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GRANT COUNTY – DONNERSTAG
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Die gebrochenen Knochen in Jeffreys Nase klingelten wie Zimbeln bei jedem Wort, das er sprach. Die Option zu schweigen gab es nicht für ihn. Er näherte sich dem Ende des morgendlichen Briefings für die Streifenwagenbesatzungen und spürte bereits, wie ihm die Augen zuzuschwellen begannen. Unter normalen Umständen wäre er einfach ins Medical Center auf der anderen Straßenseite gegangen und hätte sich den Bruch richten lassen, aber er wollte nicht erklären müssen, dass es dazu gekommen war, als ihm eine ihrer Ärztinnen die Tür vor der Nase zugeknallt hatte.
Falls es den acht Streifenbeamten vor ihm merkwürdig vorkam, dass Klopapier in den Nasenlöchern ihres Chiefs steckte, so hatte jedenfalls keiner den Mumm, eine Bemerkung darüber zu machen. Jeffrey hatte ihnen die wesentlichen Informationen zu dem Überfall auf Caterino und dem Mord an Truong erläutert und nur die schockierendsten Einzelheiten für sich behalten. Er war ein Anhänger von möglichst hoher Transparenz bei der Arbeit. Alle diese Männer hier lebten in der Stadt. Sie waren hier aufgewachsen. Sie empfanden genauso viel Verantwortung gegenüber der Gemeinde wie Jeffrey. Wichtiger noch, er war im Begriff, ihnen eine echt beschissene Aufgabe zu erteilen, und er war darauf angewiesen, dass sie so gut mitzogen wie nur irgend möglich.
Er zeigte auf die Zahlen auf dem Whiteboard und sagte: »Es gibt elftausendsechshundertachtzig zugelassene Transporter im Tri-County-Gebiet. Dreitausendvierhundertachtundneunzig davon entfallen auf Grant County. Davon sind tausendsechshundertneunundneunzig dunkel lackiert. Ich möchte, dass sich jeder von Ihnen beim Hinausgehen eine Liste von dem Stapel nimmt. Fahren Sie Ihre übliche Streife, aber immer wenn Sie ein wenig Luft haben, dann klopfen Sie an Türen, nehmen die Besitzer in Augenschein und notieren sich ihre Angaben zur Person. Falls irgendwo der Name Daryl auftaucht, rufen Sie sofort mich, Frank oder Matt an. Wenn irgendwer auch nur im Mindesten verdächtig wirkt, rufen Sie sofort mich, Frank oder Matt an. Üben Sie keinen Druck aus. Ziehen Sie sich zurück und rufen Sie an. Bringen Sie sich nicht in Gefahr. Verstanden?«
Acht Stimmen riefen: »Ja, Chief.«
Jeffrey raffte seine Unterlagen zusammen. Jedes Mal wenn er nach unten schaute, gab es eine kleine Explosion in seiner Nase. Er schniefte Blut. Sterne tanzten vor seinen Augen.
Frank kam in den Raum, als die Streifenbeamten ihn gerade verließen. »Ich habe mit Chuck Gaines gesprochen«, sagte er. »Er veröffentlicht einen Aufruf an die Studenten, in dem er um Informationen zu den drei Frauen und dem Mann mit der schwarzen Strickmütze bittet, die Leslie Truong im Wald gesehen hat.«
»Gut.« Jeffrey machte sich keine Hoffnungen. Sie hatten bereits einen Zeugenaufruf am Tag des Überfalls auf Caterino herausgegeben. Zweiundzwanzig Studierende hatten sich gemeldet, aber niemand hatte etwas gesehen. Wenigstens die Hälfte von ihnen war zur fraglichen Zeit wahrscheinlich nicht einmal im Wald gewesen.
»Diese verdammte Lena«, knurrte Jeffrey.
Frank stellte den Fuß auf einen Stuhl und stützte den Ellbogen auf sein Knie.
Jeffrey verstand, dass er nicht nur sein Fahrgestell lüftete. »Sagen Sie’s schon.«
»Lena ist eine gute Polizistin. Sie könnte eines Tages sogar die beste Polizistin im Departement sein.«
»Sieht für mich nicht so aus.«
»Dann müssen Sie Ihren Blickwinkel verändern. Die Kleine hat den gleichen Fehler gemacht, den ich auch gemacht hätte.« Frank zuckte mit der Schulter. »Ich war auch dort, Chief. Ich habe Beckey Caterino gesehen. Ich dachte auch, sie ist tot.«
»Weil Lena gesagt hatte …«
»Weil sie tot aussah . Und ich will ehrlich sein: Wenn ich mich in Lenas Lage versetze und ich habe es mit einer toten Studentin zu tun und das Mädchen, das sie gefunden hat, sagt, es will zu Fuß zum Campus zurückgehen, dann lass ich es gehen, wenn es ihr Wunsch ist, warum denn auch nicht?«
Jeffrey schüttelte den Kopf, denn je öfter er sich diese Frage stellte, desto sicherer war er sich, dass er Truong niemals allein hätte zurückgehen lassen. Auch wenn Caterino vermeintlich das Opfer eines Unfalls gewesen war – Truong war noch sehr jung, und sie hatte gerade eine vermeintliche Leiche gefunden. Um so jemanden kümmerte man sich einfach.
Frank war einen Moment still, wenn man von seinem pfeifenden Atem absah. »Hören Sie, es gibt einen Grund, warum ich Ihren Job nicht haben wollte. Er ist beschissen.«
»Finden Sie?«
»Sie sind ein guter Polizeichef. Für Ihr privates Leben kann ich mich nicht verbürgen. Wenn Sie was mit meiner Tochter anfangen würden, wäre eine gebrochene Nase Ihr geringstes Problem.« Frank lächelte, ohne zu lächeln. »Als Sie in Birmingham waren, bei wie vielen Mordfällen sind Sie da aufgekreuzt?«
Jeffrey schüttelte den Kopf. Birmingham war zehnmal so groß wie Grant County. Es gab mehr als hundert Tötungsdelikte pro Jahr.
»Wahrscheinlich bei Dutzenden, oder? Und selbst wenn man die weglässt, wo die Opfer bei Ihrem Eintreffen schon tot waren, haben Sie wahrscheinlich jede Woche viel Blut gesehen. Messerstechereien, Schusswechsel, allen möglichen Scheißdreck. Wir hier im Grant County haben dagegen ein paar Drogentote, ein paar Verkehrstote, etliche Traktorunfälle. Vielleicht ein paar verprügelte Frauen.« Frank zuckte wieder mit den Achseln. »Sie wenden die Denkweise aus Birmingham auf Situationen im Grant County an.«
Etwas wie das, was Tommi Humphrey und Leslie Truong zugestoßen war, hatte Jeffrey in Birmingham nie gesehen. »Dafür wurde ich eingestellt.«
»Dann setzen Sie es um. Lena hat Potenzial. Sie hat den Instinkt, den Job so zu machen, wie er gemacht gehört. Sie können entweder der Chief sein, der sie zu einer guten Polizistin formt, oder das Arschloch, das sie in Stücke reißt, weil Sie sich danach besser fühlen.«
»Ich hätte Sie nie für einen Psychologen gehalten.«
Frank drückte Jeffreys Schulter, so als wollte er einen Hund dazu bringen, dass er spurt. »Tja, und ich hätte nie gedacht, dass Sie Ihre Frau bescheißen.«
»Danke für die aufmunternden Worte, Frank.«
»Gern geschehen, Chief.« Frank beehrte ihn mit einem weiteren erniedrigenden Schulterklopfen, bevor er ging.
Aus Gewohnheit schob Jeffrey das Whiteboard an die Wand und sammelte seine Unterlagen vom Rednerpult auf, ehe er ihm nach draußen folgte. Seine Nase pochte wieder heftiger. Vorsichtig fuhr er mit den Fingerspitzen darüber. Eindeutig ragte da etwas vor, was nicht vorragen sollte. Er hielt den Atem an, erhöhte den Druck und versuchte, die Knochen wieder in ihre ursprüngliche Lage zu drücken.
Das Wasser schoss ihm nur so in die Augen, der Schmerz war zu stark. Wenn er nicht für den Rest seines Lebens wie ein Gangster aus den Dreißigerjahren herumlaufen wollte, musste er möglichst schnell drei Städte entfernt einen Arzt aufsuchen, der bereit war, ihn zu behandeln.
»Chief?« Marla kam mit einer Packung Tiefkühlfritten in einer Hand und einer Packung Schmerzmittel in der anderen herein. »Die Pommes habe ich von Pete aus dem Diner. Er will sie zurückhaben.«
Jeffrey presste die Tüte an seine Nase und machte Marla ein Zeichen, die Tablettenschachtel zu öffnen. »Ist Lena schon zurück?«
»Ich habe sie auf dem Rückweg vom Diner vorfahren sehen.«
»Danke.« Jeffrey schluckte vier Ibuprofen ohne Wasser und ging zurück ins Dienstzimmer.
Lena zog gerade ihre unförmige Jacke aus. Wie üblich gab sie das Reh im Scheinwerferlicht, als sie ihn sah. Die Furcht in ihren Augen gefiel ihm nicht. Neunzig Prozent des Polizistenlebens bestanden darin, mit wütenden Männern fertigzuwerden. Wenn sie bei ihrem Vorgesetzten schon nicht damit klarkam, würde sie es draußen auf der Straße erst recht nicht schaffen.
»In mein Büro«, sagte er.
Lena folgte ihm und schloss die Tür, ohne dazu aufgefordert worden zu sein. Sie wollte sich setzen, aber er stoppte sie.
»Stehen bleiben.« Jeffrey warf die tiefgefrorene Pommestüte auf den Schreibtisch, als er Platz nahm. Die Abwärtsbewegung brachte seine Nase wieder heftiger zum Pochen.
»Chief …«
Er stieß den Zeigefinger auf die Kopien ihrer Notizen. »Was soll der Quatsch?«
Lena atmete geräuschvoll ein. Sie hatte geglaubt, ihren Anschiss hinter sich zu haben.
»Sehen Sie sich die an.« Er hielt ihr die Kopien hin. »Sie sind Polizistin. Sie wollen eines Tages Detective sein. Sagen Sie mir, was mit Ihren Notizen nicht stimmt, Detective in spe.«
Sie blickte auf die ordentlich gedruckten Worte, die sorgsam umrissenen Schritte ihrer verschiedenen Aktivitäten. »Sie sind …« Sie räusperte sich. »Es gibt keine Fehler.«
»Richtig«, sagte Jeffrey. »Keine Endlossätze, keine flüchtigen Bemerkungen, keine Streichungen, nicht einmal einen Rechtschreibfehler. Entweder Sie sind die verdammt noch mal intelligenteste Polizistin in diesem Gebäude oder die dümmste. Was meinen Sie?«
Lena legte die Kopien auf seinen Schreibtisch zurück und trat von einem Fuß auf den anderen.
»Welche Notizen soll ich behalten, Lena? Welche sollen Gerald Caterinos Anwälte beschlagnahmen lassen? Oder die von Bonita Truong, weil ihre Tochter ermordet wurde, weil sie ihr sagten, sie soll allein zum College zurückgehen.«
Lena blickte zu Boden.
»Sie werden vereidigt werden. Welche Notizen entsprechen der Wahrheit?«
Lena sah ihn nicht an, als sie die Hand auf die Kopien legte. »Die hier.«
Er lehnte sich zurück. Die Tiefkühlpackung hinterließ langsam einen nassen Fleck auf seinem Schreibtisch. »Wo ist ihr Originalnotizbuch?«
»Zu Hause.«
»Werden Sie es los«, sagte er. »Wenn das hier Ihre Entscheidung ist, müssen Sie zu ihr stehen.«
»Ja, Sir.«
»Erzählen Sie mir von Ihrer Befragung Truongs.«
Lena trat wieder nervös von einem Fuß auf den anderen. »Ich fragte sie, ob sie noch jemanden in der Gegend gesehen hätte. Sie sagte, sie sei auf dem Weg in den Wald an drei Frauen vorbeigekommen. Sie gingen in Richtung College. Zwei von ihnen trugen die Farben der Grant Tech. Die andere nicht, aber sie sah trotzdem wie eine Studentin aus. Leslie kannte keine von ihnen. Ich habe sie sehr eindringlich …«
»Und der Mann?«
»Sie dachte, er könnte ebenfalls ein Student gewesen sein.« Lena erwiderte kurz seinen Blick, sah aber sofort wieder zur Seite. »Alles, woran sie sich erinnerte, war die Strickmütze. Sie war aus schwarzer Wolle, eine Beanie. Sie konnte sich nicht an seine Gesichtszüge erinnern oder an seine Haar- oder Augenfarbe oder wie groß er war oder wie kräftig. Sie sagte, er habe einfach ganz normal gewirkt, wahrscheinlich ein Student. Er joggte den Weg entlang.«
»Joggte? Er lief nicht?«
»Da habe ich auch gleich nachgefragt, und sie sagte, es war definitiv ein Jogger. Er benahm sich nicht verdächtig oder so. Sie hielt ihn einfach für einen Studenten.«
»Wenn sie Student sagte, meinte sie, dass er in dieser Altersgruppe war?«
»Auf meine Frage sagte sie, zu seinem Alter könne sie nichts sagen, nur dass er rannte, als wäre er noch jünger. Wenn ältere Leute laufen, sind sie vielleicht langsamer oder haben Knieschmerzen oder so.« Sie zuckte mit den Achseln. »Verzeihung, Chief. Ist sie … ist sie tot, weil ich …«
Ihre Blicke trafen sich. Diesmal wandte sie die Augen nicht ab.
Franks Worte kamen Jeffrey in den Sinn. Er konnte sie jetzt auf der Stelle fertigmachen, konnte sie mit ein paar Worten in den Staub treten, und sie würde nie wieder irgendwo als Polizistin arbeiten.
»Sie ist tot, weil jemand sie ermordet hat«, sagte er.
Ihre Augen glänzten feucht im Lichtschein der Deckenlampe.
»Polizeidienst ist zu neunzig Prozent Sozialarbeit.« Er hatte es ihr schon früher gesagt, aber er hoffte inständig, dass sie die Lektion diesmal verstand. »Ich weiß, wie es im Streifendienst ist. Man stellt den ganzen Tag Strafzettel für Falschparker aus und hält nach Fußgängern Ausschau, die bei Rot über die Ampel gehen. Man langweilt sich zu Tode, und dann taucht eine Leiche auf, und es ist plötzlich aufregend.«
Lenas schuldbewusste Miene verriet ihm, dass er ins Schwarze getroffen hatte.
»Aufregung ist eine feine Sache, aber sie führt zu einem Tunnelblick. Man übersieht Dinge. Man macht dumme Fehler. Wir haben als Polizeibeamte nicht viel Spielraum. Wir müssen alles sehen. Das kleinste Detail kann den Unterschied zwischen Leben und Tod ausmachen.«
»Es tut mir leid, Chief. Es wird nicht wieder vorkommen«, versprach sie.
Jeffrey war noch nicht fertig. »Ich bin aus Birmingham hierhergezogen, weil ich es leid war, Drogendealer dafür einzusperren, dass sie andere Drogendealer erschossen haben. Ich wollte mich den Menschen, die ich beschütze, verbunden fühlen. Sie können eine gute Polizistin werden, Lena. Eine verdammt gute Polizistin. Aber Sie müssen an dieser Verbindung zu den Menschen arbeiten.«
»Ja, Chief, das werde ich.«
Jeffrey war sich nicht sicher, ob sie verdammt noch mal irgendetwas von dem tun würde, was er ihr sagte. Aber ob er jetzt noch zehn Minuten oder zehn Stunden auf sie einredete, es würde nichts ändern. »Setzen Sie sich.«
Lena setzte sich auf die Stuhlkante.
Jeffreys Nase hatte zu prickeln begonnen, als müsste er gleich niesen. Er drückte die tiefgefrorenen Pommes frites wieder an sein Gesicht. »Erzählen Sie mir von der Baustelle.«
Lena atmete rasch aus und holte ihr Notizbuch aus der Gesäßtasche. »Ich habe mit allen Leuten dort gesprochen. Sie bauen ein klimatisiertes Mietlager.«
Jeffrey bedeutete ihr mit einem Nicken, fortzufahren.
»Es gibt zusätzliche Arbeitskräfte von außen neben den normalen Bauarbeitern, wie zu erwarten. Leute, die Garagentüren einsetzen, Schweißer, Securitymänner und so weiter. Ich wollte das hier abtippen, aber …«
Sie bot ihm ihr Notizbuch an.
Jeffrey nahm es nicht. »Sie waren vor Ort. Ist irgendein Name aufgefallen?«
»Nein, eigentlich nicht.« Sie blickte auf, dann schlug sie die Augen wieder nieder. »Ich wollte alle Namen durch die Datenbank laufen lassen, um zu sehen, ob es Vorstrafen oder laufende Haftbefehle gibt, aber …«
Er wusste, dass jetzt etwas kommen würde, was ihm nicht gefiel, aber er sagte: »Raus damit.«
»Ich weiß, ich sollte zur Baustelle fahren und schnellstmöglich hierher zurückkommen, aber …« Lena sah ihn an. »Ich bin zum Home Depot in Memminger gefahren.«
Jeffrey verdaute die Information. Sie hatte – wieder einmal – seinen Befehl missachtet, aber ihr Instinkt war gut. Alle Bauunternehmer im Tri-County-Gebiet stützten sich auf die illegalen Einwanderer, die beim Home Depot herumlungerten und ihre Dienste anboten. Im Allgemeinen holten die Bauunternehmer sie am frühen Morgen ab, ließen sie für einen Sklavenlohn bis zur Erschöpfung schuften und setzten sie am Abend wieder beim Home Depot ab. Dann gingen sie am Sonntag zur Kirche und klagten darüber, wie Einwanderer das Land ruinierten.
»Und weiter?«, fragte er.
»Ich spreche kein Spanisch, aber ich nahm an, sie würden mit mir reden.« Lena wartete, bis er ihr mit einer Handbewegung andeutete, fortzufahren. »Erst hatten sie Angst wegen meiner Uniform, aber ich habe klargemacht, dass ich sie nicht schikanieren will, sondern nach Informationen suche?«
Ihre Stimme war beim letzten Wort nach oben gegangen – sie befürchtete also, dass sie wieder in Schwierigkeiten war.
»Haben sie mit Ihnen gesprochen?«, fragte Jeffrey.
»Ein paar davon, ja.« Lena war schon wieder zögerlich.
»Schauen Sie sich um, Lena. Niemand brüllt Sie an.«
»Es ist nur so, dass die Hälfte von ihnen sagte, sie würden auf der Storage-Baustelle arbeiten. Je nachdem, was gebraucht wird, haben sie mal Jobs und mal keine, aber sie betonten, es sei doch komisch, dass ein Gringo ebenfalls schwarz dort arbeitet.« Sie hielt inne und wartete auf ein Nicken. »Sie kannten seinen Namen nicht, aber alle nannten ihn BB. Also habe ich nachgebohrt, und einer der Typen sagte schließlich, dass es für Big Bit steht.«
»Big Bit«, sagte Jeffrey. Etwas an dem Namen ließ eine Alarmglocke schrillen. »Wie Bits bei Computern?«
»Weiß ich nicht«, sagte Lena, »aber ich dachte eher an Felix Abbott, weil …«
»Scheiße.« Jeffrey setzte sich so rasch auf, dass seine Nase in Brand geriet. »Felix hat zugegeben, dass er Little Bit genannt wird. Also muss es auch einen Big Bit geben. Und vielleicht ist Big Bit Daryl, und vielleicht hat Daryl Zugang zu einem dunklen Transporter. Wo ist Felix jetzt? Ist er noch in der Arrestzelle?«
Lena stand auf, weil auch Jeffrey aufstand. »Ich habe nachgesehen, als ich hier ankam. Sie machen ihn gerade für die Fahrt zum Gericht fertig. Seine Anhörung ist noch heute Morgen.«
»Holen Sie ihn. Zerren Sie ihn aus dem Bus, wenn es sein muss. Lassen Sie sich vom Wärter seine Akte geben und setzen Sie ihn ins Vernehmungszimmer. Los.«
Lena riss die Tür so heftig auf, dass die Glasscheibe wackelte.
»Frank?« Jeffrey sah ihn nicht im Dienstzimmer. Er rannte in die Küche. »Frank?«
Frank schaute hoch, er stand vor der Spüle und aß ein Schinkenbrötchen.
»Felix Abbott«, sagte Jeffrey. »Dreiundzwanzig. Skateboarder. Haschischdealer.«
»Wieso taucht sein Name schon wieder auf?« Aus Franks Mund fielen Krümel. »Suchen Sie ihn wegen der Überfälle?«
»Sollte ich?«
»Die Familiengeschichte ist eine einzige Jauchegrube, aber Überfälle? Nein, das nicht. Die jüngere Generation hat den kriminellen Familienhandel verplempert. Typisches Nachfolgeproblem. Sobald es in die dritte Generation geht, ist die Arbeitsmoral futsch.« Frank hustete noch ein paar Krümel heraus. »Ich würde mir den Vater des Jungen ansehen. Einen seiner …«
Jeffrey trat aus dem Streubereich, als er wieder hustete.
»Einen seiner Onkel, wollte ich sagen.« Frank spuckte ins Becken. Er drehte den Hahn auf, um die Speisereste hinunterzuspülen. »Es gibt fünf, sechs Familien in Memminger, die man sich anschaut, wenn irgendein krummes Ding läuft. Die Abbotts stehen ganz oben auf der Liste. Durch reines Glück bleiben sie allerdings sauber. Sie vermehren sich übrigens alle untereinander wie läufige Hunde.«
»Erzählen Sie mir von den Abbotts.«
»Hm, mal sehen, was mir noch einfällt.« Frank hustete noch einmal. »Wenn ich die Scheißtypen nicht durcheinanderbringe, sitzt der Großvater wegen Doppelmordes in Statesville. Granny hat versucht, ihn zu decken, und hat sich fünf Jahre im Frauenknast eingehandelt. Sie hatten sechs Söhne, die alle in Kneipenschlägereien verstrickt waren und ihre Frauen verprügelt haben, und es gibt so viele Kinder, Stiefkinder und uneheliche Kinder, dass sie niemand mehr zählen kann.«
»Heißt einer von ihnen Daryl?«
»Der Teufel soll mich holen, wenn ich das weiß. Sie sind ein Problem für die Kollegen in Memminger. Ich höre ihre Namen und lache nur.«
»Sie scheinen eine Menge über die Familie zu wissen.«
»Ich habe einmal im Monat Chorprobe mit einem Deputy aus Memminger County. Der Kerl singt richtig gut.«
Wenn Cops von Chorprobe sprachen, meinten sie nicht das, was in einer Kirche stattfand, sondern in einer Bar. »Hat mal ein Abbott am College gearbeitet?«
»Die würden den Hintergrundcheck niemals bestehen.«
»Was ist mit dem Spitznamen Big Bit? Ist der mal aufgetaucht?«
»Nö, aber bei unseren Chorproben wird immer ziemlich viel gebechert«, räumte Frank ein. »Ich kann da drüben anrufen und mich umhören.«
»Tun Sie das. Wenn ich beweisen kann, dass Daryl der Gringo ist, der auf der Baustelle an der Mercer Avenue unter Big Bit läuft, dann haben wir ihn in unmittelbarer Nähe der Forststraße, die zum Tatort im Fall Truong führt.«
»Verdammt.«
»Ganz recht. Klemmen Sie sich ans Telefon.« Jeffrey machte sich halb im Laufschritt auf den Weg zum Vernehmungsraum.
Lena führte Abbott gerade den Flur entlang. Seine Hände waren mit Handschellen auf den Rücken gefesselt. Er schlurfte, obwohl er keine Kette an den Füßen hatte, und er roch nach Kriminalität. Das war nicht seine erste Verhaftung. Er streckte die Brust raus wie ein kleiner Gauner, der einen Cop herausforderte, ihm eine zu kleben.
Jeffrey fühlte sich versucht, aber er öffnete stattdessen die Tür zum Vernehmungszimmer und wartete, dass der Junge hineinging. Felix fletschte die Zähne, als er an ihm vorbeikam. Schultern gerade, Brust raus.
Trotz seines großspurigen Auftretens sah er aus wie ein normaler Kerl Anfang zwanzig. Nicht zu groß, nicht zu dünn, lange braune Haare, genau wie ihn Chuck beschrieben hatte. Er war wie ein Skateboarder gekleidet, trug weite Shorts, ein ausgewaschenes Ramones-T-Shirt, ein Hoodie mit Reißverschluss. Der blaue Fleck an seiner Wange verriet Jeffrey, dass Lena ihn vom Skateboard geholt hatte, ohne lange zu fackeln.
Felix betrachtete Jeffreys lädierte Nase und fragte: »Hat Ihnen die Schlampe auch eine verpasst?«
Jeffrey zog das zusammengeknüllte Toilettenpapier aus den Nasenlöchern und warf es in den Abfalleimer. Der Raum war klein, typisch für die meisten Polizeistationen. Ein in den Boden geschraubter Tisch. Stühle zu beiden Seiten. Ein Einwegspiegel zu einem winzigen Beobachtungszimmer, das gleichzeitig als Lagerschrank diente.
Lena warf Felix Abbotts Arrestakte auf den Tisch.
Jeffrey setzte sich nicht. Er stand über die Akte gebeugt und überflog den Inhalt. Felix war zweimal verhaftet worden, beide Male wegen Drogenbesitzes, und beide Male hatte er nicht mehr als einen Klaps bekommen. Er trug zahlreiche Tätowierungen und wurde Little Bit genannt. Seinem Führerschein zufolge wohnte Felix in Memminger. Jeffrey kannte die Dew-Lolly-Adresse, es war ein schäbiges Motel, das Zimmer wochenweise vermietete. Alles, was er von dem Jungen brauchte, war ein Name, nicht einmal ein Vorname. Sein Gefühl sagte ihm, wenn er diesen Daryl fand, ergab sich entweder eine Spur, oder es war bereits die Spur, die diesen Fall knackte.
Jeffrey blickte auf. Felix hatte den Kiefer wieder vorgeschoben, wie um ihn zu einem Schlag einzuladen. Auf seinem Kinn blühte ein Pickel. Die weiße, eitergefüllte Spitze starrte Jeffrey an wie ein wässriges Auge.
»Setz dich«, sagte Jeffrey.
Felix ließ sich Zeit, um den Tisch herumzuschlurfen. Lenas Hände krallten sich in seine Schultern. Sie stieß ihn auf den Plastikstuhl.
»He, verdammt!«, maulte Felix.
Jeffrey gab Lena ein Zeichen, sich gegenüber von Felix zu setzen. Er verschränkte die Arme und starrte den Jungen böse an.
Felix sah zu Jeffrey hoch, dann wieder zu Lena. Sie hatte ebenfalls die Arme verschränkt.
Jeffrey fing harmlos an. »Du bist mit ein paar Tütchen verhaftet worden.«
»Und?«, fragte Felix.
»Das ist deine dritte Verhaftung wegen Rauschgiftbesitzes. Ich habe bereits den Staatsanwalt angerufen. Wir greifen neuerdings in unserer Stadt bei Rückfalltätern hart durch.«
Felix zuckte mit den Schultern. »Und?«
»Und das heißt, dass dich diesmal ein Gefängnis für große Jungs erwartet, nicht ein weiterer Urlaub im County-Knast.«
Seine Schultern zuckten wieder. Wahrscheinlich saßen Onkel von ihm im Gefängnis. Sein Weg würde leichter sein als der von anderen.
Dennoch wartete Jeffrey auf eine Reaktion.
»Und?«, sagte der Junge zum dritten Mal.
Lenas Arm schoss vor. Sie schlug Felix mit der offenen Hand ins Gesicht.
»Heilige Scheiße, Lady!« Felix sah Jeffrey an. »Was soll das, Mann?«
Jeffrey nickte.
Lena schlug ihn wieder.
»Hey!«, rief Felix. »Was wollt ihr?«
»Du wirst Little Bit genannt«, sagte Jeffrey.
»Sch…« Er überdachte kurz seine Antwort. »Ist das strafbar?«
»Woher hast du den Spitznamen?«
»Von meinem … Ich weiß nicht. Von einem meiner Onkel? Ich war klein. Sie waren alle groß.«
Big.
»Himmel.« Felix rieb sich mit der Schulter die Wange. »Was ist bloß los mit dir, Miststück?«
Jeffrey schnalzte mit den Fingern. »Zerbrich dir nicht den Kopf über sie. Sieh mich an.«
»Worüber sollte ich mir sonst den Kopf zerbrechen, Mann.« Er sprach Lena an. »Sie müssen damit aufhören, okay? Es tut echt weh.«
Jeffrey atmete tief ein. Er hätte den kleinen Dreckskerl am liebsten geschüttelt, bis ihm die Zähne aus dem Mund fielen, aber wenn man von einem Verdächtigen eine Information erhalten wollte, war es die schlechteste Methode, ihm zu zeigen, dass man sie brauchte. Er stützte sich mit den Knöcheln auf dem Tisch ab und beugte sich vor. »Ist es dir lieber, wenn ich dich schlage?«
Felix schüttelte den Kopf so heftig, dass seine Haartolle herumschwang.
Jeffrey starrte weiter zornig auf ihn hinunter. Irrte er sich mit Daryl als ihrem Hauptverdächtigen? War Felix der Mann, der Beckey Caterino überfallen hatte? Der Leslie Truong einen Hammer so heftig zwischen die Beine gerammt hatte, dass der Kopf abgebrochen war?
»Ich brauche einen Arzt.« Er rieb immer noch seine Wange. Seine Unterlippe war angeschwollen.
Wenn er ein Psychopath war, dann ein verdammt fähiger.
Jeffrey fragte: »Wo warst du vorgestern zwischen fünf und sieben Uhr morgens?«
»Vorgestern?« Felix schwenkte seine Tolle auf die richtige Seite. »Scheiße, Mann, keine Ahnung. Hab in meinem Bett geschlafen?«
Lena holte Notizbuch und Stift hervor.
Felix wirkte nun nervös bei der Aussicht, dass seine Aussagen aufgezeichnet wurden.
»Du hast vor zwei Tagen zwischen fünf und sieben Uhr morgens in deinem Bett geschlafen?«, wiederholte Jeffrey.
»Ähm, vielleicht?« Er sah Lena an, dann Jeffrey. »Ich weiß nicht, Mann. An einem Tag bin ich in der Ausnüchterungszelle drüben in Memminger aufgewacht. Ich weiß nicht mehr, ob das an dem Tag war.«
Jeffrey sah, wie Lena einen Gedankenstrich neben den Eintrag machte, weil sie dem möglichen Alibi nachgehen wollte.
»Der Chef vom Campus-Sicherheitsdienst hat dich als allseits bekannten Haschischdealer identifiziert.«
Felix widersprach nicht.
»Warst du gestern im College?«
»Ja, Mann. Ich war mit dem Skateboard vor der Bibliothek zugange, hab grandiose Benihanas performt. Wenn man den Wachleuten einen Fünfziger zusteckt, schauen sie weg.«
Es überraschte Jeffrey nicht, dass Chucks Leute Schmiergeld nahmen. Er warf einen Blick auf Lenas Notizbuch. Sie hatte einen weiteren Gedankenstrich gemacht, um später die Bilder der Überwachungskamera vor der Bibliothek zu überprüfen.
»Gehst du manchmal in den Wald?«, fragte er Felix.
»Was?« Felix sah angewidert aus. »Nein, Mann. Im Wald kann man nicht skaten. Da ist Erde und lauter so Scheiß.«
»Hat in deiner Familie sonst noch jemand einen Spitznamen?«
»Ja. Und?« Er zuckte zurück, weil er wieder eine Ohrfeige erwartete. »Was zum Teufel ist los mit euch beiden? Ich dachte, ihr bietet mir einen Deal an.«
»Einen Deal wofür?«
»Keine Ahnung. Meinen Lieferanten?«
»Keine Deals«, sagte Jeffrey. »Erzähl mir von den Spitznamen.«
Felix war so verwirrt, dass er tatsächlich antwortete. Sein Großvater wurde Bumpy genannt, ein Onkel hieß Rip, es gab einen Bubba und noch weitere, was Jeffrey nicht überraschte. Männer gaben einander Spitznamen. Er war in der Highschool Slick genannt worden, sein bester Freund Opossum.
»Mein Onkel Axle sitzt in Wheeler, was irgendwie witzig ist. Axle wie Achse, Wheel wie Rad, kapiert?«
Jeffrey hatte Frank so verstanden, dass die Abbotts nicht viel von Familienplanung hielten. Es konnte durchaus sein, dass Felix einen Onkel in seinem Alter hatte.
»Wie lange sitzt Axle schon?«, fragte er.
»Drei Monate? Keine Ahnung. Das könnt ihr ja nachschauen.«
Jeffrey sah, wie Lena einen weiteren Gedankenstrich machte.
»Arbeitet Axle an Autos?«
»Klar, deshalb heißt er ja so. Er ist nicht in Wheeler zur Welt gekommen.«
Jeffrey dachte an den Schlosserhammer. »Arbeitet er an Karosserien, repariert er Beulen und Kratzer?«
»Er arbeitet an allem, Mann. Der Typ ist ein Autofreak und ein Genie. Er kann sogar Skateboards reparieren.«
Jeffrey schaltete in Gedanken einen Gang zurück. Er hatte nur eine Chance bei dem Jungen. »Ihr beide müsst euch gut leiden können, wenn er an deinen Skateboards arbeitet.«
»Nee, Mann. Axle macht keinen Finger für mich krumm. Er kann mich nicht ausstehen.«
Jeffrey hatte zu schwitzen angefangen. Er spürte, dass er nahe dran war. »Für wen repariert Axle die Skateboards?«
»Für seinen Sohn, das ist aber nicht wirklich sein Sohn, ich meine, er hat ihn nie adoptiert, nicht mal, als seine Mom gestorben ist.« Felix schüttelte sich die Haare aus den Augen. Er fühlte sich bei diesen Fragen sichtlich wohler, und genau das war Jeffreys Absicht. »Mein Cousin, das war der, der mich zum Skaten gebracht hat. Seitdem bin ich wie sein Schatten. Der Typ war dabei, als ich meinen ersten Alley-Oop geschafft habe.«
Mein Cousin.
Lena blickte von ihrem Notizbuch auf.
Felix’ Blick huschte in ihre Richtung.
Jeffrey wog seine Möglichkeiten ab. Sie konnten eine Suche nach Felix’ Onkeln starten und den finden, der mit Spitznamen Axle hieß und im Wheeler State Prison einsaß, dann hinfahren und den Häftling über diesen Ziehsohn ausquetschen.
Oder Jeffrey konnte sich mit Frank ans Telefon setzen und herumtelefonieren, ob irgendwer über den Jungen Bescheid wusste, den Axle aufgezogen hatte und der rechtlich gesehen nicht sein Sohn war.
Oder Jeffrey konnte die Antwort auf der Stelle von diesem kleinen Hosenscheißer bekommen.
Wieder kreiste er um sein Ziel und fragte: »Was ist ein Alley-Oop?«
»Das ist der reine Wahnsinn, Mann. Du drehst dich in die eine Richtung und springst in die andere, wie ein Fisch, der aus dem Wasser schnellt.«
»Klingt schwierig.«
»Und ob. Du kannst krass auf die Hüfte knallen.«
»Wie heißt dein Cousin?«
Als wäre ein Schalter umgelegt worden, änderte sich Felix’ Haltung. Er war nicht mehr im relaxten Skater-Modus. Er war ein Junge aus einer kriminellen Familie, der in einer üblen Gegend lebte und wusste, dass man seine Verwandtschaft nicht verpfiff. »Wieso?«
Jeffrey ging in die Knie, sodass er mit Felix auf Augenhöhe war. »Er wird Big Bit genannt, richtig? Und du bist Little Bit, weil du sein Schatten bist.«
Felix’ Blick huschte wieder zu Lena, dann zurück zu Jeffrey. Er wollte herausfinden, ob er schon zu viel verraten hatte.
Jeffrey konnte nur raten, welche Zusammenhänge er herzustellen versuchte. Er musste die Worte von Felix hören. Er zeigte Lena mit einer Kopfbewegung, dass sie den Raum verlassen sollte.
Lena klappte ihr Notizbuch zu, klickte auf ihren Kugelschreiber und ging hinaus.
Jeffrey ließ sich Zeit, aufzustehen. Er ging langsam zu Lenas Stuhl, damit sie genügend Zeit hatte, ihren Platz draußen hinter dem Spiegel einzunehmen.
Dann setzte er sich und verschränkte die Hände unter dem Tisch.
Er versuchte, sich alle Möglichkeiten offenzuhalten, und sagte: »Daryl ist nicht in Schwierigkeiten.«
»Verdammt.« Felix stampfte mit dem Fuß auf. »Verdammt, verdammt, verdammt.«
Jeffrey fasste es als Bestätigung auf, dass er auf der richtigen Spur war. Er versuchte, sich in Felix’ Lage zu versetzen. Er würde seinen Cousin nicht hinhängen. Zumindest nicht absichtlich. »Felix, ich will ehrlich zu dir sein. Es geht um die Baustelle an der Mercer.«
Der Fuß hörte auf zu stampfen. »Das Lagerhaus?«
»Das FBI wird gerade hinzugezogen, um der OSHA zu helfen.« Die Lüge breitete sich wie eine Droge in Jeffreys Gehirn aus. »Du weißt, was für eine Behörde die OSHA ist?«
»Die kommen, wenn bei der Arbeit jemand verletzt wird, weil die Bosse es mit den Vorschriften nicht so genau genommen haben.«
»Richtig«, sagte Jeffrey. »Auf der Baustelle an der Mercer kam es zu Verstößen gegen die Arbeitssicherheitsbestimmungen, und die OSHA sucht nach Zeugen, die gegen die Bosse aussagen. Sie wissen, dass Big Bit auf der Baustelle gearbeitet hat. Sie wollen vertraulich mit ihm reden.«
Felix hob die gefesselten Hände und zupfte an seinem Pickel. »Wie schwer waren die Verletzungen?«
»Sehr schwer.« Jeffrey stritt mit sich, wie er weiter vorgehen sollte. Wäre das Angebot einer erfundenen Belohnung zu offensichtlich? Sollte er wieder zum Skateboarden zurückkehren?
Am Ende entschied er sich dafür, den Mund zu halten, und es fiel ihm genauso schwer, es durchzuhalten, wie Felix.
Der Junge brach als Erster sein Schweigen. »Ich will meinen Cousin nicht unter Zugzwang setzen, okay?«
Jeffrey beugte sich vor. »Machst du dir Sorgen wegen seines Vorstrafenregisters?«
Felix’ Gesichtsausdruck bestätigte seine Vermutung. Sein Cousin war bereits verhaftet worden, möglicherweise standen noch ein, zwei Haftbefehle aus. Aus diesem Grund hatte Big Bit genau wie die Tagelöhner ohne Arbeitspapiere gegen Bargeld auf der Baustelle gearbeitet. Er konnte nicht riskieren, dass seine Sozialversicherungsnummer irgendwo auftauchte.
»Es interessiert mich nicht, ob er früher schon in Schwierigkeiten war«, sagte Jeffrey. »Darum geht es hier nicht.«
»Sie kapieren es nicht, Mann. Ich hab doch gesagt, ich bin sein Schatten, seit ich noch ein Kind war.«
Jeffrey gab die Lüge auf. Er setzte auf eine zuverlässigere Motivation: Eigeninteresse. »Also gut, Felix. Wie sehr willst du einen Deal? Noch bist du nicht dem Haftrichter vorgeführt worden. Ich könnte die Anklage wegen der Tütchen fallen lassen. Hey, ich könnte den ganzen Papierkram irgendwo verlegen. Sag mir einfach seinen Namen, und du kannst auf der Stelle hier rausspazieren.«
Felix fing wieder an, seinen Pickel zu bearbeiten.
Jeffrey atmete tief durch die gebrochene Nase, ein leises Pfeifen war zu hören. Das führte zu nichts. Er musste eine Entscheidung treffen.
Er gewährte dem Jungen eine letzte Chance. »Und?«
»Und was?« Felix war jetzt wieder wütend. »Er ist nicht mal mein richtiger Cousin, okay? Mein Onkel Axle hat seine Mutter ungefähr zweimal gebumst, bevor sie an einer Überdosis gestorben ist, und dann hatte er ihn am Hals. Ich meine, wir kommen gut klar, aber eigentlich sind wir gar nicht verwandt. Wir haben nicht mal denselben Nachnamen.«
Jeffrey presste die Lippen zusammen und wartete.
»Ja, gut«, sagte Felix schließlich. »Er wohnt in Axles Haus, okay? Ich sitze quasi mit verdammten Meth-Freaks in Dew-Lolly fest, und er wohnt mietfrei oben in Avondale.«
»Ich brauche seinen Namen, Felix.«
»Nesbitt«, sagte Felix. »Daryl Nesbitt.«
Jeffrey spürte, dass er zum ersten Mal seit zwei Tagen freier atmete. Er genoss fast eine volle Sekunde Erleichterung, bevor die Tür krachend aufflog.
»Chief?«, sagte Frank. »Ich brauche Sie.«
Jeffrey stand auf. Ihm war schwindlig.
Daryl Nesbitt.
Er musste sich Felix noch einmal vorknöpfen, herausfinden, warum Caterino und Truong Daryls Nummer in ihren Handys hatten. War Daryl an dem Haschischgeschäft beteiligt? Reichte die Telefonnummer als Begründung aus, um Nesbitt mitzunehmen?
Nesbitt hatte auf der Baustelle nahe der Forststraße gearbeitet. Sein Vater reparierte kaputte Autos. Axle Abbott hatte wahrscheinlich einen rückschlagfreien Schlosserhammer in seinem Werkzeugkasten, und diesen Werkzeugkasten benutzte möglicherweise sein Ziehsohn, während Dad im Gefängnis war.
Hatte Daryl Zugang zu einem dunklen Transporter? War er in den letzten beiden Tagen in der Nähe des Colleges gewesen? Jeffrey würde Telefonunterlagen brauchen. Kreditkartenauszüge. Soziale Medien.
»Hier rüber.« Frank zog ihn in den Flur. Etwas stimmte nicht.
Jeffrey bemühte sich, die Liste in seinem Kopf zu schließen, und sagte zu Frank. »Ich habe Daryls …«
»Der Dekan hat gerade angerufen«, sagte Frank. »Es ist noch eine Studentin verschwunden.«