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Faith hasste es, wenn Männer ihren Status als Vater, Ehemann oder Bruder als Grund dafür anführten, einen Standpunkt zu Themen einzunehmen, die Frauen betrafen. Als hätte der Umstand, dass sie ein kleines Mädchen aufzogen, sie plötzlich erkennen lassen, dass Vergewaltigung und sexuelle Belästigung tatsächlich schlimme Dinge waren. Doch sie glaubte, als Mutter eines sensiblen Sohns und als Schwester eines abscheulichen Bruders gelernt zu haben, wie man mit Männern umging, die schlecht drauf waren. Man fragte sie nicht, wie es ihnen ging. Man drängte sie nicht, sich auszusprechen. Man ließ sie ihre langweilige Musik im Radio hören und brachte sie zu einem Laden, wo sie Junkfood kaufen konnten.
Sie saß im Wagen, während Will für seinen Raubzug im Tankstellen-Shop bezahlte. Seine Kiefer waren noch immer fest zusammengepresst. Und er hatte wieder diesen wilden Blick wie früher, bevor Sara in sein Leben getreten war.
Faith sah auf den kurzen Chat in ihrem Handy:
FAITH: Habe gerade zu Will gesagt, er soll es dir sagen, aber er hat es dir schon gesagt, und tut mir leid, dass ich so eine schlechte Freundin bin, bitte verzeih mir.
SARA: Danke. Schon okay. Ist für uns alle ein schwerer Tag. Reden später.
Die Antwort war vor fünf Minuten eingegangen. Es war eine absolut normale, nette Antwort, außer man hatte den halben Tag mit Will verbracht.
Faith fiel keine Antwort ein. Sie hatten eine Regel in Bezug auf Will. Sara hatte von Anfang an darauf bestanden, sie sollten nicht auf einer persönlichen Ebene über ihn sprechen, weil Faith seine Partnerin war und immer, immer auf seiner Seite sein musste.
Theoretisch hatte Faith diese Argumentation verstanden. Ihr Job brachte sie in brenzlige Situationen. Sie trugen ihre Waffen nicht zur Schau. Jetzt aber wusste Faith die Regel aus tiefster innerer Überzeugung zu schätzen, denn wenn sie Will so zerrissen erlebte, wenn sie sah, wie er alle zehn Minuten auf sein Handy schaute, bevor er es endlich ausmachte, dann wäre sie Sara am liebsten an die Gurgel gegangen.
Sie steckte ihr Telefon wieder in die Becherhalterung. Dann prüfte sie sich selbst und ging in Gedanken zu Lena Adams zurück, um zu sehen, ob ihr blinder Hass auch nur eine Spur abgeklungen war.
Nichts da.
Die Tür ging auf, und Will stieg in den Wagen. Er hatte die Arme voller Tüten mit Doritos, Cheetos, Bugles und einem halb aufgegessenen Hotdog, den er sich in den Mund schob, bevor er die Tür schloss. Er griff in seine Jackentaschen und holte eine Dose Dr Pepper für sich und eine Dose Cola light für Faith heraus. Heftpflaster hatten offenbar nicht auf seinem Einkaufszettel gestanden. Will konnte bei den merkwürdigsten Dingen zum Geizhals werden. Er hatte ein paar Meter Klopapier aus der Toilette im Laden abgerissen und um seine blutende Hand gewickelt.
»Hast du Klebeband?« Er zeigte auf den fachkundigen Verband, der wie die schmutzige Schnur an einem Tampon herabhing. »Das geht immer auf.«
Faith stieß einen sehr lauten Seufzer aus, dann öffnete sie die Konsole unter der Armlehne und suchte ein paar Pflaster aus ihrem Notvorrat heraus. »Elsa oder Anna?«
»Gibt es keinen Olaf?«
Faith seufzte schon wieder. Sie fand das letzte Olaf-Pflaster, was ihr einen Schreianfall von Emma garantierte, wenn sie herausfand, dass von ihren Pflastern mit Figuren aus dem Film Die Eiskönigin ausgerechnet ihr Lieblingsschneemann weg war. »Ich habe über Lena und Jared nachgedacht.«
Will begann, das Toilettenpapier abzuwickeln. Das billige Material klebte in der Wunde.
»Jared muss in der Highschool gewesen sein, als Lena den Caterino-Fall bearbeitet hat.« Faith öffnete das Pflaster mit den Zähnen. »Krass, wenn man mal nachrechnet.«
»Er ist ein gut aussehender Junge«, sagte Will.
»Ja, gut.« Faith klebte seinen immer noch blutenden Knöchel mit dem Pflaster ab. »Kerle, die du in deinen Zwanzigern für kompliziert und missverstanden hältst, stellen sich in deinen Dreißigern als Arschlöcher heraus.«
Will warf einen Blick auf das Radio. Sie hatte den E-Street-Sender eingestellt.
»Ich höre es gern, wenn sich alte Männer wiederholt räuspern«, sagte Faith.
Er stellte die Musik aus. »Was hast du über Gerald Caterino herausgefunden?«
Faith nahm ihr Smartphone wieder zur Hand. Sie hatte einige Minuten Zeit für Recherchen gehabt und eine Menge Informationen gefunden, nach denen sie schon vor Stunden hätte suchen sollen. »Kein krimineller Hintergrund. Nicht einmal ein Strafzettel. Er besitzt ein Gartenbauunternehmen. Die Website ist ziemlich schick. Sieht nach einem legalen Betrieb aus, mit einem Verwalter und zwei Teams mit jeweils eigenem Vorarbeiter. Willst du es sehen?«
Will nahm das Handy und scrollte durch die Seite. Er klickte zum Abschnitt über den Eigentümer. Dem Foto nach war Gerald Caterino Mitte fünfzig, was mit einer siebenundzwanzigjährigen Tochter zusammenpasste. Was von seinem dunklen Haar noch übrig war, war grau meliert. Er hatte einen Bürstenschnauzbart und trug eine Brille mit Drahtgestell.
Faith sagte: »Seinem Lebenslauf zufolge sind seine Hobbys Gartenarbeit, Lesen mit seinem Sohn – und Gerechtigkeit für seine Tochter finden. Schau dir das hier an.«
Will tippte auf den Link. Eine Facebook-Seite füllte den Schirm.
»Gerechtigkeit für Rebecca«, sagte Faith. Sie wusste nie genau, wie schnell Will lesen konnte. »Caterino hat die Seite vor fünf Jahren angelegt. Er hat rund vierhundert Abonnenten. Es gibt Links zu einem Haufen anderer Facebook-Seiten für Frauen, die verschwunden sind oder ermordet wurden. Hauptsächlich handelt es sich um Eltern, die darüber schimpfen, dass die Polizei faul, dumm oder unfähig ist oder grundsätzlich nicht genug tut.«
»Einunddreißig Likes für einen Donut-Witz.« Will scrollte die Seite hinunter. »Er hat dieselben Zeitungsartikel gepostet, die Nesbitt uns gegeben hat?«
»Der neueste ist eine Geschichte aus dem AJC über den Fund von Alexandra McAllister gestern Morgen.«
»Er ist wachsam«, sagte Will. »Jedes Mal, wenn jemand etwas postet, antwortet er innerhalb von Minuten.«
»Mach dich auf etwas gefasst. Das Ganze nimmt eine sehr düstere Wendung.« Faith ging zu ihrem Browserverlauf und holte die Gerechtigkeit-für-Rebecca-Seite auf den Schirm. Sie zeigte auf die Menüpunkte und las sie laut vor: DIE TAT. DIE ERMITTLUNG. DIE BEWEISE. DIE VERTUSCHUNG.
Sie tippte auf den Unterpunkt DIE VERTUSCHUNG.
Dann las sie die blau geschriebenen Hyperlink-Namen: »Jeffrey Tolliver. Lena Adams. Frank Wallace. Matt Hogan.«
Will suchte wahllos Namen aus. Die dazugehörigen Fotos waren mit Photoshop so bearbeitet, dass sie wie Verbrecherfotos aussahen. Ein rotes Bull’s Eye wie auf den Zielscheiben in einem Schießstand war über jedes Foto gelegt.
Jeffrey Tolliver hatte ein getürktes Einschussloch zwischen den Augen.
Faith hatte die Bilder bereits gesehen, als Will im Laden eingekauft hatte, aber sie fand sie immer noch zutiefst verstörend. Juristisch fielen sie unter freie Meinungsäußerung. Man konnte nicht feststellen, ob Caterino einen Witz machte, sich einer kleinen Fantasie hingab oder Gewalt gegen die Polizei befeuerte.
Als Polizistin brachte Faith nicht den Großmut auf, zu seinen Gunsten anzunehmen, dass es harmlos war.
»Im Internet tun viele Leute Dinge nur, weil sie sie tun können«, sagte Will.
Eine Weile herrschte Schweigen im Wagen. Will betrachtete es von beiden Seiten, aber Faith sah ihm an, dass er genauso beunruhigt war wie sie. Er starrte immer weiter auf das Handy und dachte wahrscheinlich darüber nach, was es in Sara auslösen würde, ein Foto ihres toten Ehemanns mit einem per Photoshop in seinen Kopf montierten Einschussloch zu entdecken.
Schließlich sagte er: »Ich will nicht, dass Sara das sieht, wenn es nicht unbedingt sein muss.«
»Seh ich genauso.«
Er gab ihr das Telefon zurück. »Was ist da noch drauf? Gibt es noch etwas?«
Faith holte tief Luft, bevor sie weitermachte, denn sie würde nie mehr aus dem Haus gehen können, wenn sie zuließ, dass solcher Dreck ihr naheging. »Ich habe das Geschreibsel in den Abschnitten Tat und Beweise überflogen. Der Typ hat eine blumige Sprache. Es gibt eine Menge wilde Vermutungen und Verschwörungstheorien, aber nicht viel, was konkrete Fakten angeht. Sein Fokus liegt hauptsächlich darauf, wie beschissen die Polizei ist und dass sie alle auf den elektrischen Stuhl gehören, weil sie ihre Arbeit nicht machen. Er wirkt wie ein John Grisham für Vorschulkinder.«
»Elektrischer Stuhl?«
»Ja.«
Wieder herrschte Schweigen.
»Was ist er also?«, fragte Will. »Gefolgsmann? Verrückter? Nachahmungstäter? Mörder?«
Er stellte die Fragen, die sie am Morgen in der Gefängniskapelle gewälzt hatten.
»Ich glaube, er ist ein am Boden zerstörter Vater, dessen Tochter brutal überfallen wurde, und er gibt der Polizei die Schuld daran, dass ihre beiden Leben vernichtet wurden. Wenn überhaupt, ist er am ehesten ein die Polizei hassender Don Quijote.«
»Du hast gesagt, er hat diesen Internetkreuzzug vor fünf Jahren begonnen. Beckey wurde vor acht Jahren überfallen. Er hat also drei Jahre gewartet, bis er losgelegt hat. Was hat ihn dazu veranlasst?«
»Mal sehen, ob er es uns verrät.«
Faith legte den Gang ein. Sie hatte die Adresse bereits in das Navigationsgerät eingegeben. Wenigstens waren sie wegen Lena bereits bis zum Bauchnabel des Staats hinuntergefahren. Gerald Caterino wohnte in Milledgeville, rund eine halbe Stunde außerhalb von Macon. Faith hatte unter dem Vorwand, eine Schätzung für einen Auftrag zu brauchen, in seinem Büro angerufen. Man hatte ihr gesagt, dass Caterino heute zu Hause arbeitete. Sie hatte die Grundsteuerliste des Countys aufgerufen und Caterinos Zweihundertvierzigtausend-Dollar-Haus in einem älteren Teil der Stadt lokalisiert.
Will öffnete die Tüte Doritos. »Wir müssen mehr über den Fall von Leslie Truong wissen. Amanda zufolge hat Sara in Alexandra McAllisters Rückenmark die gleiche Art Einstich gefunden wie bei Beckey Caterino. Wie sieht es bei Truong aus?«
»Ich wette, dass Lena ein Diagramm in ihr Notizbuch gezeichnet hat«, sagte Faith. »Dieses verdammte Miststück.«
»Die Information wird sich in den Akten finden.«
Faith hörte zu, wie er kaute.
In den Akten hieß: in Jeffreys Akten. Sara würde sie aus dem Lager holen lassen, eine Information, die Amanda zusammen mit einer langen Aufgabenliste übermittelt hatte, die das Team bis zum Abend abgearbeitet haben sollte. Zum Glück war Emma an diesem Wochenende bei ihrem Vater. Es ging bereits auf drei Uhr nachmittags zu, und Faith war seit drei Uhr morgens wach. Alles, woran sie im Moment denken konnte, war heimzukommen, ihren BH auszuziehen und Geschichten über tödliche Unfälle auf Rolltreppen zu lesen, bis es dunkel genug war, um ins Bett zu gehen.
»Es braucht drei Morde, damit es sich um einen Serienmörder handelt«, sagte Will.
»Es könnten sehr viel mehr werden, wenn es uns gelingt, die Leichen aus den Zeitungsartikeln exhumieren zu lassen.« Faith hoffte bei Gott, dass nicht sie diejenige sein würde, die bei den Familien um die Erlaubnis nachsuchen musste, ihre toten Kinder auszugraben. »Angenommen, Gerald Caterino ist bereit, mit uns zu reden – erzählen wir ihm, dass McAllisters Tod als Mordfall eingestuft wurde?«
»Nur wenn es unbedingt sein muss«, sagte Will. »Wir sollten die Einzelheiten aber größtenteils zurückhalten.«
»Kein Problem für mich.«
Faith konnte noch immer nicht fassen, was Amanda ihnen da erzählt hatte. Eine Frau zu überfallen, zu vergewaltigen, zu ermorden, das war alles schlimm genug. Sie auf eine Weise zu foltern, dass man sie lähmte, damit sie sich nicht wehren konnte – das war eine ganz neue Schreckensebene.
Sie sagte: »Sara hat Messerwunden um den Unterleib und an den Achselhöhlen gefunden. Der Mörder muss etwas über das Verhalten von Tieren wissen, oder? Er hat McAllister aufgeschnitten, damit Blut fließt und die Raubtiere kommen und seine Spuren beseitigen.«
Will schob sich eine Handvoll Chips in den Mund. Er hielt sich von dem Teil der Diskussion fern, der Sara betraf. Oder vielleicht war er noch immer dabei, die grausigen Details der Tat zu verarbeiten, genau wie Faith. Die meisten Mörder wurden nicht gefasst, weil sie am Tatort ein Sandkorn von einer abgelegenen Insel zurückließen, auf der nur sie sich aufgehalten haben konnten, sondern weil sie schlampig und dumm waren.
Ihr Täter war beides nicht.
»Brad Stephens.« Will öffnete die Packung Cheetos. »Er fehlt auf der Liste der Cops in der Rubrik VERTUSCHUNG.«
»Er muss frisch von der Polizeischule gekommen sein, als das passiert ist.« Faith wusste genau, wie das aussah. »Er wird die Mistarbeit gemacht haben, also die Berichte einsammeln, ablegen, an Türen klopfen, mit weniger wichtigen Zeugen reden.«
»Er wird alles gesehen haben.«
Faith warf einen Blick zu ihrem Partner hinüber. Gerade wischte er sich Krümel von der Krawatte. Je mehr sie über den Fall sprachen, desto besser hörte sich Will wieder an. »Weih mich in deine Überlegungen ein«, sagte sie. »Wie ziehst du die Verbindungslinie zwischen Gerald Caterino und Brad Stephens?«
»Mal angenommen, ich bin Gerald Caterino«, sagte Will. »Meine Tochter ist schwer verletzt. Ich muss unmittelbar damit zurechtkommen, ja? Ihre Genesung, Physiotherapie, was auch immer. Und die ganze Zeit denke ich, der Kerl, der ihr das angetan hat, sitzt hinter Gittern. Der Kerl geht zweimal in Berufung und verliert jedes Mal. Drei Jahre vergehen. Ich schlage mich so durchs Leben, aber dann schreibt mir der Typ, den ich für den Schuldigen halte, und teilt mir mit, dass er es nicht war.«
Faith nickte, denn so könnte es sich am ehesten abgespielt haben. »Du würdest dem Kerl nicht glauben.«
»Nein.« Will schüttete sich den Rest der Cheetos in den Mund. Er kaute, schluckte und sagte dann: »Aber ich bin ein Vater. Ich komme nicht davon los. Da ist dieser Kerl, von dem ich zu wissen glaube, dass er meine Tochter überfallen hat, aber er behauptet, es war ein anderer, der noch irgendwo da draußen ist und möglicherweise auch anderen Frauen etwas antut. Was mache ich als Nächstes?«
»Du bist ein weißer Mittelschichtmann, deshalb gehst du davon aus, dass die Polizei dir helfen wird.« Faith gab ihm ihre Cola, damit er sie öffnete. »Vor fünf Jahren war Matt Hogan nicht mehr da. Tolliver auch nicht. Frank Wallace war Interims-Polizeichef. Lena war leitender Detective. Brad war Streifenbeamter.«
Will gab ihr die offene Dose zurück. »Frank wäre keine Hilfe. Lena würde vielleicht versuchen zu helfen, aber nicht auf sinnvolle Weise.«
Faith konnte sich vorstellen, wie Lena die Lage zu beherrschen versuchte und ihr alles wie ein Sprengsatz um die Ohren flog. »Der Zivilprozess hätte Nesbitt keinen Zugang zu den Akten von Truong und Caterino verschafft. Nesbitt war nur der mutmaßliche Täter. Verurteilt aber wurde er wegen der Kinderpornos.«
»Richtig, aber es gibt nur wenige Möglichkeiten, einen Cop persönlich zu verklagen. Exzessive Gewaltanwendung. Eine Verletzung des vierten Zusatzartikels durch unbegründete Durchsuchung und Verhaftung. Diskriminierung und/oder Belästigung«, zählte Will auf. »Du kannst deinen Fall nicht auf einem einzigen Fehlverhalten aufbauen. Du musst ein Muster nachweisen. Auf diese Weise bekommen sie Zugang zu den Truong- und Caterino-Akten. Sie erzählen dem Richter, sie müssen sich frühere Ermittlungen ansehen, um ein Muster feststellen zu können.«
Faith trank von ihrer Cola. Keine schlechte juristische Strategie. »Gerald Caterino muss stinksauer gewesen sein, als Daryl Nesbitt die Klage im Gegenzug für eine mittlere Sicherheitseinstufung fallen ließ.«
»Er blieb dennoch in Kontakt mit ihm«, sagte Will. »Er hat Nesbitt die Artikel ins Gefängnis geschickt.«
»Nur die Artikel«, erinnerte ihn Faith an die Einzelheiten, die Amanda weitergegeben hatte. »Es gab keine Briefe dazu, keine Kurznotizen. Nur die Zeitungsausschnitte und einen Umschlag mit einer Postfachadresse für die Antwort.«
»Die Gefängnisverwaltung hebt Post nur drei Jahre auf. Wir wissen nicht, ob sie vorher korrespondiert haben.«
Faith dachte, dass Gerald Caterino der einzige Mensch war, der dazu Genaueres wusste. Falls er bereit war, mit ihnen zu sprechen. »Du hast noch immer keine Verbindung zu Brad Stephens hergestellt.«
»Ganz einfach. Frank und Lena sind keine Hilfe. Also beginne ich, Gerald Caterino, nach Schwachstellen bei der Polizei von Grant County zu suchen. Nach jemandem, der dabei war, als es passiert ist. Jemand, der nicht darauf ausgerichtet ist, recht zu haben. Brad Stephens ist meine einzige Wahl.«
Faith glaubte es nicht. »Du willst sagen, er hätte sich gegen Jeffrey gewandt?«
»Niemals, aber bei Lena hat er sich wahrscheinlich umdrehen lassen wie ein Pfannkuchen.«
»Ich dachte, Brad und Lena waren Partner?«
»Das waren sie«, sagte Will. »Aber er ist ein übereifriger Polizist, so ähnlich wie der Filmheld Dudley Do-Right.«
Faith verstand, was er damit meinte. Für Brad gab es nur Schwarz oder Weiß, nur falsch oder richtig, was ihn vielleicht zu einem guten Polizisten machte, aber nicht unbedingt zu einem guten Partner. Niemand arbeitete gern mit einer Petze.
»Wir müssen mit Brad reden«, sagte Will.
»Setz ihn auf die Liste hinter sämtliche Detectives, Coroner und nahe Verwandte in allen Fällen aus Nesbitts Artikeln, mit denen wir ebenfalls reden müssen.«
Will kippte sich die Tüte Bugles in den Mund und klaubte die letzten Brösel zusammen. Dann holte er eine Handvoll Fruchtgummis zum Dessert aus seiner Tasche. Faith konnte das nicht mehr mit anschauen.
Das Navi wies sie an, rechts abzubiegen.
Faith fuhr durch ein älteres Wohngebiet. Hohe Hartriegelbäume säumten die Straße. Große Sträucher und Zierbäume füllten die Vorgärten. Es erinnerte Faith an ihre eigene Nachbarschaft in der Stadt, wo Hunderte Split-Level-Häuser im Ranchstil für heimkehrende Veteranen des Zweiten Weltkriegs gebaut worden waren. Ihr Haus war eins der wenigen, das nicht zu einer Art Fast-Food-Einfamilienhaus zusammengeschustert worden war. Faiths Staatsdienergehalt reichte gerade mal, um einen kaputten Wasserkocher zu ersetzen. Hätte ihre Großmutter ihr das Haus nicht vererbt, sie wäre gezwungen gewesen, bei ihrer Mutter zu wohnen. Was keine der beiden lebend überstanden hätte.
Sie fuhr langsam, damit sie die Hausnummern auf den Briefkästen lesen konnten. »Wir suchen nach 8472.«
»Da.« Will zeigte auf die andere Straßenseite.
Gerald Caterino wohnte in einem recht bescheidenen zweistöckigen Ziegelhaus im Kolonialstil. Der ordentlich geschnittene Rasen im Garten war noch nicht in Winterruhe übergegangen. Blumen, deren Namen Faith nicht kannte, ergossen sich aus Terrakottatöpfen. Steinplatten säumten die geschotterte Einfahrt. Sie hielt vor einem geschlossenen schmiedeeisernen Tor. Auf der anderen Seite spielte ein Junge mit einem Basketball im Hof. Er schien etwa acht oder neun Jahre alt zu sein. Faith erinnerte sich an Caterinos Lebenslauf auf der Homepage. Das musste der Sohn sein, dem er gern vorlas.
»Da oben.« Will nickte zu einer Überwachungskamera.
Faith suchte die Hausfront ab. Zwei Kameras sicherten die ganze Breite des Hauses ab.
»Nichts, was man bei Amazon bekommt«, meinte Will.
Faith gab ihm recht. Die Kameras sahen professionell aus, wie man sie beispielsweise in einer Bank finden würde.
Das Tor bekam damit eine andere Bedeutung. Faith hatte ihr ganzes Leben lang in Atlanta gelebt und hatte das Tor zu Caterinos Grundstück als x-beliebiges Tor angesehen. Jetzt aber rief sie sich in Erinnerung, dass sie hier in Milledgeville waren, wo die Zahl der jährlichen Morde gleich null war und bei allen anderen Häusern in dieser idyllischen, von Bäumen gesäumten Straße wahrscheinlich nicht einmal die Haustür versperrt wurde.
»Seine Tochter wurde vor acht Jahren brutal überfallen«, gab Faith zu bedenken.
»Er gibt uns die Schuld an dem, was danach passiert ist.«
»Nicht uns persönlich. Er gibt Grant County die Schuld.«
Will antwortete nicht, aber das war auch nicht nötig. Aus Caterinos Internetaktivitäten ging klar hervor, dass er den Unterschied nicht sah.
Faith gab sich genau zwei Sekunden, um über das Einschussloch zwischen Jeffrey Tollivers Augen auf dem bearbeiteten Foto nachzudenken.
»Bereit?«, fragte sie.
Will stieg aus dem Wagen.
Faith angelte ihre Handtasche vom Rücksitz und ging zu Will ans Tor. Er hatte die Ellbogen darauf abgestützt und sah zu, wie der Junge den Ball in Richtung Korb wuchtete. Er verfehlte ihn meilenweit, sah Will aber trotzdem Beifall heischend an.
»Wow, das war echt knapp.« Will machte ihr unauffällig ein Zeichen, zur Rückseite des Hauses zu schauen. »Kannst du das noch mal machen?«
Der Junge jagte fröhlich dem davonspringenden Ball nach.
Faith musste sich auf Zehenspitzen stellen, um zum Haus zu sehen. Auf einer vergitterten Veranda saß im Schatten ein Mann am Tisch. Er beugte sich ins Sonnenlicht vor. Das schüttere dunkle Haar war von grauen Strähnen durchsetzt, der Bürstenschnauzer gepflegt, die Drahtgestellbrille in die Stirn geschoben.
»Was wollen Sie?« Bei Gerald Caterinos wütendem Ton stellten sich Faiths Nackenhaare auf.
»Mr. Caterino.« Sie hatte bereits ihren Ausweis gezückt und hielt ihn über das Tor. »Ich bin Special Agent Mitchell. Das ist Special Agent Trent. Wir sind vom Georgia Bureau of Investigation und würden gerne mit Ihnen sprechen.«
Er blieb am Tisch sitzen und sagte zu dem Jungen: »Heath, geh und sieh nach deiner Schwester.«
Heath ließ den Basketball davonhüpfen und sauste ins Haus.
Faith hörte ein Klicken, dann ging das Tor langsam auf.
Sie zwang sich, zuerst zu gehen, quer über die Einfahrt, ungeschützt, was immer kommen mochte. Der Garten war so riesig wie gut gesichert. Sie sah einen zwei Meter hohen Maschendrahtzaun, der um das Grundstück verlief. Unter den Dachbalken waren weitere Kameras angebracht. Ein schmiedeeiserner Zaun, der zum Tor passte, umgab einen schönen Swimmingpool. Ein Hebestuhl war auf die Steinterrasse montiert. Auf die vergitterte Veranda gelangte man über eine Rampe statt über Stufen. Ein großer Transporter mit Rollstuhlrampe stand neben einem Pick-up mit Gartenwerkzeug in der Garage.
Die Tür der Veranda war ebenfalls aus Schmiedeeisen, was zum Rest passte. Seltsam, da das Gitter mühelos aufgeschnitten werden konnte, aber Faith war nicht hier, um eine Sicherheitsüberprüfung durchzuführen. Heath hatte die Tür nicht ganz geschlossen, aber um nichts in der Welt würde sie einen Fuß auf diese Veranda setzen, ohne eingeladen worden zu sein.
Die Sicherheitskameras. Das Tor. Der hohe Zaun. Die Zielscheiben auf den Grant-County-Fotos im Internet. Das aufgemalte Einschussloch in Jeffrey Tollivers Stirn.
Rebecca Caterino war vor fast einem Jahrzehnt überfallen worden. Das war eine lange Zeit, um permanent in Alarmbereitschaft zu sein. Faith hatte gesehen, was Trauer und Schmerz in einer Familie anrichten konnten, vor allem bei Vätern. Trotz der Sicherheitsvorkehrungen war Gerald nicht aufgestanden, um ihre Ausweise zu inspizieren, ehe er das Tor geöffnet hatte. Der Internetauftritt des Mannes war voller Anti-Polizei-Propaganda; sie fragte sich, ob er nicht aufstand, weil eine Waffe mit Klebeband unter dem Tisch befestigt war. Dann fragte sie sich, ob sie schon paranoid war. Und dann rief sie sich ins Bewusstsein, dass Paranoia der Grund dafür war, warum sie jeden Abend wohlbehalten zu ihrem kleinen Mädchen nach Hause kam.
Faith wurde klar, dass sie bereits in einer Sackgasse steckten. »Mr. Caterino, ich brauche von Ihnen die ausdrückliche Erlaubnis, Ihr Haus zu betreten.«
Die kräftigen Arme waren vor der Brust verschränkt. Er nickte knapp. »Gewährt.«
Will langte an ihr vorbei, um die Tür zu öffnen. Faith hielt ihre Handtasche an den Körper gepresst. Das ungute Gefühl war zu einem Tsunami aus Warnsignalen angeschwollen. Alles an Gerald Caterino wirkte aufgeladen, wie kurz vor einer Explosion. Er saß auf der Stuhlkante. Seine Arme waren noch immer verschränkt. Sein Laptop war zugeklappt, daneben lag ein Stapel Stempelkarten. Er trug schwarze Cargoshorts und ein schwarzes Polohemd, in dessen V-Ausschnitt leuchtend weiße Haut zu sehen war. Er hatte die gleiche Bräune wie ein Landschaftsgärtner, der Abdruck endete an seinem Arbeitshemd.
Faith sah sich um. Es gab eine weitere Kamera in halbrunder Form, die neben der Küchentür an die Decke montiert war. Die Veranda war lang und schmal. Zu dem Tisch, an dem Caterino saß, gehörten drei Stühle und eine Aussparung für einen Rollstuhl.
Faith streckte ihm ihren Ausweis entgegen. Mehrere Sekunden vergingen, ehe er ihn nahm. Er setzte seine Brille auf, studierte den Ausweis, verglich das Foto mit Faiths Gesicht. Will gab ihm seine Brieftasche, die ebenso gründlich überprüft wurde.
»Warum sind Sie hier?«, fragte Caterino.
Faith trat von einem Fuß auf den andern. Er hatte sie nicht aufgefordert, Platz zu nehmen. »Daryl Nesbitt.«
Caterino schien noch angespannter als zuvor. Statt damit herauszurücken, dass er Nesbitt seit fünf Jahren Zeitungsartikel schickte, schaute er in den Garten hinaus. Sonnenlicht verwandelte die Oberfläche des Pools in einen Spiegel. »Was will er diesmal herausschlagen?«
»Letzten Endes glauben wir, dass er in eine weniger sichere Einrichtung verlegt werden will.«
Caterino nickte, als ergäbe es Sinn. Und wahrscheinlich tat es das auch. Bei Nesbitts letztem Deal war er aus dem Hochsicherheitsknast gekommen. Die Maßnahme hatte Caterino wahrscheinlich um die Hunderttausend an Anwaltshonoraren gekostet.
»Mr. Cateri…«, begann Faith.
»Meine Tochter wurde eine halbe Stunde lang in diesem Wald liegen gelassen, bis jemand bemerkte, dass sie noch lebt.« Er sah Faith an, dann Will. »Wissen Sie, was diese dreißig Minuten für ihre Genesung, für ihr Leben bedeutet hätten?«
Faith glaubte nicht, dass sich diese Frage je beantworten ließ, aber es war eindeutig etwas, woran er sich festhielt.
»Dreißig Minuten«, wiederholte Caterino. »Mein kleines Mädchen war gelähmt, traumatisiert, unfähig, zu sprechen oder auch nur zu blinzeln, und nicht einer dieser dreckigen Scheißpolizisten kam auf die Idee, nachzuprüfen, ob sie noch lebte, ihr Gesicht zu berühren oder ihre Hand zu nehmen. Wenn diese Kinderärztin nicht gerade vorbeigekommen wäre …«
Faith bemühte sich um einen neutralen Ton als Kontrast zu der Bitterkeit in seiner Stimme. »Was hat Ihnen Brad Stephens noch über diesen Tag erzählt?«
Caterino schüttelte den Kopf. »Die nutzlose Flasche hat getan, was sie alle tun. In dem Moment, wo du einen Cop um eine offizielle Aussage bittest, macht er dicht. Diese dünne blaue Linie ist wie eine Schlinge um meinen Hals.«
»Mr. Caterino, wir sind hier, um die Wahrheit herauszufinden«, sagte Faith. »Die einzige Linie, die uns interessiert, ist die zwischen Recht und Unrecht.«
»Blödsinn. Ihr Schleimscheißer deckt euch immer gegenseitig.«
Faith dachte daran, wie Nick Nesbitt gepackt und ihn an die Wand geschleudert hatte.
»Nutzlose Scheißkerle«, zischte Caterino. »Ich hätte Sie beide gar nicht hereinlassen sollen. Ich kenne meine Rechte. Ich muss nicht mit Ihnen sprechen.«
Faith versuchte, ihn abzulenken, indem sie die Elternkarte ausspielte. »Ich habe ebenfalls einen Sohn. Wie alt ist Heath?«
»Sechs.« Caterino richtete seinen Laptop auf dem Tisch gerade aus. »Meine Ex-Freundin, seine Mutter, kam nicht damit klar, als Beckey verletzt wurde. Wir haben uns später nicht im Guten getrennt. Ich war damals sehr wütend.«
Faith fand, dass er im Moment ebenfalls sehr wütend war. »Tut mir leid, das zu hören.«
»Es tut Ihnen leid?«, wiederholte er. »Was zum Teufel tut Ihnen leid?«
Faith wusste, dass sie nicht verantwortlich war, aber sie fühlte sich so. Auf der Gerechtigkeit-für-Rebecca-Website gab es Dutzende von Fotos, die Beckey vor und nach dem Überfall zeigten. Sie war eine schöne junge Frau gewesen, die infolge dieses Tages im Wald nun ihr ganzes Leben lang schwer geschädigt war. Lähmung von der Hüfte abwärts. Sprachbehinderung. Beeinträchtigtes Sehvermögen. Traumatische Hirnverletzung. Den Ausführungen auf der Facebook-Seite zufolge war sie durch den Überfall in einem Ausmaß geistig behindert, dass sie rund um die Uhr betreut werden musste.
Diese dreißig Minuten im Wald waren wahrscheinlich die letzte Phase in Rebecca Caterinos Leben gewesen, in der sie ganz allein gewesen war.
Gerald Caterino schob die Brille wieder nach oben auf den Kopf und schaute auf den Pool hinaus. Er musste sich räuspern, ehe er wieder sprechen konnte.
»Vor zwölf Jahren war ich fest überzeugt, dass der Verlust meiner Frau das Schlimmste war, was mir je passieren konnte. Vor acht Jahren ging meine Tochter aufs College und kam zurück wie …« Er sprach nicht zu Ende. »Wissen Sie, was schlimmer ist als diese beiden Schicksalsschläge, Special Agent Faith Mitchell?«
Faith sah ihm an, dass es ein Spiel war, das er nicht zum ersten Mal spielte. Man konnte nicht raten, was schlimmer war, als jemanden zu verlieren, den man liebte. Man konnte nur beten, dass es einem nie widerfuhr.
»Wie steht es mit Ihnen, Special Agent Will Trent? Was ist schlimmer? Was ist das Schlimmste, was Sie beide mir im Moment antun könnten?«
Will zögerte keine Sekunde. »Wir könnten Ihnen Hoffnung machen.«
Caterino wirkte wie vom Donner gerührt. Seine Augen füllten sich mit Tränen. Er nickte einmal und blickte wieder zum Pool.
Will sagte: »Es tut mir leid, Mr. Caterino. Wir sind nicht hier, um Ihnen Hoffnung zu machen.«
Sein Adamsapfel ruckte wieder krampfhaft, und Faith wurde klar, dass das, was sie für Wut gehalten hatte, in Wahrheit vielleicht Gerald Caterinos Art war, mit seiner Angst fertigzuwerden. Er hatte jahrelang versucht, das Verbrechen an seiner Tochter zu rächen. Er hatte schreckliche Angst, dass er weitere fünf, zehn, vielleicht sogar dreißig Jahre damit zubringen würde, ohne dass er einen Schlussstrich ziehen konnte.
»Können Sie uns sagen, warum Sie Daryl Nesbitt diese Artikel geschickt haben?«, fragte Will.
Caterino schüttelte den Kopf. »Dieses hinterlistige Stück Scheiße ist so verlogen. Er hätte zur Polizei gehen sollen.«
»Warum gerade diese Artikel?«, beharrte Will.
Caterino sah zu ihm hoch. »Welche Rolle spielt das?«
»Deshalb sind wir hier, Mr. Caterino«, sagte Will. »Wir untersuchen die Todesfälle aus den Zeitungsartikeln.«
»Untersuchen?« Er lachte ungläubig. »Wissen Sie, wie viel Geld ich für Privatdetektive vergeudet habe? Für Flugtickets, Zugfahrkarten, Hotelzimmer für die Gespräche mit anderen Eltern? Kriminalpsychologen, Polizeibeamte im Ruhestand und sogar einen verdammten Hellseher, und das alles nur, weil ihr eigennützigen, stinkfaulen Scheißkerle eure Arbeit nicht richtig macht.«
Faith wollte ihm kein Einfallstor für eine weitere Tirade gegen die Polizei bieten. »Sie wissen sicher, dass Alexandra McAllisters Leiche gestern Morgen im Wald gefunden wurde.«
Er hob resigniert eine Schulter. »In den Nachrichten hieß es, es war ein Unfall.«
Faith wartete auf Wills lautloses Okay, ehe sie sagte: »Wir haben diese Information noch nicht publik gemacht, aber McAllisters Tod wurde als Mordfall eingestuft.«
Verwirrt legte Caterino die Stirn in Falten. Er war es nicht gewöhnt, zu hören, was er hören wollte. »Wieso?«
»Der Leichenbeschauer hat eine Punktion in ihrem Nacken gefunden.«
Caterino stand langsam auf und öffnete den Mund, aber es kamen keine Worte. Er wirkte benommen, ungläubig, verwirrt.
»Mr. Caterino?«, sagte Faith.
»War es …« Er legte die Hand vor den Mund. Schweißperlen standen auf seiner Stirn. »War die Punktion bei C5?«
»Ja«, sagte Will.
Ohne ein weiteres Wort rannte Caterino ins Haus.
Faith sah ihn einen langen Flur entlanglaufen und am Ende rechts abbiegen.
Dann war er verschwunden.
»Hm«, machte Will.
Faith ging die Unterhaltung noch mal im Kopf durch. »Er hat uns gewarnt, ihm keine Hoffnung zu machen.«
»Und wir haben ihm Hoffnung gemacht.«
Ein Schauder lief ihr über den Rücken. Sie sagte sich, dass Caterino dringend auf die Toilette gemusst hatte. Dann sagte sie sich, dass er eine Waffe holen ging. Die wüsten Beschimpfungen und die manipulierten Fotos auf der Internetseite machten ihr immer noch zu schaffen. Viele Leute sprachen davon, Polizisten umzubringen. Es gab sogar Songs darüber. Nur sehr wenige waren bereit, der Drohung Taten folgen zu lassen. Der Unterschied zwischen beiden Gruppen ließ sich leicht erkennen. Die erste tat nichts. Die zweite richtete eine Waffe auf deinen Kopf und drückte ab.
Faith sah Will an, um sich nicht weiter verrückt zu machen.
»Mord oder Selbstmord?«, fragte er.
Also doch verrückt machen. »Heath ist im Haus. Beckey wahrscheinlich auch.«
»Ich bin bei dir.«
Faith ging ins Haus. Die Küche war hell erleuchtet und wirkte irgendwie vertraut. Sie sah Kindersicherungen an allen Schubläden und Schränken. Die Steckdosen waren abgedeckt, die scharfen Kanten mit Schaumstoff gepolstert. Mit sechs war Heath zu alt für solche Schutzmaßnahmen. Sie mussten für Caterinos siebenundzwanzigjährige Tochter Beckey angebracht worden sein.
Faith schaute sich nach Will um. Er betrachtete eine Überwachungskamera zwischen Stapeln von Kochbüchern auf einem Regal, dann stellte er sich auf die Zehenspitzen, um die Oberseiten der Schränke zu inspizieren. Er machte mit Daumen und Zeigefinger die Geste für eine Pistole.
»Hallo zusammen.« Eine Frau in einer Schwesterntracht kam in die Küche. Eine leere Schnabeltasse baumelte an ihrer Hand. »Besuchen Sie Gerald? Der Wahnsinnige ist gerade die Treppe hinaufgestürmt.«
Faith merkte, wie ihre Anspannung ein klein wenig nachließ. Eine weitere Person. Eine Zeugin. Sie stellte sich und Will angemessen vor, zeigte ihren Ausweis. Die Frau schien weder verwundert noch beunruhigt zu sein, weil sie zwei Special Agents in der Küche vorfand.
»Ich bin Lashanda.« Sie spülte die Tasse aus. »Ich kümmere mich tagsüber um Beckey.«
Faith dachte, sie sollte die Gelegenheit nutzen. »Wie geht es ihr?«
»Heute ist ein guter Tag.« Lashanda lächelte strahlend. »Sie kämpft mit Depressionen. Das kommt von der Hirnverletzung. Manchmal macht sie Theater. Aber heute ist alles gut.«
Heath kam in den Raum gehüpft, ehe Faith fragen konnte, wie ein schlechter Tag aussah. Er grinste wie ein Honigkuchenpferd.
»Hier!« Er zeigte Will eine Zeichnung, die einen sehr beeindruckenden Tyrannosaurus darstellte; wirklich erstaunlich für einen Sechsjährigen.
Will betrachtete das Kunstwerk. »Das ist ja unglaublich, Kumpel. Hast du das ganz allein gemacht?«
Heath wurde plötzlich schüchtern und versteckte sich hinter Lashandas Bein.
»Er ist zum Anbeißen«, sagte Faith und fragte Lashanda: »Wie alt ist er?«
»Sechs, in zwei Monaten wird er sieben. Das Lämmchen ist ein Christkind.«
»Du bist aber ein großer Junge für deine sechs Jahre.« Faith beugte sich zu Heath hinunter. »Ich wette, du kannst schon rechnen. Wie viel ist zwei und zwei?«
»Vier!« Heath grinste wieder. Einer seiner Schneidezähne wuchs schief.
»Mit welcher Hand schreibst du?«, fragte sie.
»Rechts!« Er streckte die rechte Hand hoch.
»Hast du dir die Schuhe heute selbst gebunden?«
»Ja!« Er warf beide Arme in die Höhe wie Superman. »Und ich habe mein Bett gemacht und mir die Zähne geputzt, sogar den lockeren, und ich …«
»Lass gut sein, mein Kleiner, sie wollen nicht deinen ganzen Tagesablauf hören.« Lashanda zerzauste ihm das Haar. »Wollen Sie nicht ins Wohnzimmer kommen? Keine Ahnung, wie lange Gerald weg sein wird.«
Faith folgte ihr nur zu gern. Ihr war noch immer sehr unbehaglich zumute wegen Caterinos plötzlichem Verschwinden. Ohne den geistesgestörten Internetauftritt hätte sie ihn vielleicht als sonderbar bezeichnet.
»Hier entlang.« Lashanda führte sie durch den langen Flur. Sie kamen an einem Esszimmer vorbei. Schulbücher waren auf dem Tisch ausgebreitet.
»Hausaufgaben?«, fragte Faith.
»Heath wird zu Hause unterrichtet. Seine Lehrerin ist gerade gegangen.«
Faith wusste, es gab durchaus gute, berechtigte Gründe, ein Kind zu Hause zu unterrichten, aber in ihrer Berufslaufbahn hatte sie immer nur mit Spinnern zu tun gehabt, die ihre Kinder nicht in öffentliche Schulen schicken wollten, weil sie befürchteten, sie könnten dort zweifelhafte Dinge lernen. Zum Beispiel, dass Inzest falsch und Sklaverei böse war.
Es gab keine riesigen Hakenkreuze an der Wand, sondern gerahmte Drucke und Fotos von Beckey in verschiedenen Phasen ihres Lebens. Faith erkannte die üblichen Schulfotos mit Bücherstapeln und Globussen. Beckey war eine Läuferin gewesen. Auf einem Bild stand sie in einer Gruppe von Mädchen in Leichtathletik-Outfits. Auf einem anderen rannte sie gerade in das Band über der Ziellinie.
Die Fotoserie endete abrupt nach der Highschool. Faith fiel auf, dass es keine Fotos von Heath gab, nicht einmal einen Schnappschuss. Gerald erwähnte ihn zwar auf seiner Website, aber auch dort gab es kein Foto von ihm.
Faith sah nach oben, als sie das Wohnzimmer betraten. Die Decke war mindestens sechs Meter hoch. Eine Galerie ragte aus dem Loft im zweiten Stock. Ein nachträglich eingebauter Aufzug gewährte Zugang zu beiden Ebenen.
Faith sah wieder auf ihre Uhr. Gerald Caterino war seit vier Minuten verschwunden. Sie wandte sich zu Will, um seinen Blick aufzufangen. Er sah zu dem Loft hinauf und beurteilte die Lage ganz offensichtlich in taktischer Hinsicht. Faith war froh, dass nicht sie allein misstrauisch war.
»Miss Beckey«, sagte Lashanda. »Schauen Sie, Ihr Daddy hat Besuch.«
Beckey Caterinos Rollstuhl stand vor einer breiten Fensterfront, die zum Garten hinausging. Es gab Blumen, Tierfiguren aus Stein und einen Brunnen, der offenbar dazu da war, ihr Freude zu bereiten. Faith sah einen Kolibri mit rubinroter Kehle am Futterspender.
»Beckey?«, wiederholte Lashanda.
Das Mädchen wendete ihren Rollstuhl mit den Händen. Sie hatte eine Haarbürste im Schoß liegen. Ihr Hauskleid war rosa, ihre pastellblauen Socken waren mit rosa Häschen bedruckt.
»Gu-ten Tag.« Beckey lächelte mit einer Hälfte ihres Mundes. Ein Auge war auf Faith fokussiert. Das andere wirkte ausdruckslos. Faith erkannte die Gesichtslähmung von ihrer Großmutter wieder, die vor ihrem Tod eine Reihe von Schlaganfällen erlitten hatte. Diese junge Frau war dafür etliche Jahrzehnte zu jung.
»Lassen Sie mich das rasch erledigen.« Lashanda wischte mit einem Papiertuch über Beckeys Mund. Faith bemerkte eine verblasste T-förmige Narbe, die quer über ihre Kehle und zum Brustbein hinunter verlief. »Das sind Ms. Mitchell und Mr. Trent.«
»Freut mich, Sie …« Beckey schluckte, bevor sie den Rest des Satzes hervorstieß, »… kennenzulernen.«
»Ganz meinerseits, Beckey.« Faith bemühte sich um einen normalen Tonfall, denn sie war versucht, mit dieser erwachsenen Frau wie mit einem Kind zu sprechen. Sie hatte etwas so Unschuldiges an sich. Beckey war sehr dünn. Sie hielt die Haarbürste unbeholfen mit zwei Händen. Offenbar hatte sie gerade geduscht, ihr Haar war feucht, ihre Kleidung sah frisch aus.
Heath kletterte auf den Schoß seiner Schwester und legte den Kopf an ihre Brust. Faith erinnerte sich daran, wie süß Jeremy in diesem Alter gewesen war.
»Hier.« Beckey streckte Lashanda die Bürste entgegen. »Zopf.«
»Mein liebes Kind, Sie wissen, das kann ich nicht.« Lashanda wandte sich an Faith. »Sie will die Haare wie Elsa aus dem Film Die Eiskönigin geflochten haben. Ich habe mir ein Video auf YouTube angesehen, aber es hat nicht gut funktioniert mit dem Zopf.«
Will räusperte sich. »Ich kann es machen, wenn Sie wollen.«
Beckey lächelte und hielt ihm nun die Bürste hin.
»Darf ich den Stuhl umdrehen?«
Sie nickte und lächelte noch strahlender.
Will drehte Beckey so herum, dass sie in den Raum blickte. Rein zufällig hatte er dadurch auch eine bessere Sicht auf die Galerie. Er bürstete vorsichtig ihr langes Haar aus. Heath sah zu, deshalb erklärte er: »Man fängt mit drei abgetrennten Strähnen an.«
Im Handumdrehen war Will mit dem Zopf fertig. Faith kam in den Sinn, dass Sara ihr Haar am Wochenende immer so trug. Es gab eine alternative Version von Faith, die vielleicht bei Will gelandet wäre, wenn sie sich nicht ständig zu nichtsnutzigen, fruchtbaren Vollidioten hingezogen fühlte. Jetzt konnte sie bestenfalls noch auf einen Mann hoffen, der nicht vergaß, genug Wasser zu trinken.
»Warten Sie«, sagte Lashanda, »ich hole etwas, womit man ihn zusammenbinden kann.«
Will hielt das Zopfende fest, während sie in einer Schreibtischschublade suchte. Er zwinkerte Heath zu.
»Hier herauf.« Geralds Kopf tauchte über der Galerie auf. »Ich bin bereit für Sie. Aber kommen Sie allein.«
Damit verschwand er wieder.
Will gab Lashanda das Zopfende in die Hand. Seinen fragenden Blick beantwortete sie mit einem Achselzucken.
»So ist Gerald eben«, sagte sie. »Er macht alles auf seine eigene Art.«
Will wollte, dass Faith die Treppe hinter ihm hinaufging. Als sie oben angekommen waren, rückte er sein Jackett zurecht. Er trug seine Glock in einem Seitenhalfter. Da Faith angenommen hatte, sie würde sich den ganzen Tag in einem Gefängnis aufhalten, hatte sie ihren Revolver in ein Stoffsäckchen von Crown-Royal-Whiskey gepackt und in ihre Handtasche gesteckt. Um wirklich auf alles vorbereitet zu sein, öffnete sie den Reißverschluss der Handtasche und achtete darauf, dass auch das Zugband des Stoffsäckchens gelockert war.
Sie fühlte sich an ihre Zeit als Streifenpolizistin erinnert. Strafzettel. Diebstahl. Häusliche Gewalt. Alles war Routine gewesen, bis es plötzlich keine mehr war, denn Menschen waren eben Menschen, und man wusste nie, was sie dachten, bis sie es einem zeigten.
Will hatte eine weitere Kamera am oberen Ende der Treppe entdeckt. Faiths Paranoia fuhr sofort wieder hoch. Gerald beobachtete vielleicht, wie sie kamen. Er hasste Cops. Er hegte tiefen Groll. Und er hatte sich bisher als unberechenbar erwiesen.
Sie bogen links in den Flur. Will blieb stehen, ging in die Hocke und hob einen rosa Fussel auf. Isoliermaterial. Die Zugtreppe zum Dachboden war vor Kurzem heruntergelassen worden.
Er sagte zu Faith: »Das gefällt mir alles nicht.«
Faith gefiel es ebenfalls nicht. »Mr. Caterino?«, rief sie.
»Im Schlafzimmer«, antwortete Gerald. »Kommen Sie unbedingt allein.«
Seine Stimme klang von der anderen Seite des Lofts zu ihnen, vom Ende eines gefühlt zweihundert Meter langen Flurs.
Er war zweimal weggerannt. Er hatte eine Waffe im unteren Wohnbereich. Er hatte wahrscheinlich auch oben eine. Er war vor Kurzem auf dem Dachboden gewesen. Und er drängte sie ständig, allein zu kommen.
Faith folgte Will in Richtung des Schlafzimmers. Bei jeder Tür, an der sie vorbeikamen, rissen beide den Kopf herum. Bad. Wäscheraum. Heath hatte seine Wände mit Dinosauriern und Figuren aus Toy Story geschmückt. Beckeys Zimmer war voller medizinischer Ausrüstung, es gab ein Krankenhausbett und eine Hebevorrichtung. Das Gästezimmer gegenüber musste für die Nachtschwester sein. Faith fragte sich, wie viel Geld das alles kostete. Beckey galt sicher als schwerbehindert und war zu entsprechenden Leistungen berechtigt, aber das war irgendwie so, als würde man sagen, ein offener Pneumothorax berechtigte zu einem Heftpflaster.
Sie hatten das Loft erreicht. Spielzeug lag um einen Fernseher herum verstreut. Faith erkannte die Spielekonsole als eine neuere Version von der, sie sie selbst zu Hause hatte. Um zum letzten Teil des Flurs zu gelangen, mussten sie über einen Kabeltunnel steigen, der etwa die Größe einer Bodenschwelle auf einer Straße hatte. Doch er enthielt keine Kabel – die Barriere sollte Beckeys Rollstuhl aufhalten.
»Scheiße«, murmelte Will.
Faith sah an ihm vorbei ins Schlafzimmer. Dort brannte kein Licht. Vor dem Fenster waren würfelförmige Regalelemente aufeinandergestellt, die nach Ikea aussahen und gefaltete Kleidung enthielten. Streifen von Sonnenlicht drangen zwischen den Fächern hindurch.
Will machte sechs lange Schritte und betrat das Zimmer. Faith blieb im Flur. Sie sah, wie er sich mit dem Handrücken über den Mund wischte. Das Olaf-der-Schneemann-Pflaster klappte zurück; er hatte den Klebstoff durchgeschwitzt. »Mr. Caterino, ist das eine Waffe neben ihrem Bett?«
Gerald sagte: »Ach so, ja, ich …«
»Ich hole sie.« Will verschwand aus dem Blickfeld.
Faiths Revolver lag in ihrer Hand und war schussbereit. Sie wollte eben in den Raum schwenken, als Will wieder im Eingang auftauchte.
Er hatte eine Browning Hi-Power 9mm in den Händen. Faith war in Waffen nicht so bewandert wie Will, aber sie wusste, die Pistole hatte einen vertrackten Magazinauswurf. Entweder Gerald Caterino kannte sich gut aus mit Feuerwaffen, oder jemand hatte ihm mehr Waffe verkauft, als er brauchte.
Will ließ das Magazin herausfallen und schaltete dann das Deckenlicht ein.
Faith steckte ihren Revolver wieder in die Handtasche, ließ aber die Hand drin. Sie suchte den Raum mit den Blicken ab, sobald sie die Türschwelle überschritt. Fenster gesichert. Eingang gesichert. Hände gesichert. Hier schlief Gerald offensichtlich. Es gab keinerlei Wandschmuck, nur ein ungemachtes Doppelbett, einen Fernseher an der Wand, das Ikea-Würfel-Regal, ein angeschlossenes Badezimmer mit offener Tür. Eine weitere Tür, vermutlich zur Ankleide, war geschlossen. Der Schlüssel steckte im Schloss.
»Schließen Sie die Tür«, sagte Gerald zu Faith.
Faith stieß die Tür nicht ganz zu.
»Ich rede nicht gern vor Heath über das hier«, sagte Gerald. »Und ich weiß nicht, was Beckey weiß oder was sie behalten kann. Sie erinnert sich nicht an den Überfall, aber ich habe Angst, sie könnte Dinge hören. Oder das hier sehen.«
Er drehte den Schlüssel um und stieß die Tür auf.
Faith fiel die Kinnlade herunter.
Die Wände des begehbaren Schranks waren bedeckt mit Zeitungsartikeln, ausgedruckten Internetseiten, Fotos, Diagrammen, Notizen. Farbige Reißnägel hielten alles an Ort und Stelle. Rote, blaue, grüne und gelbe Fäden verbanden verschiedene Dokumente. Auf der Rückseite waren Aktenkisten vom Boden bis zur Decke gestapelt. Er hatte seinen Schrank in eine Einsatzzentrale verwandelt, und er hatte Angst, dass seine Kinder es herausfanden.
Das Leiden dieses Vaters brach Faith das Herz. Jedes einzelne Blatt Papier, jeder Reißnagel, jeder Faden war ein Symbol für seine Qualen.
»Ich bewahre den Schlüssel für den Schrank im Dachboden auf«, sagte Gerald. »Heath spielt gern mit meinem Schlüsselring. Einmal wäre er fast hier hereingekommen. Ich vertraue Lashanda, aber sie könnte abgelenkt sein. Wenn Heath das je zu sehen bekäme … Ich will nicht, dass er es erfährt. Erst wenn er dazu bereit ist. Bitte lassen Sie es mich Ihnen zeigen.«
Faith schloss die Schlafzimmertür und sperrte sie ab. Sie holte ihr Smartphone hervor, als sie Will in den begehbaren Schrank folgte, und aktivierte die Videofunktion. Für das Protokoll fragte sie: »Mr. Caterino, ist es in Ordnung, wenn ich das mit meinem Handy dokumentiere?«
»Ja, sicher.« Gerald begann, mit dem Finger herumzuzeigen, erst auf die Fotos. »Die habe ich am ersten Tag gemacht, als Beckey im Krankenhaus war, etwa zwölf Stunden nach dem Überfall. Diese Aufnahme hier ist von dem Luftröhrenschnitt. Hier wurde ihr Brustbein gebrochen, um ihr das Leben zu retten.« Sein Zeigefinger wanderte nach unten. »Das sind ihre Röntgenaufnahmen. Auf der hier sieht man deutlich den Schädelbruch. Sehen Sie sich die Form an.«
Faith zoomte auf das Röntgenbild, das neben einem älter aussehenden Tatortfoto hing. »Haben Sie von Brad Stephens Kopien der Fallakten Ihrer Tochter bekommen?«
Gerald machte den Mund auf, dann schloss er ihn wieder. »Ich habe sie. Das ist alles, was zählt.«
Faith ließ es dabei bewenden. Er hatte ihr zumindest Zeit erspart. Sie zoomte auf die Zeugenaussagen, die Ermittlungsnotizen, die Berichte des Leichenbeschauers, das Wiederbelebungsprotokoll, Diagramme des Tatorts.
Will hatte die Hände in den Taschen. Er betrachtete das Foto einer jungen Frau, die an der Golden Gate Bridge stand. »Ist das Leslie Truong?«, fragte er.
»Man hat mir den Zugang zu ihren Akten verweigert, da es theoretisch noch ein ungeklärter Fall ist«, sagte Gerald. »Ihre Mutter Bonita hat mir dieses Bild gegeben. Wir haben in der Zeit damals häufig miteinander gesprochen. Jetzt nicht mehr so oft. Ab einem bestimmten Punkt frisst es dich einfach auf, verstehen Sie? Dein Leben wird …«
Er musste den Gedanken nicht zu Ende führen. Die Wände erzählten die Geschichte seines Lebens nach dem Überfall auf Beckey.
Faith drehte sich um und filmte systematisch die Wand hinter ihr ab. Gerald hatte Seiten um Seiten aus dem Internet ausgedruckt. Sie sah Facebook-Posts, Tweets, E-Mails. Sie zoomte näher, um die Absender zu erfassen. Die meisten E-Mails waren von dmasterson@Love2CMurder.
Sie fragte Gerald: »Hatten Sie Zugang zu den Fallakten aus den Zeitungsartikeln?«
»Ich habe Anträge nach dem Freedom of Information Act gestellt, aber in den Akten war nichts, kaum mehr als ein paar Seiten zu jeder Frau.« Er zeigte auf den entsprechenden Wandabschnitt. »Alle waren als Unfälle eingestuft, so wie es bei Beckey der Fall gewesen wäre, wenn sie nicht überlebt hätte. Nicht dass ihr Leben so gewesen wäre wie vorher. Oder je wieder so sein wird.«
Die Verzweiflung in seiner Stimme war wie ein Schraubstock, der den Raum enger erscheinen ließ.
Will sagte: »Mr. Caterino, Sie haben Nesbitt aus einem bestimmten Grund genau diese Artikel geschickt. Wonach haben Sie sie ausgewählt?«
»Ich habe mit den Familien gesprochen.« Gerald eilte zur Rückwand des Schranks. Er stand neben den Aktenkartons. »Sehen Sie, hier sind alle meine Anrufnotizen. Filmen Sie die.«
Faith schwenkte die Kamera herum. Sie wollte Gerald ebenfalls im Bild haben.
»Ich habe Dutzende von Anrufen getätigt«, sagte er. »Jedes Mal, wenn eine Frau gefunden wurde, habe ich die Familie ausfindig gemacht und mit ihnen gesprochen. Ich konnte die Opferzahl auf acht einengen.«
Er zeigte hinter Faith, aber sie drehte sich nicht um. Sie erkannte die Gesichter der Frauen aus den Zeitungsartikeln, aber die Fotos an der Wand waren anders, persönlicher, es war die Art von Bildern, die man gerahmt auf seinem Schreibtisch stehen hatte.
Gerald zeigte auf jede Frau und verkündete ihre Namen dazu: »Joan Feeney. Bernadette Baker. Jessica Spivey. Rennie Seeger. Pia Danske. Charlene Driscoll. Deaundra Baum. Shay Van Dorne.«
Faith zoomte auf jede von ihnen und achtete darauf, dass Gerald dabei im Bild blieb.
Er deutete wieder mit dem Finger herum und sagte: »Stirnband. Kamm. Haarspange. Haarband. Bürste. Bürste. Haargummi. Kamm.«
»Moment«, sagte Faith. »Wovon reden Sie?«
»Das sind die Dinge, die sie vermisst haben. Haben Sie sich das nicht angesehen? Haben Sie überhaupt irgendwas gelesen?«
»Mr. …«
»Nein!« Er schrie. »Erzählen Sie mir nicht, dass ich mich beruhigen soll. Ich habe diesem verdammten Cop erzählt, dass Beckey die Haarklammer vermisste, die sie von ihrer Mutter bekommen hatte. Sie war aus Schildpatt. Beckey hatte versehentlich einen Zahn abgebrochen. Sie hat sie immer auf ihrem Nachttisch aufbewahrt. An dem Morgen, an dem sie …« Er lief auf die andere Seite des Raums. »Sehen Sie, hier steht es. Kayleigh Pierce, ihre Mitbewohnerin. Das ist ihre offizielle Aussage.«
Faith war ihm mit der Kamera gefolgt.
»Kayleigh sagte, an dem Morgen, an dem Beckey gefunden wurde, also vorher, als sie sich angezogen hat …« Er war außer Atem. »Sie sagte …«
»Es ist gut, Mr. Caterino«, unterbrach ihn Faith. »Sehen Sie mich an.«
Die Verzweiflung in seinem Blick schnitt ihr ins Herz.
»Lassen Sie sich Zeit. Wir hören Ihnen zu. Wir gehen nirgendwohin.«
»Okay. Okay.« Er schlug sich mit der Faust auf die Brust, um sich zu beruhigen. »Kayleigh sagte aus, dass Beckey ihre Haarklammer nicht auf dem Nachttisch finden konnte. Sie war an diesem Morgen nicht da. Sie hat sie immer auf dem Nachttisch aufbewahrt. Schon bevor Beckey aufs College ging, hat sie die Spange neben ihrem Bett liegen gehabt. Sie wollte nicht, dass sie beschädigt wurde, aber sie wollte sie tragen, wenn sie Sehnsucht nach Jill hatte.«
»Jill war ihre Mutter?«
»Ja.« Gerald zeigte auf ein Foto von Beckey vor dem Überfall. Sie las im Bett. Ihr Haar war nach hinten gesteckt. »Die Haarklammer wurde nie gefunden. Die Mädchen, Kayleigh und ihre Mitbewohnerinnen, haben im Wohnheim alles auf den Kopf gestellt. Schon bevor die Polizei es durchsucht hat. Nicht dass sie recht intensiv gesucht hätte, denn zu diesem Zeitpunkt hat die Sache keinen interessiert. Aber die Mädchen wussten, wie viel die Haarklammer Beckey bedeutet hat, deshalb haben sie überall nachgesehen, während sie im Krankenhaus war. Aber sie haben sie einfach nicht gefunden. Und als die Cops sich dann tatsächlich die Mühe gemacht haben, der Sache nachzugehen, haben sie sie ebenfalls nicht gefunden.«
Faith biss sich auf die Zunge. Sie konnte nicht glauben, dass Lena Adams dieses Detail vergessen hatte.
»Diese Cops«, sagte Gerald. »Tolliver war der schlimmste. Er kam total einfühlsam rüber, als würde es ihm etwas ausmachen, aber er wollte nur einen Haken hinter den Fall machen und ihn vom Tisch haben, damit er weiter sein Gehalt beziehen konnte.«
Faith wusste, wie der Gehaltsscheck eines Polizisten aussah. Er taugte schwerlich als Motivation.
»Er hat mir erzählt … dieses verlogene, erbärmliche Arschloch hat mir …« Gerald hielt inne und setzte neu an. »Tolliver hat Nesbitt reingelegt. Das sage ich Ihnen. Wenn ich es beweisen könnte, würde ich diese Stadt in Grund und Boden verklagen. Ihnen ist bekannt, dass das College geblecht hat, oder? Und Grant County. Die wussten, diese Polizei ist korrupt. Deshalb haben sie sich dumm und dämlich gezahlt.«
Plötzlich war Faith froh, dass sie den Mann filmte, der Police Departments verklagte. Sie fragte: »Gab es ein Verfahren auf Entschädigungen?«
»Sie wollten kein Verfahren, weil sie wussten, dass all die belastenden Einzelheiten ans Licht kommen würden. Verstehen Sie nicht? Die Versicherungsgesellschaft, die Stadt, die Anwälte, selbst mein eigenes Anwaltsteam – sie alle haben zu der Vertuschung beigetragen.«
Nach Faiths Erfahrung taten Anwaltsteams, was sie nur konnten, um eine möglichst hohe Auszahlung zu erreichen.
Gerald sagte: »Das County hat einen Vergleich mit mir geschlossen, aber sie wollten nicht zugeben, dass sie etwas falsch gemacht haben, obwohl wir wissen, dass es so war. Wir wissen es. Dreißig gottverdammte Minuten. Dreißig Minuten im Leben meiner Tochter. Ich breche in diesem Augenblick die Verschwiegenheitserklärung. Ich hätte zu den Nachrichtensendern gehen sollen. Ich könnte es immer noch tun. Sollen sie doch versuchen, sich das Geld von mir zurückzuholen. Sollen sie nur.«
Faith deckte das Mikrofon mit dem Daumen ab, auch wenn es zu spät war.
»Sie haben einen Sohn«, sagte Gerald zu ihr. »Wie geht es Ihnen dabei, wenn Sie ihn aufs College schicken? Sie vertrauen den Leuten dort, nicht wahr? Sie vertrauen der Polizei. Sie vertrauen darauf, dass alle auf ihr Kind achtgeben, und wenn sie es nicht tun, lassen Sie sie dafür bezahlen.«
Will räusperte sich. »Wie viel haben sie Ihnen denn bezahlt?«
»Nicht genug.« Gerald blickte sich im Raum um. Seine Unterlippe begann zu zittern. »Nicht annähernd genug.«
Beim letzten Wort brach seine Stimme, weil ein Schluchzen in seine Kehle drängte. Er legte die Hand vor den Mund, um es zu unterdrücken, aber er verlor. Er beugte sich vornüber, und ein schmerzerfüllter Klagelaut kam über seine Lippen. Seine Knie gaben nach, und er sank auf den Boden. Er bedeckte sein Gesicht mit den Händen und heulte wie ein Kind.
Faith brach die Videoaufnahme ab und wollte zu ihm gehen, doch Will hielt sie davon ab. Er fand einen Karton Kleenex in der Ecke. Der Abfalleimer daneben quoll bereits über.
Gerald presste die Stirn auf den Boden. Sein Schluchzen füllte den Raum. Ihn zu trösten war nicht die Antwort. Für Hoffnung gab es keinen Trost.
Will kniete nieder und hielt ihm den Karton Kleenex hin.
»Tut mir leid.« Gerald nahm ein Tuch und wischte sich über die Augen. »Das passiert manchmal. Ich kann es nicht verhindern.«
Will zog sich zurück, damit Gerald aufstehen konnte.
Er putzte sich die Nase. Sein Gesicht war gerötet, er war verlegen.
Faith ließ ihm ein paar Augenblicke Zeit, ehe sie ihn in die Gegenwart zurückführte. »Mr. Caterino, vorhin unten, als mein Partner sagte, die Schädigung des Rückenmarks sei bei C5, da sind Sie losgestürmt.«
Er schnäuzte sich noch einmal und strich sein T-Shirt glatt.
»Beckey hatte eine Punktion.« Er zeigte auf ein Schwarz-Weiß-Bild an der Wand. »Ich wollte Ihnen das hinunterbringen, aber dann dachte ich, es ist besser, ich hole Sie herauf und zeige Ihnen alles. Es ist so viel, und ich … ich …«
»Schon gut«, beruhigte ihn Faith. »Ich bin froh, dass Sie uns erlaubt haben, das zu sehen. Es ist wichtig, dass Ihre ganze harte Arbeit hier unangetastet bleibt.«
»Okay. Sie haben recht.« Er zeigte wieder auf die Wand. »Da ist die Aufnahme mit der Punktion.«
Sie ging wieder auf Video und zoomte auf das Schwarz-Weiß-Bild, das aus einem MRT stammte. Selbst für ihren Laienblick war die Schädigung des Rückenmarks erkennbar. Es sah aus wie ein angestochener Reifen, nur dass Flüssigkeit statt Luft herauskam.
»Niemand konnte es erklären«, sagte Caterino.
»Gibt es sonst noch etwas über den Fall Ihrer Tochter, das wir wissen sollten?«
»Es ist alles verloren. Die Spuren sind verblasst. Es gibt niemanden, mit dem man reden kann. Zumindest niemanden, der reden will.« Gerald warf das Kleenex weg. »Tolliver hat sich den Arsch aufgerissen, um dafür zu sorgen, dass wir die Wahrheit über Beckey und Leslie nie erfahren. Er hat Informationen verschwinden lassen und behauptet, sie seien im bürokratischen Hin und Her verloren gegangen. Und Lena Adams, seine Speichelleckerin – wussten Sie, dass sie all ihre Notizbücher vernichtet hat? Können Sie sich vorstellen, was sie aufgeschrieben hat? Sie war das Miststück, das nicht einmal nachgesehen hat, ob meine Tochter tot war oder noch lebte. Sie standen alle lachend und scherzend herum, während mein Kind katastrophale Gehirnschäden erlitt.«
Faith steuerte ihn von diesen Klippen fort. »Erzählen Sie mir mehr von Beckeys Haarklammer.«
»Ja«, sagte er. »Sie war verschwunden. Was an und für sich natürlich nichts bedeutet. Aber dann habe ich mit Bonita gesprochen …«
»Leslie Truongs Mutter?« Faith versuchte, ihn wieder zu bremsen. »Was hat sie gesagt?«
Geralds Tränen waren getrocknet. Er war jetzt wieder wütend. »Leslie hat ein Stirnband vermisst, das sie immer trug, wenn sie sich abends das Gesicht wusch.«
»War das Stirnband der einzige Gegenstand, den sie vermisst hat?«
»Ja.« Er zögerte, dann gab er zu: »Ich weiß es nicht. Vielleicht auch ein Shirt, irgendwelche Klamotten, aber mit Sicherheit das Stirnband. Leslie hatte Bonita extra deswegen angerufen, um Dampf abzulassen. Es sei idiotisch, etwas zu stehlen, das so wenig wert war. Das war es, was sie so wütend machte. Warum klaute jemand so etwas?«
Faith ging die anderen möglichen Opfer durch, die anderen möglicherweise gestohlenen Gegenstände. »Shay Van Dorne hat eine Bürste vermisst?«
»Einen Kamm. Sie war in ihrem Wagen, als ihr auffiel, dass er weg war. Sie hat sich so darüber aufgeregt, dass sie ihrer Mutter davon erzählt hat.« Er ging zu den Fotos der Frauen aus den Artikeln zurück. »Joan Feeney. Sie trug immer ein Stirnband im Fitnessstudio. Sie hat ihrer Schwester erzählt, dass sie das purpurfarbene, ihr Lieblingsstirnband, nicht mehr fand. Seeger war im Auto wie Van Dorne und telefonierte gerade mit ihrer Schwester, und dabei hat sie erwähnt, dass das blaue Gummihaarband, das sie immer in der Mittelkonsole aufbewahrte, nicht mehr da war.«
Faith ermunterte ihn mit einem Nicken, fortzufahren.
»Danske hatte eine silberne Haarbürste, die ihrer Großmutter gehörte. Sie verschwand aus ihrer Kommode. Driscoll hatte immer eine Bürste in ihrem Handschuhfach liegen. Sie war nicht da, als ihr Mann nachsah. Spivey hatte in ihrem Schreibtisch bei der Arbeit eine Haarspange liegen, mit der sie ihren Pony zurücksteckte. Baker hatte einen Kamm, auf dem das Wort Chillax in kleinen Kristallsteinen stand. Baums Schwester sagte, sie hat zu allem, was sie anzog, immer den passenden Haargummi getragen. Als man sie fand, trug sie ein grünes Shirt, aber keinen Haargummi. Und als die Schwester dann in ihren Sachen nachsah, fand sie alle möglichen Haargummis – rot, gelb, orange. Aber keinen grünen.«
Faith dachte, dass ein Strafverteidiger das Video als Beweis dafür benutzen würde, dass Gerald Caterino verzweifelten Angehörigen irgendwelche Vermutungen in den Kopf gepflanzt hatte. Was der Vater getan hatte, ließ sich in einem grelleren Licht als Zeugenmanipulation sehen. Und wofür?
Eine Bürste. Ein Kamm. Ein Haargummi. Ein Stirnband. Eine Haarspange. Irgendwo im Auto, in ihrer Handtasche oder im Haus hatte auch Faith alle diese Dinge, einige sogar mehrfach. Im Nachhinein ließe sich leicht behaupten, dass etwas davon fehlte.
Vor allem, wenn man verzweifelt Zusammenhänge herzustellen versuchte.
Will dachte offenbar das Gleiche. Er wartete, bis Faith die Videoaufnahme beendet hatte.
Dann fragte er Gerald: »Wie lief das ab, wenn Sie die Familien angerufen haben?«
»Einige wollten nicht mit mir reden. Andere waren eine Sackgasse. Ich hatte eine Liste mit Fragen zur Hand, eine Art Raster. So habe ich es auf acht Opfer eingeengt.« Er ging zur gegenüberliegenden Wand und riss ein Blatt aus einem Notizbuch unter einer Reißzwecke weg. »Das hier habe ich bei den Telefonaten benutzt.«
Faith las die Liste:
  1. Stell dich vor (sprich ruhig!)
  2. Erkläre, was Beckey zugestoßen ist (nur die Fakten!)
  3. Frage, ob ihnen an der Todesursache ihrer Angehörigen etwas verdächtig vorkommt (benimm dich normal!)
  4. Frage, ob ihre Angehörige davon gesprochen hat, dass sie etwas vermisst
  5. Bitte sie, das Fehlen des vermissten Gegenstands zu bestätigen
Gerald erklärte: »Jedes Mal, wenn ich einen Artikel lese, mache ich mich an die Arbeit. Es gibt eine Menge Stoff im Internet. Die Leute sind leicht ausfindig zu machen. Ich habe mit Dutzenden Familienangehörigen von Opfern im Lauf der Jahre gesprochen, und ich glaube, ich bin besser darin geworden. Man muss ein Gespür für sie entwickeln, sicherstellen, dass sie sich der Möglichkeit nicht verweigern. Es ist schrecklich, ein Kind zu verlieren, aber es ist noch schrecklicher, wenn man erkennen muss, dass es einem geraubt wurde.«
Faith las die Liste noch einmal durch, die ein Schulbeispiel für Suggestivfragen darstellte. »Dieser letzte Punkt, Nummer fünf. Haben Sie ihnen gesagt, wonach sie suchen sollen? Dass es ein Gegenstand war, der mit den Haaren zu tun hat?«
»Ja. Wonach sollten sie sonst suchen?« Er sauste wie ein Pingpongball zu einer anderen Wand. »Das ist eine Liste, was Serienmörder tun. Nummer eins, sie nehmen Trophäen. Genau das macht Beckeys Angreifer. Er stalkt seine Opfer. Er nimmt etwas von ihnen. Dann überfällt er sie und lässt es wie einen Unfall aussehen.«
»Warten Sie«, sagte Faith. »Was meinen Sie mit stalken?«
»In den Wochen bevor sie starben, hat jede einzelne dieser Frauen einem Familienmitglied, einer Freundin oder einem Kollegen erzählt, dass sie so ein komisches Gefühl hätte. Als beobachte sie jemand.«
Faith dachte über die neue Information nach. Sie konnte sich viele Erklärungen denken, nicht zuletzt die, dass man sich als Frau in dieser Welt manchmal verwundbar fühlte. »Das steht nicht auf Ihrer Liste mit Fragen – ob sie das Gefühl hatten, beobachtet zu werden.«
»Ich weiß, dass man immer etwas zurückhalten sollte. Ich lasse es mir von ihnen erzählen.«
»Die Angehörigen haben es ihnen einfach so erzählt?«
»Ich war vorsichtig.« Er zeigte auf die Love2CMurder-E-Mails. »Dieser Typ ist ein Detective der Polizei im Ruhestand. Einer der wenigen guten. Er hat mir bei meinen Nachforschungen geholfen. Er sagt, der größte Fehler, den Frauen machen, ist, nicht auf ihre Instinkte zu hören.«
Faith überflog die E-Mails. DMasterson hatte mindestens zwei Jahre lang mit Gerald korrespondiert. Sie sah PDFs von Rechnungen. »Sie haben vorhin erwähnt, dass Sie einen Privatermittler bezahlt haben. Ist er das?«
»Nein. Da sprach ich von Chip Shepherd. Ich habe vor fünf Jahren mit ihm gearbeitet. Er ist ein weiterer Polizist im Ruhestand. Ich habe ihn für drei Monate bezahlt, und er hat sechs Monate gearbeitet. Seine Fallakten sind hier.« Er trat gegen einen Stapel Kartons. »Chip hat nichts herausgefunden. Sie finden nie etwas heraus. Ich habe mich fünf Jahre lang abgerackert, um diesen Fall am Leben zu halten. Das Geschäft läuft gut, aber es reicht nicht. Meine Ersparnisse neigen sich dem Ende zu. Ich habe keine Altersversorgung. Mein Haus ist mit einer Hypothek belastet. Das Geld aus den Vergleichen ist in einem Treuhandfonds für Beckey angelegt. Mein ganzes Leben dreht sich nur darum, dass ich mich um sie und Heath kümmere, und wenn noch Zeit bleibt, mache ich das hier.«
Faith atmete langsam aus. Der Raum fühlte sich klaustrophobisch eng an. Und er würde gleich noch enger werden. Faith glaubte, die Antwort auf die Frage gefunden zu haben, die Will gestellt hatte, seit sie am Morgen in der Gefängniskapelle mit Theorien um sich warfen.
Sie ging es behutsam an. »Mr. Caterino, warum haben Sie Daryl Nesbitt diese Zeitungsartikel geschickt? Es gab keinen Brief dazu, kein Anschreiben. Nur die Artikel.«
»Weil …« Er fing sich eine Sekunde zu spät. »Er beteuert immer noch, unschuldig zu sein. Ich wollte, dass er sich so ausweglos, so hilflos fühlt, wie ich es tue.«
Faith glaubte ihm, dass er Nesbitt quälen wollte, aber es steckte mehr dahinter. »Es tut mir leid, Sie das fragen zu müssen, aber warum sind Sie so sicher, dass Daryl Nesbitt nicht der Mann ist, der Ihre Tochter überfallen hat?«
»Ich habe nie gesagt …«
»Mr. Caterino, vor fünf Jahren haben Sie gutes Geld für Daryl Nesbitts Zivilklage auf Jeffrey Tollivers Nachlass ausgegeben.«
Auf Geralds Gesicht zeichnete sich Verblüffung ab.
»Zivilprozesse werden häufig dazu benutzt, offizielle Aussagen von Polizisten zu erhalten, die später dann in Strafverfahren gegen sie verwendet werden können.«
Caterinos Mund war ein schmaler Strich.
»Vor fünf Jahren haben sie Beckeys Facebook-Seite und die Website gestartet«, fuhr Faith fort. »Seit fünf Jahren sammeln Sie Artikel über vermisste Frauen und stellen Zusammenhänge mit dem Überfall auf Ihre Tochter her.«
»Diese anderen Frauen …«
»Nein«, unterbrach ihn Faith erneut. »Sie haben Ihre Nachforschungen vor fünf Jahren begonnen. Einige dieser Fälle liegen acht Jahre zurück. Was hat Sie vor fünf Jahren zu der Überzeugung geführt, dass Daryl Nesbitt nicht der Mann war, der Beckey überfallen hat? Es muss einen zwingenden Grund gegeben haben.«
Gerald biss sich auf die Unterlippe, damit sie nicht zitterte. Er konnte einen erneuten Tränenausbruch nicht stoppen.
Faith ging es langsam mit ihm durch. »Sie posten über viele Dinge, Mr. Caterino, aber Sie posten nie über Ihren Sohn.«
Er wischte sich über die Augen. »Heath versteht, dass Beckey im Mittelpunkt stehen muss.«
Faith ließ nicht locker. »Mir sind die vielen Kameras im Haus und um das Haus herum aufgefallen. Ist die Gegend gefährlich, Mr. Caterino?«
»Die ganze Welt ist ein gefährlicher Ort.«
»Es scheint aber eine sehr sichere Nachbarschaft zu sein.« Faith hielt inne. »Ich frage mich, was Sie schützen.«
Er zuckte abwehrend mit den Schultern. »Es ist nicht verboten, Überwachungskameras und ein Tor zu haben.«
»Nein«, gab sie ihm recht. »Aber ich wollte Ihnen sagen, wie beeindruckt ich von Ihrem kleinen Jungen bin. Er ist wirklich klug. Er ist weit für sein Alter. Hat Ihr Kinderarzt Ihnen das schon einmal gesagt? Er ist fast wie ein Achtjähriger.«
»Er wird Weihnachten sieben.«
»Richtig«, sagte sie. »Sein Geburtstag ist rund neununddreißig Wochen nach dem Überfall auf Beckey.«
Gerald hielt ihrem Blick nur einige Sekunden lang stand, dann senkte er die Augen.
»Ich sage Ihnen, was ich denke«, fuhr Faith fort. »Ich denke, vor fünf Jahren hat Ihnen Daryl Nesbitt aus dem Gefängnis geschrieben.«
Geralds Adamsapfel zuckte.
»Ich denke, Sie haben den Brief gesehen und Ihnen wurde bewusst, dass Nesbitt die Lasche abgeleckt haben musste, um den Brief zu verschließen. Und sein Speichel war auch auf der Rückseite der Briefmarke.« Faith bemühte sich, so behutsam wie möglich zu sein. »Haben Sie Daryl Nesbitts DNA anhand des Kuverts testen lassen, Mr. Caterino?«
Gerald hielt den Kopf gesenkt, sein Kinn berührte die Brust. Tränen fielen auf den Teppichboden.
»Wissen Sie, was mir Angst machen würde, Mr. Caterino? Was mich dazu bringen würde, Überwachungskameras anzubringen, einen hohen Zaun mit einem Tor um mein Haus zu ziehen und mit einer Waffe neben dem Bett zu schlafen?«
Er holte tief Luft, blickte aber weiter zu Boden.
»Was mich nachts nicht schlafen ließe«, sagte Faith, »wäre die Angst, der Mann, der meine Tochter überfallen hat, könnte herausfinden, dass sie neun Monate später seinen Sohn zur Welt gebracht hat.«