Titeldekoration

Eins

Kleiner werden und fliegen können:

Es war eine allen kleinen Schwestern wohlbekannte Tatsache, dass die ältere Schwester, wenn sie einen nicht in ihrer Nähe haben wollte, entweder a) etwas wirklich Cooles machte und glaubte, man würde es verderben, oder b) etwas machte, was sie nicht sollte. Meine Schwester Lucinda hatte eine Menge Wirbel darum veranstaltet, dass sie nicht gestört werden durfte, weil sie an einem Projekt für die Schule arbeitete. Aber ich hatte nicht den Eindruck, als würde es um Hausaufgaben gehen. Sie wollte mich bloß nicht in ihrer Nähe haben.

Meine Schwester hatte Evan, der eine Klasse über ihr war, eingeladen, ihr bei dem Projekt zu helfen. Natürlich handelte es sich dabei nicht um ein gewöhnliches Schulprojekt. Schließlich waren alle in meiner Familie Feen – gute Feen, um genau zu sein. Ich passte nicht immer dazu, weil ich mich mehr für Langweiler – alias Menschen – interessierte als für Zauberei. Ich hatte meine Eltern sogar davon überzeugt, mich in die Riverside-Grundschule zu schicken, wo ich mich mit einer Langweilerin angefreundet hatte. Ich interessierte mich vielleicht nicht so für Zauberei wie meine Schwester, doch sogar mir war klar, dass Lucinda nicht so versessen darauf war, in Zaubertränke eine Eins zu kriegen. Evan kannte sich bei Zaubertränken ja vielleicht gut aus, aber der wahre Grund, warum meine Schwester wollte, dass er vorbeikam, war meiner Ansicht nach ziemlich sicher, dass er der süßeste Feenjunge an der Cottingley-Feenschule war. Er hatte dunkles, lockiges Haar, das immer gerade ein bisschen zu lang zu sein schien, sodass er es sich aus den Augen streichen musste. Wenn er lächelte, ging ein Mundwinkel nach oben, und er kniff sein linkes Auge ein bisschen zu, als würde er einem zuzwinkern. Lucinda hatte ihn gleich nach seinem Eintreffen ins Wohnzimmer geschleppt und unsere Mutter hatte ihr versprechen müssen, dass Katie und ich nicht reindurften, weil sie arbeiten mussten.

Das war total unfair, weil Evan sich bestimmt gerne mit Katie und mir unterhalten hätte. Fast jeder in der Feengemeinde war fasziniert davon, dass ich eine waschechte Langweilerfreundin hatte. Hunderte von Jahren hatten wir Feen im Verborgenen unter den Menschen gelebt. Eigentlich hätte ich in meiner Langweilerschule geheim halten sollen, dass ich eine Fee war, aber meine Freundin Katie hatte es herausgefunden. Katie will Detektivin werden. Und Astronautin. Und eine olympische Goldmedaille im Turnen gewinnen. Meine beste Freundin ist sehr talentiert.

Sie ist auch neugierig. Katie waren an meiner Familie und mir eine Menge Dinge aufgefallen, die keinen Sinn ergaben. Zum Beispiel, dass ich mich mit meinem Hund unterhielt. Sie konnte natürlich nur mich verstehen, doch Winston und ich führten richtige Gespräche, auch wenn er eher drauflos plapperte, als dass er sich mit mir unterhielt. Sie dachte, wir wären vielleicht Spione. Aber als sie herausfand, dass wir Zauberwesen waren, fand sie das sogar noch cooler. Einige Feen waren besorgt, dass Langweiler es nicht verkraften würden, dass es Feen wirklich gab. Doch Katie war sofort dabei und half mir, meinen ersten Wunsch zu erfüllen. Sie verlor nicht einmal bei der Zahnfee die Nerven, und eins könnt ihr mir glauben – eine Zahnfee kann einen schon ein bisschen einschüchtern.

Noch etwas war besonders daran, Katie als beste Freundin zu haben. Sobald Katie wusste, dass ich eine Fee war, begann sich etwas zu verändern. Ich begann mich zu verändern. Meine Großmutter glaubte, es hätte damit zu tun, dass die Langweiler wieder an Zauberei glaubten. Dass wir vielleicht jemanden brauchten, der an uns glaubte, damit unsere Zauberfähigkeiten stark blieben. Feen beherrschten alle möglichen Zaubersprüche, aber jede von uns hatte nur eine besondere Zauberkraft. Meine bestand darin, mit Tieren sprechen zu können – was, ohne jetzt angeben zu wollen, ziemlich cool war.

Das Seltsame war: Sobald Katie wusste, dass ich eine Fee war, bekam ich eine zweite Zauberkraft – ich konnte fliegen. Genau genommen schwebte ich zuerst und hatte es überhaupt nicht unter Kontrolle. Es passierte einfach – noch dazu mitten auf einer Langweilerhochzeit. Ich lernte rasch, wie ich es kontrollieren konnte, denn auf die Größe eines Käfers zu schrumpfen und wie eine Riesenhummel durch die Gegend zu schwirren, war nichts, was man einfach so planlos tun möchte. Wenn ich fliegen wollte, musste ich mich bloß darauf konzentrieren und an etwas Leichtes denken. Es fühlte sich komisch an, irgendwie kribbelig, aber das Kleinerwerden tat nicht weh, und es war toll, die winzigen Flügel zu spreizen, die unter meinen Schulterblättern verborgen waren. Wenn man das nicht ab und zu tat, konnte es passieren, dass sie sich verkrampften. Natürlich konnte ich das Fliegen vor meinen Eltern nicht geheim halten. Sie hätten vielleicht nicht bemerkt, dass ich schwebte, solange ich möglichst nahe am Boden blieb. Doch als ich kleiner zu werden begann und wie ein funkelndes, leuchtendes Glühwürmchen aussah, musste ihnen das zwangsläufig auffallen.

Sobald meine Eltern wussten, dass ich fliegen konnte, wollten sie wissen, warum ich die erste Fee mit zwei Zauberkräften war. Also musste ich ihnen von Katie erzählen. Vergangene Woche waren meine Eltern und meine Großmutter zu Sitzungen mit dem Feenrat gegangen. Jeder versuchte herauszufinden, was es bedeutete, dass unser Geheimnis keines mehr war. Es gab jetzt eine Langweilerin, die wusste, dass es Feen gab. Meine Schwester vergeudete keine Zeit damit, sich Sorgen darüber zu machen, dass sich vielleicht unsere ganze Gesellschaft verändern würde. Sie hatte sich die ganze vergangene Woche darüber beschwert, wie unfair es war, dass ich fliegen konnte, wo das doch ihre Zauberkraft war. (Als hätte sie das Fliegen erfunden!) Ich hatte die ganze vergangene Woche versucht, dahinterzukommen, wie das mit dem Fliegen wirklich funktionierte – wie man etwa verhindern konnte, gegen Wände zu knallen. Einmal musste ich mitten im Flug niesen und schoss wie eine Rakete durchs Zimmer. Wie sich herausstellte, war Fliegen komplizierter, als es aussah.

Obwohl meine Schwester also behauptete, dass Evan vorbeikam, um ihr bei den Hausaufgaben zu helfen, nahm ich an, dass er wahrscheinlich gekommen war, um Katie und mich zu sehen. Es war schließlich etwas ziemlich Besonderes, eine Langweilerin zu kennen. Meine Mutter ertappte Katie und mich dabei, wie wir durch das Treppengeländer ins Wohnzimmer starrten, um einen Blick auf Evan zu erhaschen. Sie scheuchte uns in mein Zimmer zurück und sagte, dass die beiden ungestört sein wollten. Ich machte sie darauf aufmerksam, dass wir schließlich nicht im Wohnzimmer waren oder die beiden belästigten, aber sie bestand trotzdem darauf, dass wir wieder in mein Zimmer gingen.

Katie ließ sich auf mein Bett plumpsen und landete dabei fast auf meinem Hund Winston, der unter der Bettdecke geschlafen hatte. »Ich möchte auch auf die Feenschule gehen, wenn es dort Jungs gibt, die so aussehen!«

»Du solltest sehen, wie Evan Draolo spielt. Er ist toll«, sagte ich.

»Was ist Draolo?«, fragte Katie, setzte sich auf und kraulte Winston hinter den Ohren.

»Es ist wie Polo, bloß mit Drachen.« Katie machte große Augen, also fuhr ich mit meinen Erklärungen fort, damit sie das nicht falsch verstand. »Es sind keine riesigen Drachen oder so. Sie werden für das Spiel gezüchtet; sie sind ungefähr so groß wie Pferde, können aber Feuer speien und fliegen.«

»Das ist dermaßen cool. Ich hätte gern einen Drachen als Haustier«, sagte Katie.

Winston rollte sich auf den Rücken, damit Katie sein Bäuchlein kraulen konnte. »Pah, warum sollte irgendwer einen Drachen als Haustier wollen, wenn er einen Hund haben kann?«, fragte er. »Hunde sind in beinahe jeder Hinsicht überlegene Geschöpfe.«

Da ich diejenige war, die mit Tieren kommunizieren konnte, musste ich für Katie übersetzen. »Winston glaubt, dass du mit einem Hund besser dran bist. Er ist zwar ein kleiner Snob, aber was das betrifft, hat er recht. Drachen sind in Ordnung, aber sie sind nicht stubenrein und können stinken«, warnte ich Katie.

»Trotzdem – es ist ein Drache. Evan sieht bestimmt echt süß aus, wenn er auf einem reitet.« Katie seufzte und wurde dann wieder munter. »Vielleicht sollten wir Evan und deiner Schwester einen Teller mit Plätzchen von deiner Mutter bringen. Hausaufgaben können einen ganz schön hungrig machen. Leuten was zu essen zu bringen, heißt nicht, dass man ihnen auf den Wecker geht, sondern dass man höflich ist.«

»Es ist höflich, aber meine Schwester wird ausflippen und behaupten, dass wir das bloß machen, um ihr nachzuspionieren«, erklärte ich. Katie sah verärgert aus. Ich hatte ihr schon früher versucht zu erklären, was für ein Glück sie hatte, ein Einzelkind zu sein. Jetzt kapierte sie allmählich, wie sehr eine ältere Schwester nerven konnte.

»Glaubst du, Evan mag deine Schwester?«

Ich hob die Augenbrauen, während ich darüber nachdachte. Es war möglich. Ich war nicht gerade eine Expertin, was Jungs anging. Alle erzählten mir ständig, dass Nathan Filler aus meiner Klasse mich mochte, weil er mich aufzog und beim Mittagessen mit Pommes bewarf. Das ergab für mich keinen Sinn, aber Langweilerjungs waren kompliziert. Doch trotz ihrer vielen Fehler war meine Schwester schon hübsch. Außerdem neigte sie dazu, ihr wirklich schlechtes Benehmen allein gegen mich zu richten. Zu anderen Leuten war sie normalerweise ziemlich nett. »Vielleicht mag er sie. Schließlich müsste er ihr bei der Zaubertrankhausaufgabe nicht helfen. Er muss einen Grund dafür haben.«

»Ich frage mich, worüber sie sich unterhalten«, sagte Katie.

»Sie reden bestimmt über uns«, sagte ich. »Für andere Feen ist es wirklich eine große Sache, dass wir Freundinnen sind.«

»Möchtest du nicht wissen, was er denkt? Wir könnten Winston nach unten schicken, damit er sie belauscht. Und wenn er zurückkommt, kann er uns erzählen, was Evan gesagt hat«, schlug Katie vor.

»Wie bitte? Ich habe nicht die Absicht, in irgendeinen Verrückt-nach-Jungs-Spionageeinsatz hineingezogen zu werden.« Winston rollte sich wieder auf den Bauch und stand auf.

»Wir könnten ihn mit Mortadella belohnen.« Katie verstand Winston ja vielleicht nicht so wie ich, aber sie wusste ziemlich genau, wie er tickte.

Winston legte den Kopf schief. »Mortadella? Nun, vielleicht war ich ein bisschen voreilig, als ich mich weigerte, so was zu tun. Ich würde in Erwägung ziehen, einfach nach unten zu spazieren. Und wenn ich zufällig was mitbekomme, ist es bestimmt nicht gemein, euch an den Einzelheiten teilhaben zu lassen.« Winston hing die Zunge aus dem Maul, als er über einen Riesenstapel Mortadellascheiben nachdachte.

»Immer mit der Ruhe, du James Bond in Hundegestalt.« Ich wandte mich an Katie. »Das wird nicht klappen. Lucinda weiß, dass ich mich mit Winston verständigen kann. Sie würde nie im Leben erlauben, dass er einfach ins Zimmer spaziert, sich hinlegt und zuhört. Sie würde ihn so schnell rausschmeißen, dass wir nur einen verschwommenen wuscheligen schwarzen Fleck vorbeisausen sehen würden.«

Wir schwiegen alle drei, während wir versuchten, uns einen Plan auszudenken, der funktionierte.

»Du könntest mir trotzdem Mortadella holen. Mit Wurst kann ich besser denken.« Winston drehte sich im Kreis, um die Tagesdecke zu einem bequemen Haufen zusammenzuschieben, und ließ sich dann mit dem Kopf auf den Pfoten hinplumpsen.

»Was würde ich nicht dafür geben, eine Fliege an der Wand zu sein«, sagte Katie.

Katie und ich sahen einander im selben Moment an und kreischten. Es war der perfekte Plan.