17
Sara saß an ihrem Schreibtisch und machte sich Notizen zu dem Briefing. Ihr Blick fiel auf Rebecca Caterinos Namen. Sie listete in Gedanken dieselben Wenns
auf wie vor acht Jahren. Wenn Lena einen Puls gefunden hätte. Wenn Sara schneller im Wald gewesen wäre. Wenn diese dreißig Minuten den Unterschied ausgemacht hatten zwischen einem Opfer, das seinen Angreifer identifizieren konnte, und einer jungen Frau, die zu einem Leben voll unsagbarem Leid verurteilt war?
Leslie Truong könnte noch leben. Joan Feeney. Pia Danske. Shay Van Dorne. Alexandra McAllister. Alle diese gestohlenen Leben wären nicht verloren gegangen, wenn sie Beckey Caterinos Peiniger gefunden hätten.
Oder Tommi Humphreys.
Beim Gedanken an Tommi zog sich Saras Magen zusammen. Es war falsch gewesen, Amandas Drängen nachzugeben, dass sie mit dem Mädchen Kontakt aufnehmen sollte. Jedes Mal, wenn Sara daran dachte, Tommi aufzusuchen, blitzte in ihrem Kopf das Bild der gebrochenen jungen Frau auf, die kettenrauchend im Garten ihrer Eltern saß. Sara hatte ihre Hände unter dem Picknicktisch geknetet. Jeffrey hatte schweigend zugehört, ohne etwas von dem Trauma zu ahnen, das die beiden Frauen teilten, die ihm gerade gegenübersaßen.
Sara kehrte zu ihren Notizen zurück.
Heath Caterino. Fast acht Jahre alt. Er würde bald Wachstumsschmerzen bekommen. Seine bleibenden Zähne würden sich nach und nach durchs Zahnfleisch bohren. Sein kritisches Denken würde sich allmählich verfeinern. Er würde anfangen, Humor mit Sprache auszudrücken.
Er würde Fragen stellen …
Wer bin ich? Wo stamme ich her? Wie bin ich
hierhergekommen?
Vielleicht nicht so bald, aber früher oder später würde der Junge möglicherweise die niederschmetternden Umstände seiner Geburt in Erfahrung bringen. Das Internet konnte Antworten bieten, die seine Mutter nicht geben konnte und sein Großvater nicht geben wollte. Heath konnte von dem Überfall auf seine Mutter lesen. Er konnte nachrechnen, wie es Sara getan hatte, er konnte dieselben Beobachtungen wie Faith machen und sich gezwungen sehen, eine Last zu schultern, die kein Kind je tragen sollte.
So viele Leben, die durch eine Vielzahl von Wenns einen so unheilvoll anderen Verlauf genommen hatten.
Sara durfte nicht wieder in der Vergangenheit ertrinken. Sie lud Faiths eingescannte Notizen auf den Laptop und konzentrierte ihre Gedanken auf die Frauen vor ihr.
Joan Feeney. Pia Danske. Shay Van Dorne. Alexandra McAllister.
Faith hatte vor dem Briefing eindeutig einen ermittlungstechnischen Vorsprung gehabt. Ihren Aufzeichnungen zufolge waren Feeney und Danske eingeäschert worden. Es gab keine Obduktionsberichte. In allen Fällen hatten die Coroner eine grobe Skizze der Leiche angefertigt und den größten Teil der Verletzungen dokumentiert, aber darüber hinaus war die Spur praktisch erkaltet.
Bei Shay Van Dorne lag die Sache anders. Sie war beerdigt worden. Faith hatte die persönlichen Angaben zu den Eltern neben der Nummer des Bestattungsunternehmens verzeichnet, das ihre Beerdigung organisiert hatte. Gründlich wie Faith nun mal war, hatte sie bei dem Bestatter angerufen und die Grabstelle ermittelt. Shay Van Dorne war in Villa Rica bestattet worden, knapp hundert Kilometer östlich des GBI-Hauptquartiers. Es gab ein Wort, das Saras Aufmerksamkeit weckte. Faith hatte das Wort GRUFT in Großbuchstaben hingeschrieben und umringelt.
Sara wählte Amandas Nummer.
Amanda antwortete: »Schnell, ich erwarte in vier Minuten einen Konferenzanruf.«
»Ich verstehe, warum es Ihnen widerstrebt, die Ermittlung auf
die Frauen aus den Artikeln auszudehnen.«
»Aber?«
»Was, wenn es nur ein Zuständigkeitsbereich wäre, ein Leichenbeschauer, ein Police Department?«
»Weiter.«
»Shay Van Dorne.«
»Sie wollen die Leiche exhumieren?«
»Sie wurde in einer Gruft beigesetzt«, erklärte Sara. »Das ist eine äußere Hülle um den Sarg, die aus einem von vier Materialien besteht – Beton, Metall, Kunststoff oder Verbundwerkstoff. So eine Gruft ist wasserdicht, um die Elemente abzuwehren und zu verhindern, dass die Erde den Sarg aufdrückt. Die teuren sind luftdicht, wenn auch nicht hermetisch. Rein rechtlich gesehen können die Bestattungsunternehmen die Konservierung des Verstorbenen nicht garantieren, aber ich habe schon Exhumierungen vorgenommen, bei denen der Körper größtenteils intakt war.«
»Sie wollen sagen, eine drei Jahre alte Leiche könnte vollständig konserviert sein?«
»Ich will sagen, sie wird sich zersetzt haben, aber der Schaden könnte gering sein«, präzisierte Sara. »Wenn Shay in der gleichen Weise verstümmelt wurde wie Alexandra McAllister und die anderen, dann wissen wir, dass sie ein Opfer war. Und vielleicht, hoffentlich, finden wir einen Hinweis, der uns zum Täter führt.«
»Sie glauben, das kann passieren?«
Sara machte sich keine Hoffnungen, aber alles war möglich. »Der Mörder ist mindestens acht Jahre lang unentdeckt geblieben. Manchmal macht Erfahrung achtlos. Shay Van Dorne ist möglicherweise ein weiteres Verbrechensopfer. Wenn wir uns an Strohhalme klammern wollen, wäre das der erste, nach dem ich greifen würde.«
»Das ist viel verlangt von den Eltern«, sagte Amanda. »Haben Sie sich Gerald Caterinos Aufzeichnungen von den Telefongesprächen mit den Van Dornes angesehen?«
»Noch nicht.«
»Lesen Sie sie. Benachrichtigen Sie mich. Sagen Sie Bescheid, wenn Sie eine Exhumierung beantragen wollen.« Sara wollte
schon auflegen, aber Amanda sagte: »Es gibt eine lebende Zeugin.«
Saras Magen zog sich zusammen. Sie war wieder in Tommi Humphreys Garten und saß gegenüber von Jeffrey. Sie versuchten, den Ablauf des Überfalls mit dem Mädchen durchzugehen, und Tommi hatte gesagt:
Ich kenne diese Person nicht mehr. Ich weiß nicht mehr, wer sie war.
Sara war mit diesem Gefühl zutiefst vertraut. Sie hatte nur noch eine vage Erinnerung an die Sara, die mit Steve Mann zum Abschlussball gegangen war, die Sara, die wegen ihrer Zulassung zum Medizinstudium aus dem Häuschen geraten war, die sich selbstbewusst um eine Stelle am Grady Hospital beworben hatte. Die Erinnerungen fühlten sich an, als gehörten sie zu jemand anderem, einer alten Freundin, die sie aus den Augen verloren hatte, weil sie nur sehr wenig gemeinsam hatten.
»Ich kann nichts weiter tun, als es versuchen«, sagte sie schließlich. »Tommi ist nicht verpflichtet, mit uns zu reden.«
»Danke, Dr. Linton. Auch ich bin mit den Gesetzen der Vereinigten Staaten vertraut.«
Sara verdrehte die Augen.
»Lassen Sie mich wissen, was Sie wegen Van Dorne unternehmen wollen«, sagte Amanda. »Ich halte Sie auf dem Laufenden, was ich meinerseits an Informationen bekomme.«
Sara beendete das Gespräch, aber sie konnte sich nicht dazu aufraffen, sich wieder in die Arbeit zu stürzen.
In ihrem Kopf tauchten ständig Bilder von Tommi auf. Sie schloss die Augen und zwang sie fort. Was sie wirklich gern getan hätte, war, Will anzurufen und darüber zu reden, wie dies alles ihre eigene grauenhafte Erinnerung an die Vergewaltigung aufwühlte. Dieses Gespräch hätte leicht vor vierundzwanzig Stunden stattfinden können. Jetzt war es, als würde sie Salz in eine offene Wunde reiben.
Sie konnte nichts tun, als sich auf die Aufgabe vor ihr zu konzentrieren.
Sara öffnete den Bericht des Coroners von Dougall County über Shay Van Dorne auf ihrem Laptop. Der Mann war im wahren
Leben Zahnarzt, aber seine Eröffnungszeilen ließen ein Interesse an Kartografie erkennen.
Van Dorne, eine fünfunddreißigjährige Weiße, wurde auf dem Rücken liegend in der nordnordwestlichen Ecke des Upper Tallapoosa River Unterbeckens des ACT-Flussbeckens gefunden, zweiundfünfzig Kilometer vom Mill Road Parkway entfernt, bei 33.731944, – 84,92 und UTM 16S 692701 3734378.
Sara klickte an seitenweise Karten vorbei, bis sie endlich die relevanten Abschnitte fand.
Die Vorschullehrerin war nicht dafür bekannt, dass sie wanderte, und trug die Kleidung, die sie üblicherweise in der Schule trug. Das Opfer war offenkundig ausgerutscht, hatte sich den Kopf an einem Stein angeschlagen und war einem subduralen Hämatom erlegen, einer Gehirnblutung, die im Allgemeinen mit einer traumatischen Verletzung einherging.
Das war der Punkt, an dem Sara dem Zahnarzt nicht mehr folgen konnte. Wie der Mann die Verletzung ohne Röntgengerät oder Ansicht des Craniums diagnostizieren konnte, war ein medizinisches Rätsel.
Sie konnte ihm ebenfalls nicht folgen, als sie zur zusammenfassenden Beschreibung der Verletzungen kam. Der Dentist hatte notiert: Tierische Aktivitäten in Sexualorganen wie auf Zeichnung genauer ausgeführt.
Sie klickte zu der Zeichnung vor. Augen und Mund waren mit einem X markiert. Um die Brüste und das Becken waren zwei große Kreise gezogen, mit einem Pfeil, der zu den Worten siehe Fotos
zeigte.
Sara fand die JPEGs im Hauptmenü. Der Zahnarzt gewann ihren Respekt ein klein wenig zurück, als sie sah, dass er mehr als hundert Aufnahmen gemacht hatte. Sara hätte bestenfalls zwei Dutzend erwartet, wie sie etwa der Coroner von White County bei Alexandra McAllister angefertigt hatte. Der Leichenbeschauer von Dougall County war mehrere Schritte weitergegangen. Sie erkannte die Bemühungen eines Mannes, der bereit war, Zehntausende Dollar und Hunderte Stunden Zeit in ein Hobby zu investieren, das zwölfhundert Dollar im Jahr einbrachte.
Sie klickte durch die Fotos. Die Leiche lag auf einer
Edelstahlbahre in einem Raum, der vermutlich zu einem Krankenhaus oder Bestattungsunternehmen gehörte. Die Beleuchtung war ausgezeichnet. Die Kamera hatte Profiqualität. Der Zahnarzt hatte Bilder aus sämtlichen Blickwinkeln geknipst – bis auf diejenigen, die Sara gebraucht hätte. Er hatte entweder zu nah herangezoomt oder war zu weit weg von den Wunden gewesen. Sie konnte die Wundränder nicht sehen. Es war unmöglich, festzustellen, ob die gerissene Sehne von einem Raubtier oder einem Skalpell verursacht worden war. Die Fotos der Sexualorgane waren sittsam, was angesichts der Größe von Dougall County nicht überraschte. Der Zahnarzt hatte Shay Van Dorne möglicherweise so gut gekannt, wie Sara Tommi Humphrey gekannt hatte.
Sara blätterte den Rest der Fotos durch. Eine Serie fing Hände und Füße ein. Eine weitere zeigte Shays offenen Mund.
Vorgeblich sollte die Sequenz bestätigen, dass nichts die Luftröhre blockierte, aber Sara nahm an, der Arzt hatte den einzelnen Weisheitszahn oben rechts im Mund einer fünfunddreißigjährigen Frau dokumentieren wollen. Es war ungewöhnlich, dass nur die drei anderen Weisheitszähne entfernt worden waren. Normalerweise wurden sie paarweise oder alle auf einmal gezogen.
Sie schloss die JPEGs.
Sara kehrte zu Faiths Dokumentation im Hauptmenü zurück und fand Gerald Caterinos Aufzeichnungen über seine Telefonate mit Shays Eltern, Larry und Aimee Van Dorne. Das Paar war nach Shays Tod geschieden worden. Beide hatten nicht wieder geheiratet. Gerald hatte einzeln mit ihnen gesprochen.
Larry berichtete von nichts Ungewöhnlichem im Leben seiner Tochter, was keine Überraschung war. Sara hatte eine sehr enge Beziehung zu ihrem Vater, aber es gab Dinge, die sie ihm nicht erzählte, weil er dazu neigte, sie sofort beheben zu wollen.
Laut Aimee hatte Shay gerade ein Nachbarskind zu einer Geburtstagsparty gefahren, als sie bemerkte, dass der Kamm aus ihrer Handtasche verschwunden war. Erst hatte sie es diebischen Kolleginnen im Lehrerzimmer angekreidet, aber das Verschwinden des Kamms hatte sie sichtlich beunruhigt. Shay
hatte ihrer Mutter gestanden, sie hätte in letzter Zeit ein komisches Gefühl gehabt, so als ob jemand sie beobachtete. Erst im Lebensmittelladen, dann vor der Arbeit, dann einmal auf dem Laufband im Fitnessstudio. Die Mutter hatte sich nichts weiter dabei gedacht – welche Frau hatte dieses Gefühl nicht gelegentlich? –, aber nach dem Tod ihrer Tochter war Aimee die Unterhaltung sofort wieder in den Sinn gekommen.
Sara machte sich Notizen: In Wald gefunden. Mutmaßliche Kopfverletzung (Hammer?). Sexuelle Verstümmelung (?). Eingestuft (inszeniert?) als Unfall. Fehlender Kamm. Möglicherweise Stalking.
Beide Eltern fanden, dass am Tod ihrer Tochter einiges ungewöhnlich war. Shay war sportlich gewesen, aber sie wanderte nicht. Sie ging selten in den Wald. Sie hatte ihr Smartphone und die Handtasche im Kofferraum ihres gelben Fiat 500 zurückgelassen. Larry räumte ein, dass Shay möglicherweise depressiv war. Aimee widersprach. Ihre Tochter hatte ein beachtliches soziales Umfeld, sie sang Sopran im Kirchenchor. Sie hatte unfertige Unterrichtsvorbereitungen zu Hause auf ihrem Schreibtisch liegen. Ihr neuer Freund war auf einer Konferenz in Atlanta gewesen, eineinhalb Stunden entfernt.
Sara überprüfte das Datum von Gerald Caterinos Anruf. Beckeys Vater hatte genau zwei Wochen nach der Beerdigung abgewartet, ehe er Kontakt mit ihnen aufnahm. Seitdem waren weitere drei Jahre vergangen. Sara bezweifelte, dass Larry und Aimee Van Dorne einfach ihr Leben weitergeführt hatten. Vom Tod eines Kindes schienen sich Eltern unmöglich erholen zu können.
Sie machte sich Gedanken über die nötigen Schritte, wenn sie tatsächlich die Eltern um ihre Zustimmung zu einer Exhumierung bitten wollte. Das war kein Gespräch, das sie an Amanda delegieren konnte. Sara wäre diejenige, die den Leichnam ihrer Tochter sezierte. Sie wäre diejenige, die die Eltern um Erlaubnis fragte. Das Gespräch würde nicht leicht werden. Es konnte religiöse Schranken geben, aber noch stärker wären die emotionalen. Viele Menschen betrachteten eine Exhumierung als Entweihung. Sara konnte ihnen nicht widersprechen. Schon bei
dem Gedanken, man könnte Jeffrey aus der Erde ziehen, konnte sie sich in Tränen auflösen.
Zunächst einmal würden die Van Dornes wissen wollen, was Sara zu finden hoffte. Darauf gab es wahrscheinlich keine einfache Antwort. Shay Van Dornes Magen hatte man für die Einbalsamierung mit einer Vakuumpumpe geleert, es war also unwahrscheinlich, dass Sara blaues Gatorade finden würde. Eine Rückenmarkspunktion wäre augenscheinlich. Es konnte noch Spuren vorsätzlicher Verstümmelung an ihren Sexualorganen geben. Bei der Obduktion von Alexandra McAllister hatte Sara festgestellt, dass die Scheidenwände mit einem scharfen Werkzeug zerkratzt worden waren, das Streifen im Gewebe hinterlassen hatte. Shay Van Dorne konnte ähnliche Verletzungen aufweisen.
Sara blickte von ihrem Laptop auf.
Tommi Humphrey war mit einer Stricknadel bedroht worden. Sie wussten, dass der Täter bei jedem Überfall dazulernte. Er hatte den Hammer zurückgelassen, als er Leslie Truong ermordet hatte. Vielleicht hatte er für die Stricknadel eine andere Verwendung gefunden.
Sie schaute wieder in ihre Notizen.
In Wald gefunden. Mutmaßliche Kopfverletzung (Hammer?). Sexuelle Verstümmelung (?). Eingestuft (inszeniert?) als Unfall. Fehlender Kamm. Möglicherweise Stalking.
Die Art des Begräbnisses eröffnete ihnen die Möglichkeit, Shay mit den anderen Verbrechen in Verbindung zu bringen. Sara hatte schon früher Exhumierungen beaufsichtigt. Einbalsamieren war nur für wenige Wochen gedacht. Sobald der Körper in der Erde war, zerfiel er rasend schnell. Bei manchen Fällen, in denen die Leiche in einem versiegelten Behältnis begraben wurde, hatte sie so unversehrt wie an dem Tag ausgesehen, an dem sie in die Erde gekommen war. Einmal war nur aufgrund von Schimmelbildung auf der Oberlippe zu erkennen gewesen, dass einige Zeit vergangen war.
Sara dachte wieder an Jeffrey. Es war unstrittig, dass er brutal ermordet worden war, Sara hatte es selbst mit angesehen. Aber wie würde sie sich fühlen, wenn seine Todesursache ungeklärt wäre?
Sie griff nach ihrem Handy und schrieb Amanda:
Ich möchte mit den Van Dornes sprechen, sie möglichst umfassend informieren und sie dann entscheiden lassen, wie wir weiter vorgehen.
Amanda schrieb zügig zurück.
OK.
Werde möglichst bald Treffen vereinbaren.
Brauche immer noch die Akten von Brock.
Was ist mit Humphrey?
Sara legte ihr Telefon beiseite und lehnte sich zurück. Prokrastinieren war im Allgemeinen für Aufgaben im Haushalt reserviert, nicht, wenn es um die Arbeit ging. Man schaffte kein Medizinstudium, indem man alle unangenehmen Dinge, die man zu erledigen hatte, vor sich herschob.
Warum suchte Sara also jetzt Zuflucht darin?
Sie öffnete den Browser auf ihrem Laptop und gab ein: Thomasina Tommi Jane Humphrey.
Das Mädchen war nicht auf Facebook, Twitter, Snapchat oder Instagram. Sie war nicht in der Datenbank des GBI, den Personenverzeichnissen der Vereinigten Staaten oder auf dem Schwarzen Brett der Grant Tech zu finden. Eine allgemeine Suche förderte mehrere schottische und ein paar walisische Humphreys zutage, aber nichts in Georgia, Alabama, Tennessee oder South Carolina.
Angesichts dessen, was Tommi widerfahren war, leuchtete es ein, dass sie ihre Identität schützte.
Sara wiederholte die gleichen Suchvorgänge mit Delilah und Adam Humphrey.
Der Grant Observer
erbrachte eine relevante Information: Vor vier Jahren war Adam Humphrey zu Tode gequetscht worden, als der Wagen, an dem er arbeitete, vom Wagenheber gerutscht war. Im Nachruf hieß es, dass er eine Frau und eine Tochter hinterließ. Die Aufbahrung hatte im Bestattungsinstitut der Familie Brock stattgefunden. Anstelle von Blumen wurden Spenden an den Verein Planned Parenthood erbeten.
Sara studierte das Foto eines lächelnden Mannes mit rundem Gesicht. Sie war Adam Humphrey zweimal begegnet. Beim ersten
Mal hatte der Vater sein gebrochenes Kind auf die Rückbank seines Vans gebettet, um es nach Atlanta zu fahren. Das zweite Mal war an jenem schrecklichen Tag im Garten der Humphreys gewesen. Adam hatte einem Polizeibeamten Gewalt angedroht, um seine Tochter zu schützen.
Sara schloss den Browser und bedachte ihre Optionen. Sie konnte Amanda ehrlich berichten, dass sie es nach bestem Wissen und Gewissen versucht hatte, aber beiden würde klar sein, dass das nicht die ganze Wahrheit war.
Es gab nämlich eine bessere Quelle als das Internet, wenn es um Kontakte im Grant County ging. Saras Mutter war mit den Humphreys zur Kirche gegangen. Wenn Cathy selbst nicht wusste, wo sie wohnten, würde sie jemanden kennen, der jemanden kannte … Aber ihre Mutter würde Sara fragen, wie es ihr ging. Sara konnte zwar lügen, aber Cathy würde an ihrer Stimme hören, dass etwas nicht stimmte. Dann würde es wieder eine Diskussion geben, möglicherweise einen Streit, denn Cathy war kein Fan von Will, und Sara war im Moment in einer Stimmung, dass sie jedem die Augen auskratzen wollte, der etwas gegen ihn zu sagen wagte.
Marla Simms von der Polizeistation wäre eine gute Ersatzlösung, aber es widerstrebte Sara, etwas zu tun, das Erinnerungen an Jeffrey wachrufen konnte. Es war schwierig, nach vorn zu gehen, wenn man sich ständig umblickte.
Am Ende stützte Sara die Ellbogen auf den Schreibtisch und den Kopf in die Hände.
Erinnerungen an letzte Nacht stürzten auf sie ein, wie eine Flutwelle, die gegen die Küste kracht. Sie fühlte sich immer noch benommen vom Schlafmangel. Die geschwollenen Augen ließen sich auch mit noch so viel Make-up nicht überschminken. Will hatte sie beim Verlassen des Briefingraums angelächelt, aber Sara wusste, wie ein echtes Lächeln auf seinem attraktiven Gesicht aussah, und das war definitiv keines gewesen. Sie hasste diese Distanz zwischen ihnen. All ihre Glieder schmerzten, als hätte sie sich eine Grippe eingefangen.
Ihr Handy piepste. Hastig sah sie nach, ob Will geschrieben hatte. Er hatte nicht. Dafür feuerte Amanda eine weitere Salve Mitteilungen ab.
Labor hat Truong-Resultate verloren.
Nick findet keine Kopien.
Besorgen Sie Originale von Brock ASAP.
Rufen Sie ASAP an, wenn Sie mit Humphrey gesprochen haben.
Amanda war ein Fan von ASAPs.
Anstatt ihr zu antworten, öffnete Sara die Find My Phone
-App – wenn man jemanden wahrhaft liebte, war es kein Stalking.
Als Wills letzter Aufenthaltsort wurde immer noch Lenas Adresse angezeigt.
Sara ließ das Telefon auf den Schreibtisch fallen.
Gestern Abend war sie verärgert gewesen, als sie gesehen hatte, dass Wills Telefon ausgeschaltet war. Dass er es auch heute Morgen noch nicht eingeschaltet hatte, war niederschmetternd. Sie sehnte sich danach, seinen Pin auf der Karte in Bewegung zu sehen. Ihr Verstand sagte, dass er wahrscheinlich noch im Gebäude war. Vermutlich hatte er beim Süßigkeitenautomaten haltgemacht, bevor er zu Faith ins Büro gegangen war. Sara hatte vergessen, ihm ein Pflaster auf die Hand zu kleben; der verdammte Knöchel blutete immer noch. Um die Wunde zu nähen, war zu viel Zeit vergangen. Sie sollte ihm ein Rezept für ein Antibiotikum ausstellen und ihn auf der Stelle suchen gehen und …
Und was?
Sara musste unbedingt hier raus, bevor sie etwas haarsträubend Dummes tat. Was angesichts ihrer Aktivitäten von letzter Nacht kein großer Anspruch war. Sie griff im Hinausgehen nach ihrer Handtasche und beantwortete Amandas Nachrichten auf dem Weg zum Parkplatz.
Fahre persönlich zu Brock. Suche immer noch nach Kontakt zu Humphrey. Unterrichte Sie ASAP sobald Neuigkeiten.
Der erste Teil war einfach. Brock war nach Atlanta gezogen, als seine Mutter intensivere Pflege benötigt hatte, als er ihr bieten konnte. Er hatte das Familienunternehmen verkauft und sie vom Erlös in einer der besten Einrichtungen für betreutes Wohnen im Staat untergebracht. Brocks Arbeitsplatz war zwanzig Minuten Fahrt vom GBI entfernt. Sara traf sich ein paarmal im Jahr zum Lunch oder Abendessen mit ihm. Bestimmt würde er unbedingt
helfen wollen, vor allem, wenn er hörte, an welchen Fällen sie gerade arbeitete.
Der Teil, der Tommi betraf, bereitete Sara große Sorgen. Sie war immer noch hin- und hergerissen, wenn es darum ging, Kontakt zu dem Mädchen aufzunehmen.
Mädchen?
Tommi Humphrey musste inzwischen dreißig sein; seit der brutalen Vergewaltigung, die sie beinahe das Leben gekostet hatte, war fast ein Jahrzehnt vergangen. Sara hätte sich Tommi gern als geheilt, vielleicht verheiratet vorgestellt, vielleicht hatte sie ein Kind adoptiert oder war, wenn es das Schicksal gut mit ihr gemeint hatte, sogar in der Lage gewesen, selbst eines zur Welt zu bringen.
Mit niederschmetternd hoher Wahrscheinlichkeit würde sie jedoch herausfinden, dass nichts von alldem eingetreten war. Besonders der letzte Teil. Saras eigene Vergewaltigung hatte sie der Fähigkeit beraubt, ein Kind auszutragen. Sie wollte nicht beim Anblick von Tommi ihren eigenen unaussprechlichen Verlust widergespiegelt sehen.
Sara blickte hinauf zum Himmel. Regen war angekündigt, und es sah ganz danach aus, als würde die Vorhersage eintreten. Sie seufzte, als sie Wills Wagen auf seinem üblichen Platz neben ihrem eigenen sah. Sie berührte im Vorbeigehen seine Kühlerhaube, bevor sie sich ans Steuer ihres Porsche Cayenne setzte. Ihr BMW X5 hatte vor einigen Monaten einen Totalschaden gehabt, und sie hatte dann den Porsche gekauft, weil Will Porsches so liebte, genauso wie sie den Z4 gekauft hatte, um Jeffrey eins auszuwischen.
Saras Feminismus schien mit quietschenden Reifen zum Stillstand zu kommen, sobald sie ein Autohaus betrat.
Sie drückte den Anlasser, und der Motor knurrte los. Sie sah zu Wills Wagen hinüber, dann rügte sie sich für ihre Gefühlsduselei. Will würde ihr früher oder später vergeben. Alles würde wieder seinen normalen Gang nehmen. Rein rational sah sie es ein, dennoch musste sie das Verlangen unterdrücken, wie eine verlassene Geliebte ins Gebäude zurückzurennen.
Oder eine total durchgeknallte.
Sie wählte die Nummer ihrer Eltern, als sie vom Parkplatz fuhr. Sofort tauchte in ihrem Kopf ein Bild auf, wie ihre Mutter in der Küche das Essen machte, während ihr Vater am Tisch laut aus der Zeitung vorlas. Die Telefonschnur an der Wand war überdehnt, weil Sara und Tessa das Gerät immer auf die Veranda hinausgezerrt hatten, um ungestört zu sein.
»Ich rede nicht mit dir«, sagte Tessa zur Begrüßung. »Was willst du?«
Sara konnte sich gerade noch zurückhalten, mit den Augen zu rollen. Sie hasste die Anruferkennung. »Ich rufe eigentlich Mom an. Ich brauche einen Kontakt zu Tommi Humphrey.«
»Delilah ist nach Adams Tod in einen anderen Staat gezogen. Keine Ahnung, wo Tommi ist.«
»Hat Mom Delilahs Nummer?«
»Das musst du sie selbst fragen.«
»Genau das habe ich ja …« Sara hielt inne. »Kannst du es mal gut sein lassen, Tess? Ich habe im Moment genug von Leuten, die auf mich böse sind.«
»Ich dachte, du bist so perfekt«, spottete Tessa. »Wer könnte noch böse auf dich sein?«
Unerwartet traten Sara Tränen in die Augen.
Tessa seufzte dramatisch. »Also gut, du bekommst eine Schonfrist. Was ist los?«
Sara wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. »Will und ich haben gestritten.«
»Und worüber?«
Sara schniefte. »Ich habe ihn in Gedanken den ganzen Tag mit Jeffrey betrogen, und als mir dann klar wurde, dass Will genau wusste, was ich tat, habe ich alles noch schlimmer gemacht, und er hat mich einfach stehen lassen.«
»Moment mal. Will hat dich stehen lassen?« Tessas Tonfall hatte vor Verblüffung alle Zickigkeit verloren. »Und dann?«
»Ich habe ihm genau eine Nachricht hinterlassen.«
»Wenn du jemandem die Meinung geigst, hinterlass nichts auf Band«, zitierte Tessa einen Rat ihrer Mutter. »Und dann?«
»Und dann …« Sara hatte Will nur die Highlights der letzten Nacht erzählt. Die erniedrigenden Einzelheiten durfte niemand
wissen außer ihrer Schwester. »Ich habe darauf gewartet, dass er zurückkommt, und als er nicht kam, bin ich zu ihm gefahren. Dann bin ich wieder zu meiner Wohnung zurück, aber er war noch immer nicht da. Also bin ich zum YMCA, dann zu Wendy’s und McDonald’s, zu Dairy Queen und zu der Tankstelle, wo er immer Burritos kauft. Dann bin ich nach Buckhead gefahren, um nachzusehen, ob er bei Amanda ist. Als Nächstes bin ich wieder zu seinem Haus zurück, um zu schauen, ob ich ihn vielleicht verpasst habe. Dann bin ich wieder in meine Wohnung gefahren.«
»Aber du bist nicht dortgeblieben?«
»Nein.« Sara wischte sich wieder über die Augen. »Ich bin zu Faith gefahren. Sein Wagen stand in der Einfahrt, und sie haben auf der Couch gesessen und Computerspiele gespielt, als wäre nichts geschehen. Also fuhr ich wieder nach Hause. Ich habe noch eine Weile auf ihn gewartet, dann bin ich zu ihm nach Hause und habe dort gewartet, dass er kommt und sich für die Arbeit fertig macht. Aber er kam nicht. Also bin ich wieder zu mir, habe mir ein wenig Make-up ins Gesicht gepinselt und bin zur Arbeit gefahren. Dort habe ich ihn in seinem Büro getroffen, mich sofort vor seine Füße geworfen und ihn angefleht, mir zu verzeihen. Ich denke, er wird es tun, aber vorläufig fühle ich mich, als steckte ein Knäuel aus Gummibändern in meiner Brust.«
Tessa war eine Weile still.
Sara umklammerte das Lenkrad. Sie musste sich in Erinnerung rufen, warum sie im Auto saß, wohin sie fuhr.
»Computerspiele auf der Couch«, sagte Tessa. »Das ist eine sehr konkrete Angabe.«
»Ich habe durch Faiths Wohnzimmerfenster gespäht«, gab Sara zu.
»Vorder- oder Rückseite des Hauses?«
»Rückseite.«
»Und wann ist dir zufällig in den Sinn gekommen, dass sie Polizistin ist und eine Waffe hat und dass du dich mitten in der Nacht unbefugt auf ihrem Grundstück herumtreibst?«
»Als ich über die Plastikabdeckung von Emmas Sandkasten gestolpert und auf der Nase gelandet bin.«
Tessa lachte.
Sara ließ sie.
»Ach, Sissy«, sagte Tessa. »Dich hat’s wirklich schlimm erwischt.«
»So ist es.« Sara brachte den schlimmsten Teil kaum heraus. »Ich weiß nicht, wie ich das wieder beheben soll.«
»Du musst es einfach aussitzen«, sagte Tessa. »Zeit heilt alle Wunden.«
Noch so ein Rat ihrer Mutter.
»Oder du kaufst etwas bei Ikea und tust so, als könntest du es nicht zusammenbauen.«
»Ich glaube nicht, dass das funktioniert.« Sara hielt nach dem Schild für die Ausfahrt Ausschau. Sie hatte noch zehn Minuten. »Er ist wirklich verletzt. Und er hat jedes Recht dazu.«
»Du kannst die Situation nicht verbessern, wenn du ihm einen runterholst?«
»Nein.«
»Ein Blowjob?«
»Schön wär’s.«
»Arschlecken?«
»Wie war dein Vorstellungsgespräch bei der Hebamme heute Morgen?«
»Mau«, sagte Tessa. »Sie hat genau eine interessante Bemerkung gemacht. Ich habe ihr von meiner neunmalklugen großen Schwester, der tollen Ärztin, erzählt, und sie hat mich daran erinnert, dass die Arche von Amateuren gebaut wurde und die Titanic
von Ingenieuren.«
»Du weißt, dass es bei der Arche um Genozid geht, oder?« Sara wechselte die Spur, um einen Sattelschlepper vorbeizulassen. »Noah und eine Handvoll seiner Freunde durften weiterleben, während der Rest der Menschheit vom Angesicht der Erde getilgt wurde.«
»Die Geschichte ist eine Metapher.«
»Für Genozid.«
»Deine Schonfrist ist abgelaufen«, sagte Tessa. »Ich informiere unsere Mutter über deine Bitte.«
Damit beendete sie das Gespräch.
Sara holte sich ein Taschentuch aus ihrer Handtasche und
putzte sich die Nase. Ein rascher Blick in den Spiegel verriet ihr, dass die wasserdichte Wimperntusche ihr Versprechen nicht hielt. Sie fühlte sich immer noch unsicher und nervös. Ihrer Schwester von all dem Schwachsinn zu erzählen, den sie sich in der vergangenen Nacht geleistet hatte, hatte nur dazu geführt, dass sie sich noch schwachsinniger vorkam. Noch nie in ihrem ganzen Leben hatte sich Sara so sehr auf einen Mann eingelassen. Selbst als sie von Jeffreys Untreue überzeugt gewesen war, war es doch Tessa gewesen, die geschredderte Hotelquittungen zusammenpuzzelte und ihm wie eine bescheuerte Nancy Drew durch die Stadt folgte, damit Sara weiterhin den Kopf hoch tragen konnte.
Sie war im Moment so weit davon entfernt, den Kopf hoch zu tragen, dass sie sich ebenso gut auf dem Meeresgrund aufhalten könnte.
Der Tacho war irgendwie auf hundertfünfzig geklettert. Sara ging vom Gas und fädelte auf die langsame Spur ein. Sie rollte gemächlich hinter einem Pick-up mit einem verblassten KEIN SCHEISS!-Aufkleber auf der Stoßstange und ging in Gedanken die ausgetretenen Pfade der Selbstvorwürfe aus den letzten vierundzwanzig Stunden durch. Beckey Caterino. Tommi Humphrey. Jeffrey. Will. Sie setzte Tessa mit auf die Liste, denn sie war nicht fair zu ihrer kleinen Schwester. Tessa war eine erwachsene Frau, Mutter und demnächst Geschiedene. Sie machte eindeutig eine Lebenskrise durch. Statt sie zu verspotten, sollte Sara ihr Halt bieten.
Noch eine Beziehung, die sie reparieren musste.
Brocks Ausfahrt kam früher als von Sara erwartet. Eine erboste Mercedesfahrerin beehrte Sara mit einem Ein-Finger-Salut, als sie dem Porsche auswich. Sara bog rechts auf die Hauptstraße ab, die von Fast-Food-Restaurants gesäumt war. Sie befand sich in einem Gewerbegebiet mit vielen Lagerhäusern, Fahrzeughändlern und Autozubehörläden.
Sara hatte im Lauf der Jahre ein halbes Dutzend Mal beruflich mit Brock zu tun gehabt, aber das letzte Mal war zu lange her, als dass sie sich noch genau an den Weg erinnerte. Sie suchte über die Sprachsteuerung im Porsche die Hausnummer aus ihrem
Adressverzeichnis heraus. Laut GPS lag die Firma AllCare AfterLife Services anderthalb Kilometer entfernt.
Brocks Arbeitgeber war viel kleiner als die Dunedin Life Services Group, der Mischkonzern, dem Ingles Bestattungsunternehmen in Sautee gehörte. Sara wusste, dass AllCare Brock über einen Headhunter angeworben und einen saftigen Bonus auf den Verkaufspreis des Brock’schen Bestattungsinstituts draufgelegt hatte, um sich seine Dienste zu sichern. Seine Abteilung kümmerte sich um die diskreten Einzelheiten, von denen die meisten Trauernden annahmen, dass sie im Keller ihres örtlichen Bestatters passierten.
Georgia hatte rund zehneinhalb Millionen Einwohner. Etwa sechzigtausend starben jedes Jahr. Bei großen Unternehmen drehte sich immer alles um mögliche Einsparungen aufgrund der Betriebsgröße. Im Bestattungsgeschäft hieß das, dass die Leichen zu Lagerhäusern voller Bestatter transportiert wurden, die sie wuschen, einbalsamierten, ankleideten und in den Sarg legten, bevor sie für Trauerfeier und Begräbnis zum örtlichen Bestattungsunternehmen zurückgeschickt wurden. Es ließ sich viel Geld mit der Rationalisierung eines Prozesses verdienen, auf den kaum jemand einen Gedanken verschwendete, bis er dazu gezwungen war.
Sara erkannte das unscheinbare Gebäude von früher. Das AllCare-Schild war unter einem großen Baldachin versteckt, wahrscheinlich um zu verhindern, dass sich die Öffentlichkeit dafür interessierte, was in dem Bau stattfand. Sara fuhr auf einen Besucherparkplatz. Zwanzig Minuten zu spät fiel ihr ein, dass sie Brock vorher hätte anrufen sollen. Er war immer so entgegenkommend, dass sie sich manchmal ermahnen musste, ihn nicht auszunutzen.
Zu spät.
Sie steckte ihr Handy in das Außenfach ihrer Handtasche und rechnete es sich als kleinen Sieg an, dass sie nicht nachsah, ob Will sein Telefon wieder eingeschaltet oder ihr wundersamerweise sogar eine Nachricht geschickt hatte.
Das AllCare-Lagerhaus war so tief wie breit, es hatte etwa die Form und Größe eines Footballfelds. Der Parkplatz war voller
teurer Autos. Der Betrieb kam langsam in Gang – eine Reihe von Leichenwagen wartete im Leerlauf darauf, Leichen abzuladen oder aufzunehmen. Sara zählte sechs Sattelschlepper in sechs Ladebuchten. Zwei gehörten einem lokalen Sargfabrikanten, ein weiterer einem Unternehmen für Bestattungszubehör, die übrigen drei UPS.
Die drei Fahrer luden in Kartons verpackte Särge aus. Per Bundesgesetz waren Bestattungsunternehmen verpflichtet, auch online bestellte Särge zu akzeptieren. Wie bei allen Konsumgütern gehörte den großen Händlern Costco, Walmart und Amazon ein dicker Batzen des Marktes. Die Ersparnis konnte, sehr zum Kummer von Unternehmen wie AllCare, erheblich sein. Das Einzige, was ein großes Unternehmen zu Fall bringen konnte, war ein anderes großes Unternehmen.
Saras Handy meldete den Eingang einer SMS. Sie rechnete mit Amanda und hoffte auf Will, aber stattdessen war es ihre Schwester.
Tessa: Du bist ein Arschloch.
Sara schrieb zurück: Meine Schwester ist ebenfalls eins.
Da sie das Telefon schon in der Hand hatte, sah sie auf der Find My Phone
-App nach. Wills Aufenthaltsort war weiter bei Lenas Adresse eingefroren. Sie legte das Gerät vorsichtig wieder in die Handtasche, als sie die Betonstufen zum Eingang hinaufstieg.
»Guten Morgen.« Die Angestellte am Empfang lächelte, als Sara das Foyer betrat. »Was kann ich für Sie tun?«
»Guten Morgen.« Sara legte ihre Visitenkarte auf den Tisch. »Ich suche nach Dan Brock.«
»Mr. Brock ist gerade von einer Besprechung zurückgekommen.« Das Lächeln war bei seinem Namen noch strahlender geworden. »Nehmen Sie Platz. Ich sage ihm Bescheid, dass Sie hier sind.«
Sara war zu ruhelos, um sich zu setzen. Sie lief in dem kleinen Foyer auf und ab, während sie auf Brock wartete. In dem Lagerhaus gab es keinen Kundenverkehr. Die Plakate an den Wänden zielten auf die Branche: Sterbeversicherungen, versiegelte Grabbehälter, eine Werbung für ein Seminar über das Schminken Verstorbener. Jemand hatte einen Aufkleber über der
Tür angebracht:
Fahren Sie langsam! Wir haben genug Kunden!
»Sara?« Brock grinste, als sie sich umdrehte. »Was um alles in der Welt führt dich hierher?«
Ehe sie antworten konnte, nahm er sie in die Arme und drückte sie herzlich. Er roch nach Balsamierflüssigkeit und Old Spice – die beiden Gerüche, die sie mit ihm verband, seit er zehn Jahre alt gewesen war.
»Meine Güte«, sagte er. »Du hast dich ganz schön herausgeputzt. Bist du auf dem Weg zu einem Fest?«
Sara lächelte. »Ich bin dienstlich hier. Tut mir leid, dass ich nicht vorher angerufen habe.«
»Ich bin immer für dich da, Sara, das weißt du.« Er wartete, bis die Empfangsdame die Tür geöffnet hatte. »Lass uns nach hinten gehen.«
Brocks Büro lag in der Nähe des Balsamierbereichs und damit am Ende des Gebäudes. Er plauderte mit Sara und erzählte ihr alle möglichen Neuigkeiten, während er sie durch einen langen Flur führte, vorbei an mehreren geschlossenen Türen und einem großen Pausenraum für Angestellte. Das Asthma seiner Mutter spielte wieder verrückt, aber sie schien mit ihrem Alterswohnsitz zufrieden zu sein. Er hatte gehört, dass der Pastor der Methodistenkirche in Heartsdale unter mancherlei Verdächtigungen seinen Posten geräumt hatte. Er probierte eine neue Dating-App für Singles in der Bestattungsbranche aus, sie hieß Lucky Stiffs.
»Mit Liz hat es nicht funktioniert?«, fragte Sara.
Er verzog das Gesicht. Brock hatte sich mit Partnerschaften nie leichtgetan. Er wechselte das Thema. »Wie geht es deiner Mama und den anderen?«
»Will geht es großartig«, sagte Sara, auch wenn es eher ein Wunsch als eine Tatsache war. »Daddy ist schon halb im Ruhestand. Mama ist immer noch ständig auf Achse. Tessa erwägt, Hebamme zu werden.«
Brock blieb vor der Tür zum Lagerhaus stehen. »Na, das ist doch mal eine wunderbare Nachricht. Sie ist so ein liebevoller Mensch. Ich glaube, sie wäre eine fabelhafte Hebamme.«
Sara fühlte sich schuldbewusst, weil sie nicht so reagiert hatte, als Tessa ihr von ihren Plänen erzählte. »Sie muss viel Stoff lernen.«
»Jeder kann ein Lehrbuch auswendig lernen. Schau mich an. Was man nicht lernen kann, ist Mitgefühl. Entweder man hat es, oder man hat es nicht.«
»Du hast ja recht.«
Brock lachte. »Du bist die einzige Frau in meinem Leben, die das zu mir sagt. Komm mit.«
Er öffnete die Tür zum Hauptbereich der Lagerhalle. Der beißende Geruch von Formaldehyd traf Sara wie ein Schlag ins Gesicht. Diese Chemikalie war der Hauptbestandteil von Balsamierflüssigkeit. Sara zählte mindestens dreißig Balsamierer, die über ebenso viele Leichen gebeugt standen. Mehr als die Hälfte waren Frauen, und alle waren weiß. Im Bestattungsgeschäft herrschte bekanntermaßen Rassentrennung.
Sara stieg über einen langen Schlauch, der sich über den Boden schlängelte. Ein Sauggeräusch kam aus den Abflüssen. Dreißig Pumpen pressten gluckernd Flüssigkeit in dreißig Halsschlagadern und saugten Blut aus dreißig Drosselvenen ab. Die letzten Handgriffe fanden in den Ladebuchten statt. Särge wurden entweder in wartende Leichenwagen geladen oder für den Versand in Kartonagen verpackt.
»Ich komme gerade von einer Besprechung wegen Honey Creek Woodlands«, sagte Brock. »Sie kosten uns ganz schön viel Umsatz.«
Sara hatte von der grünen Bestattungsbewegung gelesen. Wenn sie sich so in der Lagerhalle umsah, konnte sie verstehen, warum Menschen auf eine Einbalsamierung verzichten und ihre Angehörigen lieber in einer natürlicheren Umgebung beisetzen wollten. »Es spricht durchaus etwas für Asche zu Asche, Staub zu Staub.«
»Das ist in diesem Gebäude Blasphemie.« Brock lachte gutmütig. »Gott sei Dank haben wir das Macon-Bibb County. Die haben eine Verordnung erlassen, wonach bei allen Erdbestattungen ein dichtes Behältnis vorgeschrieben ist. Wir hoffen, die Vorschrift auf Staatsebene durchsetzen zu können.«
»Apropos.« Sara war dankbar für die Chance, auf ihr Anliegen überzuleiten. »Ich führe möglicherweise bald eine Exhumierung bei einer Leiche durch, die vor drei Jahren in einem luftdichten Behälter beigesetzt wurde.«
»Beton oder Verbundwerkstoff?«
»Weiß ich nicht.«
Brock öffnete die Tür zu seinem Eckbüro. Neonröhren beleuchteten den Raum, die beiden Fenster zur Lagerhalle hin waren mit Läden aus dunklem Holz verschlossen. Es war ein geräumiges Büro, oder zumindest hätte es eins sein können, dachte Sara. Brock war nie ein ordentlicher Mensch gewesen. Überall stapelten sich Papiere und Bücher. Seine Aktenschränkte quollen über.
»Tut mir leid«, entschuldigte er sich. »Ich habe in den letzten drei Jahren zwei Sekretärinnen verloren. Der ersten kann ich es nicht verübeln, aber die zweite hat zur Mittagszeit gern ein Schlückchen getrunken, und du weißt, was ich davon halte.«
Brocks Vater war ein Pegeltrinker gewesen, ein offenes Geheimnis in der Stadt, das niemand ansprach, weil ihn das Trinken letztlich liebenswürdiger machte.
»Möchtest du Tee oder Kaffee?«, fragte Brock.
Sara wollte vor allen Dingen heiß duschen, um den Formaldehydgestank loszuwerden. »Nein danke. Theoretisch bin ich ja noch im Dienst.«
»Sag Bescheid, wenn du es dir anders überlegst.« Brock machte an einem kleinen Tisch Platz, damit sich Sara setzen konnte. Er selbst nahm den anderen Stuhl. »Also, zu deinem Thema: Ich erspare dir das rechtliche Brimborium, dass es keine Garantie dafür gibt, dass der Körper konserviert bleibt, und so weiter. Wir wissen beide, dass die Aussichten gut sind, vor allem, wenn das Behältnis luftdicht ist. Außer es ist aus Beton, das könnte ein Problem geben. Wir hatten es im Lauf der Jahre gelegentlich mit Zersetzung zu tun, vor allem an der Küste, wo der Grundwasserspiegel höher ist.«
»Das Grab ist in Villa Rica.«
»Dann sind deine Chancen sofort deutlich besser. Das ist gute Erde dort. Es gibt drei Bestattungsunternehmen für das Gebiet, sie
benutzen alle Verbundwerkstoff und verstehen ihr Handwerk. Villa Rica gehört teilweise zu meinem Bereich.« Brock zeigte auf die Karte von Georgia an der Wand. Sara nahm an, die blau unterlegten Countys wurden von AllCare bedient. Sie sah, dass White County, wo Alexandra McAllister gefunden wurde, außerhalb von Brocks Gebiet lag.
Er sagte: »Ich bin ein bisschen verwirrt, Sara. Wir graben niemanden aus. Das macht das örtliche Bestattungsunternehmen. Soll ich dir einen Kontakt zu ihnen herstellen?«
»Ach so, nein, das ist nicht der Grund, warum ich hier bin.« Sie erklärte es: »Zwei ältere Fälle sind wieder in den Fokus gerückt: Rebecca Caterino und Leslie Truong.«
Das Lächeln verschwand aus Brocks Gesicht. Er sah so entsetzt aus wie vor acht Jahren. »Der Himmel steh mir bei. Ich habe eine ganze Weile nicht mehr an diese armen jungen Frauen gedacht. Sie waren der Grund, warum ich vom Posten des amtlichen Leichenbeschauers zurückgetreten bin.«
»Ich weiß.«
»Meine Güte.« Der Schock ließ nicht nach. »Das muss rund zehn Jahre her sein. Sitzt diese Rebecca noch im Rollstuhl?«
»Ja.« Sara ersparte ihm die Details. »Die Exhumierung, von der ich dir gerade erzählt habe, hängt mit ihren Fällen zusammen.«
»O nein! Sag bloß, sie haben diesen Kerl aus dem Gefängnis freigelassen?«
»Daryl Nesbitt? Nein, er ist noch in Haft. Aber es gibt Beweismaterial, das ihn möglicherweise entlastet. Zumindest was den Überfall und den Mord angeht.«
»Beweismaterial? Also, das ist ja …« Brock verstummte. Sein Blick irrte in seinem Büro umher, als könnten die Bücher und Papierstapel erklären, wie das passiert war. »Du weißt, ich widerspreche nicht gern, Sara, aber mir scheint, Jeffrey hat diesen Daryl praktisch auf frischer Tat ertappt. Niemand in der Stadt war damals überrascht, dass es ein Nesbitt war. Daddy sagte immer, dass sich diese Dew-Lollies gegenseitig wegen irgendwelcher Lappalien umgebracht haben, hat uns im wirtschaftlichen Abschwung letztlich über Wasser gehalten. Ich sehe einfach nicht, wie Jeffrey da falschgelegen haben könnte.«
»Er lag aber falsch.« Es fühlte sich wie Verrat an, aber es war nichtsdestoweniger die Wahrheit. »Das GBI hat neue Erkenntnisse, die darauf schließen lassen, dass der Mörder möglicherweise noch aktiv ist.«
»Noch aktiv?« Jetzt hatte sein Gesicht alle Farbe verloren. »Es gibt weitere Opfer?«
»Ja.«
Während sie schwiegen, konnte Sara draußen die Pumpen arbeiten hören.
»Seid ihr sicher, dass es nicht jemand ist, der den Übeltäter zu kopieren versucht?« Brock verwarf die Möglichkeit gleich wieder. »Das ist ein ziemlich übler Kerl, Sara. Mir wird ganz schlecht, wenn ich daran denke. Was haben wir übersehen?«
»Deshalb bin ich hier.«
»Ja, natürlich. Du wirst meinen damaligen Bericht brauchen. Ich habe Obduktionsaufzeichnungen für dich, Laborergebnisse und …« Er ging an seinen Schreibtisch und kramte einen Schlüsselbund aus der Schublade. »Es ist alles im U-Store eingelagert. Einheit 522. Ich komme gerade von einer Besprechung zurück und muss fürs Erste hierbleiben. Wir können nach der Arbeit zusammen hinfahren, oder du fährst jetzt allein.«
»Ich würde gern jetzt fahren.« Sara sah zu, wie er den kleinen Schlüssel für das Vorhängeschloss vom Ring schob. »Wir gehen allen Spuren so schnell wie möglich nach.«
»Ich verstehe nicht, was wir übersehen haben. Es lief doch alles auf Daryl Nesbitt hinaus. Und dann war da dieses ganze Zeug mit dem Hammer.« Brock schüttelte den Kopf, er konnte sich ebenso wenig einen Reim darauf machen wie Sara. »Du sagst, es gibt Beweise, die ihn entlasten?«
»Ja.«
»Was … aber das darfst du mir natürlich nicht sagen. Tut mir leid, dass ich überhaupt gefragt habe.« Er reichte ihr den Schlüssel. »Kannst du mir Bescheid geben, was sich in der Sache tut? Ich meine, soweit du es überhaupt verraten darfst. Ich weiß, du musst dich vorläufig bedeckt halten, aber großer Gott, noch mehr ermordete Frauen! Und die arme Leslie Truong. Das ist ein Serienmörder, Sara.«
»Diesmal finden wir ihn.«
»Ich bete dafür, aber ich bin froh, dass Jeffrey das nicht mehr erfahren muss«, sagte Brock. »Du weißt, wie sehr er unsere kleine Stadt geliebt hat. Zu hören, dass er sich bei dieser Sache getäuscht hat, hätte ihn gleich noch mal umgebracht.«
Sara biss sich auf die Unterlippe, um die herannahende Tränenflut zu unterdrücken.
Brock war sofort beschämt. »Ach du meine Güte, es tut mir so leid. Ich habe nicht daran gedacht, dass …«
»Schon gut.« Sara musste hier raus, bevor der Damm brach. »Ich sage dir Bescheid, was wir herausfinden.«
»Soll ich dich nicht zurück zum …«
»Ich finde schon hinaus, danke. Ich rufe dich bald an, dann gehen wir essen, okay?«
»Sicher, aber …«
Sara verließ das Büro, ehe er den Satz beenden konnte.
Auf dem Rückweg durch das Lagerhaus hielt sie den Kopf gesenkt und den Mund geöffnet, weil sie nicht durch die Nase atmen konnte. Sie rempelte ein paar Angestellte an, die gerade aus dem Pausenraum kamen. Alle Büros am Korridor waren besetzt, und alle, die darin arbeiteten, blickten auf, als sie vorbeikam. In der Eingangshalle wünschte ihr die Empfangsdame noch einen guten Morgen, aber dafür war es nun zu spät.
Sie stieß eine Reihe von Flüchen aus, als sie die Treppe hinunterstöckelte. Sie hätte Brock fragen sollen, ob er wusste, wo Delilah oder Tommi Humphrey wohnten. Der einzige Ort, der noch ergiebiger war als eine Kirche, wenn man Klatsch aufschnappen wollte, war der örtliche Bestatter. Das Bestattungsunternehmen der Familie Brock hatte der Tri-County-Area zwei Generationen lang gedient. Brock und seine Mutter waren immer auf dem Laufenden, was Neuigkeiten in der Stadt anging.
Sie blieb abrupt stehen, aber nur einen Moment lang.
Es kam nicht infrage, dass sie noch mal da hineinging. Stattdessen marschierte sie schnurstracks zu ihrem Wagen und ließ sofort die Fenster herunter, damit frische Luft ins Wageninnere kam. Sie musste immer noch durch den Mund
atmen. Ein heftiger Schmerz in der Hand erinnerte sie an den kleinen Schlüssel des Vorhängeschlosses. Sie hatte ihn so heftig umklammert, dass das Metall eine Vertiefung in ihre Handfläche gegraben hatte.
Brock hatte das U-Store für die Einlagerung wahrscheinlich aus denselben Gründen gewählt wie Sara. Es war die einzige Einrichtung im County, die eine klimatisierte Lagerung anbot. Andernfalls wären Jeffreys Polizeiakten und Saras rechtsmedizinische Berichte in der Luftfeuchtigkeit verrottet oder in der Hitze zu Staub zerfallen. Sie konnte Tessa nicht ein zweites Mal zu den Lagerräumen schicken, nicht, weil Tessa sich weigern würde, sondern weil es ein festgelegtes Verfahren für die Beweismittelkette zu beachten galt. Sara würde selbst dort tätig werden müssen, und das hieß, ins Grant County zu fahren, was die gleichen Schuldgefühle weckte wie am Vortag.
Sie überlegte, Will anzurufen und ihm mitzuteilen, wohin sie fuhr, aber von der Find My Phone
-App abgesehen beruhte ihre Beziehung auf Vertrauen. Sie musste ihm nicht berichten, was sie im Einzelnen tat, und es würde ihn verwirren, wenn sie es auf einmal versuchte.
Warum fühlte es sich dann wie Betrug an? Weil das U-Store an der Mercer Avenue lag, genau gegenüber von den Heartsdale Memory Gardens – dem Friedhof, wo Jeffrey begraben lag?
An der Lage des Gebäudes konnte Sara nichts ändern. Was sie als Nächstes in Angriff nehmen musste, war Leslie Truongs Obduktionsbericht. Es konnte sein, dass sich ein Hinweis auf den Seiten befand, etwas, was sie alle übersehen hatten und das ihnen half, den Täter zu finden.
Sara ging den Weg des geringsten Widerstands und schickte Amanda eine Nachricht.
Bin auf dem Weg nach Grant County, um Brocks Akten zu holen. Arbeite noch daran, Humphrey aufzuspüren. Zurück in der Zentrale ASAP.
Sie ließ den Motor an und fuhr los.
Zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte sich Sara ängstlich und beklommen, nach Hause zu kommen.