehr gesehen. Sie war die Gründerin des Hot Devils Club , gut, eigentlich ihr Onkel, aber vor allem war sie meine erste große Liebe gewesen. Gott, wie sehr hatte ich den Boden unter ihren Füßen angebetet. Doch dann war sie ans andere Ende des Kontinents gezogen, wegen irgendeines familiären Notfalls, den sie uns nicht genauer hatte erläutern wollen. Stan vermutete schon lange, dass ihr Onkel in kriminelle Geschäfte verwickelt war, aber so etwas hatte mich damals nicht interessiert.

Für mich hatte nur gezählt, dass sie mich gebeten hatte, auf sie zu warten. Und das hatte ich getan. 

Zwei Monate.

Vier Monate.

Sechs Monate.

Nach einem halben Jahr Abstinenz und Liebeskummer hatte ich dann mit den Wetten angefangen. Ich war wütend und verletzt gewesen und hatte Zerstreuung gebraucht. Zumal sie meine Nachrichten irgendwann nicht mehr beantwortet und sich sogar eine neue Nummer zugelegt hatte. Wohl, damit ich sie nicht mehr belästigen konnte. Ich, ihr liebestoller, blutjunger Toyboy.

Jetzt wagte sie es, mich anzulächeln und noch genauso atemberaubend auszusehen wie am ersten Tag unserer Begegnung. Und als wäre das nicht schon schlimm genug, kamen all meine verlorengeglaubten Emotionen für sie wieder hoch. Ich fühlte mich wie ein Ertrinkender. Wie der liebeskranke Toyboy von damals. 

„Nein, ich bin wieder zurück.“ Vor mir blieb Valeria stehen und musterte mich mit ihren wunderschönen Augen.

Ihr Duft … dieser blumige, süße Geruch, der noch tagelang an meinem Körper gehaftet hatte, nachdem wir hemmungslos miteinander gevögelt hatten. Gott, wie sehr ich sie damals geliebt hatte und es irgendwie immer noch tat. Wir waren nicht zusammen gewesen, aber ich hatte sie vergöttert – und das hatte sie gewusst und ausgenutzt. Aber ich war selbst schuld. Ich hatte mich ihr bereitwillig hingegeben. In der Hoffnung, es würde eines Tages mehr daraus werden. Auch, wenn sie sechs Jahre älter war als ich.

„Freust du dich denn gar nicht, mich zu sehen?“, fragte sie mit diesem scharfsinnigen Lächeln, das mir sagte, dass sie alles sah, was in meinem Herzen vorging.

Anstatt ihre Frage zu beantworten, erkundigte ich mich steif: „Ich dachte, du wolltest deinem Onkel helfen.“

Valeria hob den Arm und wickelte sich eine Haarsträhne von mir um den Finger. Mein ganzer Körper erschauderte. „Das habe ich. Aber lass uns jetzt nicht darüber reden. Ich habe dich vermisst, Jack. So sehr.“

Sie wollte mich küssen, doch ich packte sie an den nackten Schultern und hielt sie zurück. „Ich habe mich verändert, Valeria, wie du selbst schon festgestellt hast. Und das mit uns ist lange vorbei.“

Sie lachte klangvoll, dann nahm sie meine Hände und legte sie auf ihre Hüften. Sie trug ein giftgrünes, hautenges Kleid, das ihre rote Haarfarbe und ihre Kurven betonte. Kurven, von denen ich damals nicht genug bekommen hatte. „Das glaube ich dir nicht. Wir haben uns vielleicht ein Jahr nicht gesehen, aber das, was wir hatten … das war etwas Besonderes.“

Damit beugte sie sich vor und küsste meinen Hals. Und ich? Ich ließ es zu, verlor mich in dem Gefühl ihrer kissenweichen, erfahrenen Lippen, die all meine verschollenen Gefühle für sie wieder hervorholten. Stöhnend legte ich den Kopf in den Nacken, erlaubte ihrer Zunge, zu meinem Ohr zu wandern und sinnlich daran zu knabbern.

Unser Sex war wild gewesen. Wir waren immer schnell zur Sache gekommen. Auch jetzt schob Valeria ohne lange zu zögern ihre Hand in meine Hose und umschloss meinen Schwanz. Ich stöhnte kehlig, als sie mich massierte und ich ihre spitzen Nägel zu spüren bekam. Tief in meinem Innern wusste ich, dass ich gerade einen Fehler beging, aber fuck! Es war zu lange her gewesen. Meine Lippen fanden ihre. Wie ausgehungert küsste ich sie, während ihre geschickten Hände meinen Schwanz verwöhnten. Der Druck wurde unerträglich, bis …

Eine Bewegung aus dem Augenwinkel ließ mich den Kopf drehen.

Dort, mitten auf der Türschwelle, stand eine fassungslose Willow, die erst mich und dann die Hand in meiner Hose anstarrte. Nur am Rande registrierte ich, dass Wyatt hinter ihr im Flur aufragte. Mein bester Freund hatte sie offenbar hierhergeführt, wohl wissend, was sie hier vielleicht erwarten würde. Aber darüber konnte ich jetzt nicht nachdenken.

Nicht im Mindesten verlegen zog Valeria sich aus meiner Hose zurück, stelzte auf ihren High Heels zum Chefsessel zurück und sank darauf nieder. Sie sagte etwas zu Wyatt, doch ihre Worte gingen in dem Dröhnen unter, das in meinem Kopf herrschte. Unfähig, mich zu bewegen, starrte ich Willow weiter an.

In ihren Augen schimmerten keine Tränen, nur Nüchternheit.

Als hätte sie es tief in ihrem Innern gewusst.

Als hätte sie nichts anderes von mir erwartet.

Ich schämte mich dafür, dass ich keinen Ton herausbekam. Aber was hätte ich sagen sollen? Dass es nicht so war, wie es aussah? Dass es mir leidtat? Willow schien Valeria gar nicht wahrzunehmen. Vielleicht war es ihr auch egal, wer die Frau war, deren Hand gerade an meinem Schwanz gewesen war. Sie sah nur mich an.

„War irgendetwas von dem, was du neulich in deinem Zimmer zu mir gesagt hast, echt?“, wollte sie erstaunlich beherrscht von mir wissen.

Mein Hals war noch immer wie zugeschnürt. Doch dann sperrte ich meine Emotionen weg. Die Scham, den Kummer, den Zorn. Jetzt, da Valeria zurück war, würde sich vieles ändern. Mit Willow weiter Kontakt zu haben, würde nur zu Drama und Herzschmerz führen. Ich hatte den Fehler begangen und ihr meine Gefühle zu schnell gestanden. Hätte ich damit bis zum Ende der Wette gewartet, hätte sich das mit Valeria sicher von selbst wieder verlaufen. Denn ich mochte vielleicht noch Gefühle für meine ehemalige Chefin haben, aber das, was ich mit Willow gehabt hatte, war so viel einzigartiger gewesen. Aber jetzt hatte sie uns gesehen und es gab kein Zurück mehr.

„Geh“, sagte ich nur zu ihr. „Und komm nicht wieder hierher.“

Willow schenkte mir ein bitteres Lächeln, das sich wie ein Dolchstich ins Herz anfühlte, dann machte sie auf dem Absatz kehrt.

Und ich ließ sie gehen.

Weil ich wusste, dass ich sie verloren hatte und dass ich sie mit nichts auf dieser Welt jemals dazu bringen würde, zu mir zurückzukommen.