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ATLANTA
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Gina Vogel zwang sich, den Kopf nicht einzuziehen, als sie ihren Einkaufswagen durch die Gänge des örtlichen Target-Supermarkts schob. Ihre Periode hatte sie aus dem Haus getrieben. Sie hatte noch zwei Tampons aus ihrer Handtasche und einen aus ihrer Sporttasche zusammengekratzt, bevor alle Möglichkeiten erschöpft waren. Ihre allzu vertraute Beziehung mit dem Lieferboten vom Supermarkt schloss eine Bestellung nach Hause aus. Amazons Zwei-Tage-Lieferung dauerte zwei Tage zu lang, und sie war noch nicht so bescheuert, dass sie 49 Dollar 65 für die Expresslieferung einer Schachtel Tampons ausgab, die sie im Laden für acht Dollar bekam.
Davon abgesehen konnte eine Frau nicht einfach nur Tampons kaufen. Sie brauchte Schokolade, Schmerzmittel, noch mehr Schokolade und eine Tüte Mini-Schokoriegel, denn Leckereien hatten keine Kalorien, wenn man das ganze Ding auf einmal in den Mund stecken konnte.
Trotz dieser Anreize war ihr die Flucht aus dem Haus peinlich schwergefallen. Gina hatte es so lange hinausgeschoben und sich mit so viel zusammengeknülltem Toilettenpapier beholfen, dass ihr Badezimmer aussah wie Jeffrey Dahmers Küche. Doch selbst dann hatte sie noch Ausreden gefunden. Sie hatte im ganzen Haus Staub gesaugt. Die Fußleisten gereinigt. Die Deckenventilatoren und Lampen abgestaubt und auch die Teile der Jalousien, die sie erreichte, ohne die Schlitze zu öffnen. Sie hatte sogar die Nacht durchgearbeitet, um ihre Präsentation für Peking abzuschließen.
Wenn sie ehrlich war, war Gina nicht mehr so umtriebig gewesen, seit sie im Studium einmal Kokain probiert hatte.
Am meisten Überwindung hatte es sie gekostet, sich anzuziehen. Gina war immer der Ansicht gewesen, dass man um eine bestimmte Tätigkeit nicht mehr herumkam, sobald man das entsprechende Outfit angezogen hatte – seien es Sportklamotten, ein Business-Kostüm oder Reizwäsche. In eine Trainingshose zu schlüpfen war noch leicht gewesen. Tatsächlich waren Trainingshosen ein integraler Bestandteil ihres Hausanzug-Sets. Aus der Tür zu gehen, sich nicht nur den unmittelbaren Nachbarn, sondern der Öffentlichkeit allgemein auszusetzen hatte sich unerträglich gefährlich angefühlt.
Gina wurde beobachtet. Das stand für sie fest. Aber nicht fest genug, um es ihrer Schwester zu erzählen. Oder der Polizei.
Beim bloßen Gedanken daran, die Notrufnummer zu wählen, lief sie feuerrot an.
Ja, äh, könnten Sie mir bitte helfen, das Haus zu verlassen, ich schwöre, ich bin nicht verrückt, es ist nur so, dass ich meiner nervigen Nichte diesen Haargummi geklaut habe, und jetzt hat ihn mir jemand gestohlen, und ich fühle auf Schritt und Tritt Blicke auf mich gerichtet und … ja, ich warte … Hallo? Hallo? Sind Sie noch dran …?
Gina verglich ihre Paranoia mittlerweile mit einer dieser komischen Strumpfhosenmasken, die Bankräuber in Filmen immer trugen. Oder vielleicht auch im richtigen Leben. Egal. Worum es ging, war, dass sie das Gewicht ihrer Angst wie einen Gegenstand zu empfinden begann, der ihre Züge entstellte.
Sie hatte sich so davor gefürchtet, das Haus zu verlassen, dass sie zwei Fehlstarts hingelegt hatte. Beide Male war sie bis zum Auto gekommen, einmal hatte sie sogar den Motor gestartet, ehe sie ins Haus zurückgelaufen war wie das dumme Mädchen in einem Horrorfilm, wo alle wussten, sie würde stolpern und von einer Kettensäge tranchiert werden.
Schließlich hatte sie ein Anruf ihrer Schwester in die Welt hinauskatapultiert.
Nancy war wütend auf ihre Tochter. Gina genoss diese seltenen Gelegenheiten zur Stutenbissigkeit, denn nur dann räumte ihre Schwester überhaupt ein, dass das Mädchen eine übellaunige Göre war. Dieses Mal ging es um die Angst vor einer Schwangerschaft, denn wer hätte gedacht, dass Kondome manchmal nicht funktionierten? Warum war nie etwas darüber zu lesen? Oder wurde darüber auf dem Discovery Channel berichtet?
Gina hatte an allen richtigen Stellen erschrocken die Luft angehalten und »O nein« und »Wie konnte sie nur?« gesagt, um noch das kleinste Fitzelchen an saftigem Drama herauszukitzeln, aber nach einer Stunde war Nancy schließlich so weit gewesen, dass sie fragte, was Gina gerade so trieb.
»Ich war eigentlich auf dem Weg zum Supermarkt«, hatte Gina gesagt, und ihre Absicht laut auszusprechen war dann der letzte Anstoß gewesen, damit sie nicht nur das Haus verließ und sich nicht nur ans Steuer ihres Wagens setzte, sondern die Straße auch tatsächlich hinunterfuhr wie ein erwachsener Mensch, der Auto fahren kann.
Gott sei Dank war der Supermarkt am frühen Vormittag spärlich besucht. Es schien mehr Angestellte als Kunden zu geben. Gina stöhnte, als ihr der Einkaufswagen mit einem Ruck wegrutschte. Sie hatte wieder einmal diese Dummheit begangen, einen Wagen herauszuziehen, bei dem sie nach drei Metern feststellte, dass eines der Räder blockierte, und anstatt einfach die drei Meter zurückzugehen, hatte sie sich weitergeschleppt wie einer dieser Siedlertrecks, die in den winterlichen Rocky Mountains vor lauter Sturheit in ihr Verderben liefen.
Gina verglich die Artikel im Wagen mit der Einkaufsliste in ihrem Kopf: Toilettenpapier, Papierhandtücher, Eiscreme, Schokoladensirup, eine Packung Mini-Schokoriegel, große Schokoladentafeln, zwei Twix, damit sie sich nicht einsam fühlten, und Ibuprofen mit dem Arthritisverschluss, für den sie zu jung war, aber andererseits verdammt noch mal auch zu alt, um ohne Vergrößerungsglas zu sehen, wie sie die beiden Pfeile zum Öffnen in eine Linie bringen sollte, und warum waren sie überhaupt beim ersten Mal so schwer aufzukriegen?
»Mannomann«, murmelte sie.
Tampons.
Natürlich waren die Damenhygieneartikel genau auf der anderen Seite des Ladens, in der hintersten Ecke neben den Babywindeln und den Inkontinenzhöschen und all den anderen unfeinen Frauenprodukten, die nie eines Mannes Blick zu behelligen brauchten.
Haushaltswaren. Betttücher. Handtücher. Sportartikel.
Der Target-Supermarkt verkaufte keine Waffen. Walmart und Dick’s ebenfalls nicht. Schockierenderweise war es verboten, eine Waffe online zu bestellen und sich nach Hause liefern zu lassen. Die nächstgelegene Waffenboutique, oder wie immer das hieß, lag außerhalb des Highway-Rings. Sie mochte paranoid sein und vielleicht sogar kurz vor dem Ausbruch einer Psychose stehen, aber sie würde nicht so weit aus der Stadt hinausfahren. Außerdem lebte sie schließlich in Amerika. Wo war die verdammte NRA, wenn man sie brauchte? Eine AK-47 sollte man aus Verkaufsautomaten ziehen können, wie sie vor jedem Subway-Laden standen.
Damenhygieneartikel.
Gina steuerte um die riesigen Kartons mit Damenbinden herum. Sie verlangsamte den Wagen, um die diskreteren Hygieneangebote unter die Lupe zu nehmen. Von Tampax gab es eine Produktlinie, die sich Radiant nannte, bei der sie sofort an einen Strahler denken musste, der aus ihrer Muschi schien. Bei der Produktlinie Pearl musste sie an Austern denken, und das wiederum erinnerte sie an einen Cartoon, den ihr ein Ex-Freund einmal gezeigt hatte. Ein Blinder geht an der Auslage vor einem Fischgeschäft vorbei und sagt: »Guten Morgen, die Damen.«
Ha.
Ha.
Ex- Freund.
Ihr Blick sprang zwischen den einzelnen Produkten hin und her, die alle rosa oder blau verpackt waren, genau wie das Babyzeug. Einführhilfe aus Pappe. Einführhilfe aus Plastik. Keine Einführhilfe. Starke Blutung. Mittlere Blutung. Leichte Blutung – wo waren die Miststücke? Click Compact erinnerte sie an das Spekulum eines Frauenarztes. Sport Fresh , weil man gern schwitzte, wenn man seine Tage hatte. Smooth : glatt wie der Po des Babys, das man in neun Monaten nicht bekommen würde. Security : ein Vorhängeschloss für deine Pussy. Gentle Glide : der schlechteste Kaufanreiz aller Zeiten. Bio : warum zum Kompostieren vor die Tür gehen? Anti-Slip , Rubbery Grip : der heiße neue Song von Salt-n-Pepa.
Am Ende landete Gina bei ihrem alten Beistand, den Playtex Sport mit Flexfit-Technik . Die Packung war im üblichen Rosa und Blau, aber sie zeigte auch die grüne Silhouette einer fröhlichen, schlanken Frau, die die Straße entlangjoggt, das Haar zur Seite wehend, das iPhone am Oberarm befestigt und mit baumelnden Kopfhörerkabeln, denn so wie Gina kam auch sie nicht dahinter, wie die schnurlosen Bluetooth-Ohrknöpfe funktionierten, die wie weißer Rotz aussahen, der allen Leuten aus den Ohren tropfte.
Gina stellte sich das Meeting der Marketingabteilung bei Playtex vor. Die Männer hatten sich für die fröhliche grüne Sportlerin starkgemacht und die Frauen für die dunkelrote, fast schwarze Silhouette einer Frau in den Wechseljahren, die zusammengekrümmt und schreiend auf dem Boden ihres Badezimmers liegt.
Schwere Entscheidung.
Das kaputte Rad blockierte wieder, und ihr Einkaufswagen wäre fast in einen Aufsteller mit Windeln gekracht. Gina erwog den Akt des Vandalismus mit einer gewissen Befriedigung, aber so bösartig war sie nicht. Zumindest nicht im Augenblick. Sie riss den Wagen herum, griff sich auf dem Weg zur Kasse noch eine 24-Stück-Packung AAA-Batterien, denn ihr Vibrator stand gewaltig auf Sex während der Periode.
Als sie ihre Kreditkarte durch das Lesegerät gleiten ließ, wurde ihr bewusst, dass sie mindestens zehn Minuten lang nicht wie gelähmt von ihrer Paranoia gewesen war.
Gina sah sich im Kassenbereich um. Eine erschöpft wirkende junge Mutter mühte sich mit einem Baby ab. Eine nach Geschäftsführerin aussehende Angestellte unterdrückte ein Gähnen, während sie auf ihr Klemmbrett blickte. Der junge Typ an der Kasse, der ihren Einkauf eingescannt hatte – ein FBI-Profiler würde das vermutlich als Menstruationsausrüstung bezeichnen –, hatte ihr kaum ins Gesicht gesehen.
Eine ganze Woche war vergangen, seit Gina zuletzt gelächelt hatte. Ach, diese üppige Vielfalt des Lebens. In einem Moment verschanzte man sich noch in einem Bunker und googelte Maschinengewehr Heimservice , im nächsten war man draußen in der Welt und wippte mit dem Fuß zur Kaufhausversion von »Funky Cold Medina«.
This brother told me a secret … on how to get more chicks …
Tone Loc war so ein Visionär. Er hatte sowohl den Untergang von Bill Cosby vorausgesagt als auch den glorreichen Aufstieg von RuPaul.
»Ma’am?« Der Typ an der Kasse wartete.
Gina ließ sich von dem »Ma’am?« nicht die Laune verderben. Sie unterschrieb schwungvoll auf dem Display, doch ihre übertriebene Höflichkeit interpretierte der Junge an der Kasse sichtlich nur als MILF-Verzweiflung. Oder vielleicht eher Mothers I’d Like NOT to Fuck in diesem Fall. Sie steckte den scheußlich langen Kassenzettel in ihre Handtasche und schob den widerspenstigen Wagen durch die Eingangstür.
Sonne!
Wer hätte das gedacht?
Ihr Wagen stand im hinteren Bereich des Parkplatzes, was sie als eine Art Mutprobe betrachtet hatte, als sie vorhin in den Supermarkt gefahren war. Jetzt war Gina froh um die Bewegung. Ihre Wadenmuskeln hatten sich zu Fragezeichen zusammengezogen, weil sie fast rund um die Uhr mit ihrer Couch verschmolz. Sicher, sie fühlte sich eklig, verschwitzt und krampfig von ihrer Periode, aber zum ersten Mal in ihrem Erwachsenenleben war das nicht das Schlimmste, was ihr gerade widerfuhr. Sie sollten ihre Silhouette auf diese verdammten Tampon-Packungen drucken.
Gina – her mit den Klümpchen!
Sie öffnete den Kofferraum. Selbst das blockierende Rad, das ihren Einkaufswagen an die Stoßstange prallen ließ, konnte ihre Stimmung nicht trüben. Sie warf die Tüten in den Wagen, griff nach einem Twix und riss die Verpackung mit den Zähnen auf. Die beiden knusprigen, schokoladigen Riegel glitten in ihren Mund, als würde sie ein Blatt Papier in eine Schreibmaschine spannen – ein Vergleich, den niemand unter dreißig noch verstand.
Sie war zu faul, noch mal den ganzen Weg zum Laden zu gehen, um ihren Einkaufswagen zurückzugeben. Immerhin hatte sie den Anstand, ihn auf der Grasfläche neben dem Auto abzustellen. Sie setzte sich ans Steuer und überlegte, das andere Twix aus dem Kofferraum zu holen. Aber die Eiscreme würde vielleicht schon schmelzen. Also sollte sie die Eiscreme ebenfalls essen. Sollte sie zum Target-Supermarkt zurückgehen und einen Löffel holen? So etwas konnte sie ja wohl nicht mit den Händen essen. Sie konnte doch wohl nicht den Pappbecher kippen und seinen köstlichen Inhalt schlürfen, wie ein Gott aus der Antike es gemacht hätte.
Ein Geräusch vom Rücksitz.
Ginas Blick huschte nervös zum Rückspiegel.
Sie sah die Hand eines Mannes, dann seinen Arm, dann seine Schulter. Ihr Blick folgte anschließend jedoch nicht der natürlichen Richtung zu seinem Gesicht, sondern konzentrierte sich auf das im Sonnenlicht aufblitzende Metall. Ihr Unterkiefer klappte herunter. Ihre Augen wurden weit. Sie blähte die Nasenlöcher. Wie in Zeitlupe folgte sie der Bahn des Hammers, der erst zurückschwang und dann nach vorn, genau an ihre Schläfe.
Sie hatte nur einen Gedanken, und der war unfassbar dumm: Ich hatte recht.