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EINE WOCHE SPÄTER
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Sara schaute aus ihrem Bürofenster. Die Sonne ging gerade unter, und der Parkplatz an der GBI-Zentrale war nahezu leer. Sie sah Wills Auto neben Faiths Wagen stehen. Saras Porsche war zu Hause. Will hatte in den letzten Tagen darauf bestanden, sie zu fahren. Amandas Acura stand einige Plätze näher beim Haupteingang.
Sie wandte sich wieder ihrem Laptop zu, auf dem sie das Video aus Brocks Büro angehalten hatte. Der einzige Teil, der sie interessierte, waren die letzten sechzehn Sekunden.
Sara studierte Dan Brocks Gesicht.
Sie hätte gern Wahnsinn darin gesehen, Gefahr, Aggression …
Aber es war einfach nur sein vertrautes Gesicht.
Er hatte sie gebeten, sich um seine Mutter zu kümmern. Myrna Brock war tot in ihrem Zimmer in der Senioreneinrichtung aufgefunden worden. Sie war geschminkt, und ihr Haar war zurechtgemacht. Auf ihrem Nachttisch lag eine leere Spritze. Die Rückstände darin waren schmutzig braun. Die Analyse zeigte, dass ihr Sohn ihr einen sogenannten Hotshot injiziert hatte: Heroin, vermischt mit einer tödlichen Substanz, in diesem Fall Balsamierflüssigkeit.
Die gleichen Chemikalien hatte man in der Spritze gefunden, die sich Brock selbst gesetzt hatte.
Er hatte Sara zur Vollstreckerin seines Nachlasses bestimmt. Er hatte genaue Anweisungen hinterlassen, wie mit den sterblichen Überresten seiner Mutter zu verfahren sei. Er hatte alles im Voraus bezahlt, eine übliche Praxis in der Branche. Sara hatte dafür gesorgt, dass Myrna ein anständiges christliches Begräbnis in den Heartsdale Memorial Gardens bekam. Ihre eigene Mutter hatte am Grab gestanden, der Rest der Stadt war ferngeblieben.
Was Brocks sterbliche Reste betraf, so hatte er in seinen Unterlagen nichts Konkretes dazu bestimmt. Er hatte es Sara überlassen, seine Leiche zu beseitigen. Sie stellte sich vor, dass er dachte, Sara würde gütig sein.
Sie hatte seine Einäscherung aus eigener Tasche bezahlt und hatte dann im Bestattungsinstitut vor der Kloschüssel gestanden und die Spülung so lange betätigt, bis der letzte Rest seiner Asche verschwunden war.
Sara klickte auf den Balken, um das Video weiterlaufen zu lassen.
Brock sagte gerade: »Ich habe diesen Frauen eigentlich keine Wahl gelassen …«
Sie schloss die Augen, aber sie hatte die Szene so oft gesehen, dass sie trotzdem den Anflug eines Lächelns auf Brocks Gesicht vor sich sehen konnte. Brock hatte von dem Moment an, in dem Sara in sein Büro gekommen war, alles unter Kontrolle gehabt. Sie hatte gesehen, wie er die Ärmel aufgerollt hatte. Er hatte den Hotshot fertig vorbereitet gehabt. Er hatte ihn in einem seiner Ordner verborgen. Er hatte dafür gesorgt, dass seine Mutter nie von seinen Verbrechen erfahren würde. Er hatte Sara mit Gina Vogels Leben geködert.
Anders als seine Opfer war er zu seinen eigenen Bedingungen abgetreten.
In dem Video sagte Brock jetzt: »Ich hatte immer eine Vorliebe für Forststraßen.«
Sara öffnete die Augen. Das war der Teil, der sie immer sprachlos machte. Der einzige Hinweis darauf, dass sich Brock in diesem Moment die Spritze setzte, war ein kaum wahrnehmbares Zucken in seinen Schultern.
Sie hörte ihr eigenes schockiertes Aufstöhnen.
Er drückte den Kolben.
Sie stoppte das Video.
Gina Vogel. Noch immer zu retten.
Sara ballte die Hand zur Faust. Die altbekannten Vorhaltungen gegen sich selbst liefen ab wie Eilmeldungen am unteren Rand eines Fernsehschirms. Diese Hand hatte einen geladenen Revolver umklammert. Diese Hand hätte die Spritze packen können. Diese Hand hätte Dan Brock ins Gesicht schlagen, auf ihn einprügeln können, statt in ihrer Jackentasche zu verharren.
Sara wusste nicht, wohin mit ihrem Zorn. Ein Teil von ihr sehnte sich danach, Brock in Fesseln und mit hängendem Kopf durch einen Gerichtssaal schlurfen zu sehen, wo seine Brutalität vor aller Welt offengelegt wurde.
Dann war da der Teil von ihr, der in diesem Gerichtssaal auf der anderen Seite gesessen hatte – als Opfer, das seinen Vergewaltiger sah. Die Augen geschwollen vom Weinen. Die Kehle wund vom Weinen. Die den Zeugenstand betrat und kraftlos den Arm hob, um auf den Mann zu zeigen, der ihr das Selbstwertgefühl geraubt hatte.
Hätte Tommi Humphrey das geschafft? Hätte sie durch einen vollbesetzten Gerichtssaal gehen und als Zeugin aussagen können? Hätte die Gelegenheit, Brock gegenüberzutreten, ihre Seele geheilt? Sara würde keine Chance mehr haben, sie danach zu fragen. Tommi hatte Saras Nummer blockiert. Delilah hatte ihren E-Mail-Account gelöscht.
Callie Zanger war es nicht vergönnt gewesen, unbehelligt zu bleiben. Faith hatte es ihr persönlich gesagt. Die Frau hatte ein Recht, es zu erfahren. Es war kein Geheimnis, das sie wahren mussten.
Die Opfer und ihre Familien würden alle nicht lange im Besitz ihrer Geheimnisse bleiben. Die Nachrichtenagenturen klagten bereits auf Herausgabe von Informationen nach den sogenannten Sunshine Laws Georgias. Sie wollten Zugang zu den grünen Ordnern erhalten.
Dan Brock hatte zahlreiche Seiten hinterlassen, auf denen er seine Verbrechen gegen die Lebenden und die Toten penibel dokumentiert hatte. Seine Stalking-Tagebücher reichten bis zur Highschool zurück. Er hatte zum ersten Mal vergewaltigt, als er die Ausbildung zum Bestatter machte. Tommi Humphrey war sein erster Fall von Verstümmelung gewesen. Rebecca Caterino das erste Opfer, das er gelähmt hatte. Leslie Truong sein erster Mord.
Seine Aufzeichnungen beinhalteten Angaben zu Haar- und Augenfarben seiner Opfer, zu ihrem Körperbau sowie Informationen zu ihrer Persönlichkeit. Seine Sammlung gestohlener Haaraccessoires hatte er bis zum genauen Fundort beschrieben. Brock hatte seine Fähigkeiten als Coroner an den Tatorten eingebracht, hatte Wunden und Schnitte beschrieben, die Orte genau aufgeführt, die Entartungen, die wiederholten Besuche, die schwindende Wirkung des Rohypnols, den Punkt, an dem er beschlossen hatte, sie dauerhaft zu lähmen, die ungefähre Todeszeit, die Schnittwerkzeuge, die er benutzt hatte, um Blut fließen zu lassen, damit die Tiere sich danach um verräterische Spuren kümmerten.
Mord, Vergewaltigung, sexueller Angriff, Stalking, erzwungener Analverkehr, Leichenschändung, Nekrophilie.
Dan Brock hatte an die hundert Anklagepunkte gegen sich angehäuft.
Und dann hatte er dafür gesorgt, dass er sich für keinen einzigen verantworten musste.
»Hilfe!« Faith klopfte an den Türrahmen, als sie das Büro betrat. Sie streckte Sara ihr Telefon entgegen. »Ist das Ebola?«
Sara betrachtete das Foto von dem Ausschlag auf Emmas Bauch. »Hast du dein Waschmittel in letzter Zeit gewechselt?«
»Bestimmt hat ihr knauseriger Vater das getan.« Faith sank auf einen Stuhl. »Wir haben jetzt das gesamte Material der Überwachungskamera aus Callie Zangers Gebäude durchgesehen. Brock war drei Monate vor dem Überfall auf sie in ihrem Büro, genau wie er es in seinem Stalking-Tagebuch beschrieben hat.«
Sara wusste, sie würden die nächsten Monate damit verbringen, die Einzelheiten aus Brocks Ordnern zu verifizieren. Nur ein Narr würde ihn beim Wort nehmen. »Was Neues über den Mann mit der schwarzen Mütze von Leslie Truongs Tatortvideo?«
»Nichts. Es ist VHS. Außer einem hellen Klecks ist nichts zu sehen.«
Sara blickte wieder auf das angehaltene Video. Brocks Daumen ruhte auf dem Kolben der Spritze. Sie hätte ihn gern so gelassen – für alle Zeit in seinem Vorhaben erstarrt, den leichtesten Weg zu nehmen.
»Ich sage dir das als Freundin«, sagte Faith. »Du musst aufhören, dir dieses Video anzusehen.«
Sara klappte den Laptop zu. »Ich hätte etwas tun sollen.«
»Du vergisst, dass du Gina Vogel das Leben gerettet hast, indem du überhaupt in dieses Büro gegangen bist«, sagte Faith. »Wenn du nach dieser Nadel gegriffen hättest, hätte Brock dir das Zeug injizieren können. Oder dich schlagen. Oder etwas Schlimmeres, Sara, denn er war zwar aus irgendeinem Grund nett zu dir, aber er war auch ein Psychopath, der Frauen verstümmelt und ermordet hat.«
Sara verschränkte die Hände im Schoß. Will hatte das Gleiche zu ihr gesagt. Immer wieder. »Ich bin so wütend, dass er Handlungsmacht hatte. Er durfte es nach seinen Bedingungen beenden.«
»Tot ist tot«, sagte Faith. »Nimm den Gewinn mit.«
Nichts davon war ein Gewinn. Alle hatten verloren.
Außer Lena Adams. Nichts, was sie gefunden hatten, widerlegte ihre Zeugenaussage, wie die kinderpornografischen Aufnahmen auf Daryl Nesbitts Computer entdeckt wurden. Einmal mehr war es ihr gelungen, ungeschoren davonzuspazieren.
Nur dass sie diesmal mit einem Baby auf dem Arm davonspazierte.
Sara brauchte nicht noch etwas, worüber sie sich aufregen konnte. Sie wechselte das Thema. »Wie geht es Gina Vogel?«
»Vielleicht okay. Sie sprach davon, nach Peking zu ziehen, dann sagte sie, sie könne niemals Atlanta verlassen.« Faith zuckte mit den Achseln. »In einer Minute weint sie, in der nächsten lacht sie, dann heult sie wieder los. Ich denke, sie wird es überstehen, aber was weiß ich schon?«
Sara wusste es ebenfalls nicht. Sie selbst hatte den Weg zurückgefunden. Keine Ahnung, wie oder warum. Manche Menschen hatten einfach Glück.
»Daryl Nesbitt ist im Krankenhaus. Sein Bein ist septisch.« Der Zustand des Mannes schien Faith nicht zu beunruhigen. »Die Ärzte sagen, es sieht nicht gut aus. Sie werden noch mehr von seinem Bein abnehmen müssen.«
Sara wusste, das wäre der Anfang vom Ende für Daryl Nesbitt. Der rationale Teil von ihr wollte gegen das ungewöhnlich grausame System aufbegehren, aber ein niederer Anteil ihres Wesens war froh, dass Daryl bald nicht mehr da wäre. Der Verlust von Jeffrey hatte sie gelehrt, dass Gerechtigkeit manchmal einen Schubs brauchte.
Sie fragte: »Wie steht es mit Daryls Angebot, Erkenntnisse über den Schmuggel von Telefonen ins Gefängnis zu tauschen?«
»Jetzt, da er weiß, dass er die Anklage wegen Pädophilie nicht aus seiner Akte bekommt, interessieren ihn die Telefone einen Scheißdreck.«
»Einmal Verbrecher, immer Verbrecher.« Sara nahm Faiths Sicht der Dinge vorweg.
»Zumindest trägt Gerald Caterino einen Gewinn davon.« Sie zuckte mit den Achseln. »Er lässt uns Heaths DNA nicht mit der von Brock vergleichen. Aber soviel ich gehört habe, ist der Junge jetzt in der Grundschule angemeldet. Das ist doch etwas, oder?«
»Es ist etwas.« Sara fragte sich, ob Gerald den Zustand der Unsicherheit zu bewahren versuchte. Eines Tages würde Heath nach den Umständen seiner Geburt fragen. Es fiel leichter zu lügen, wenn man nie nach der Wahrheit gesucht hatte.
»Ich habe gehört, Miranda Newberry hat sich schuldig bekannt, um Strafminderung zu erhalten«, sagte Sara.
»Sie ist in achtzehn Monaten wieder draußen.« Faith klang bitter enttäuscht. Gerald Caterino war nicht Mirandas einziges Opfer. Sie hatte Dutzende trauernde Eltern und Partner um Zehntausende von Dollar geprellt.
»Sie hat solide Detektivarbeit geleistet«, gab Sara zu bedenken. »Fast alle Namen in ihrer Tabelle erwiesen sich als richtig.«
»Sie hätte auf die Polizeischule gehen können oder eine Lizenz als Privatdetektiv erwerben, wenn sie das gewollt hätte.« Faith hatte sich alles hart erarbeitet, und sie hatte wenig Verständnis für Leute, die es nicht taten. »Du weißt, wie man so schön sagt: ›Wenn du den Clown spielst, kommt der Clown zurück und beißt dich.‹«
»Jane Austen?«
»Mo’Nique.« Faith stieß sich aus dem Stuhl hoch. »Ich muss los. Bitte hör auf, dir dieses Video anzusehen.«
Sara zwang ein Lächeln auf ihre Lippen, bis Faith draußen war.
Dann klappte sie den Laptop auf und ließ das Video wieder laufen.
Brock legte gerade das weiße Band über die grünen Ordner.
Sara hatte keine Ahnung, warum sie sich eigentlich so deutlich an den Verlust des Haarbands erinnerte. Der Streit mit Tessa war einer von vielen gewesen. Saras Haare waren schon immer lang gewesen. Sie hatte im Lauf der Jahre Hunderte von Bändern und Gummis verloren. Sie hatte keine Ahnung, warum Brock genau dieses Band gestohlen hatte. Und sie war sich so sicher gewesen, dass Brock ihr nichts tun würde, als sie in sein Büro im Lagerhaus von AllCare gegangen war.
Jetzt war sie ins Grübeln geraten.
Ihr Smartphone bimmelte. Will hatte ein Auto-Emoji geschickt. Sie schickte eine laufende Frau und einen Mann an einem Schreibtisch zurück, um ihn wissen zu lassen, dass sie ihn in seinem Büro treffen würde.
Sara steckte den Laptop in ihre Aktentasche. Die braune Papiertüte in der Außentasche wurde verknittert. Sie musste alles herausnehmen und neu einsortieren. Ihre Handtasche lag auf der Couch. Sie vergewisserte sich, dass sie ihre Schlüssel hatte, und schloss die Bürotür ab.
Sie wählte Tessas Nummer, als sie die Treppe hinunterging.
»Was gibt es, Sportsfreundin?«, meldete sich ihre Schwester.
Sara machte ihr die Freude und lachte. Ihre kleine Schwester würde sie nie mehr die Nacht vergessen lassen, in der Sara wie eine Verrückte durch die ganze Stadt hinter Will hergejagt war. »Ich hab nachgedacht.«
»Tu dir nicht weh.«
Sara verdrehte die Augen und stieß die Tür zum Leichenschauhaus auf. »Als es mir in Atlanta so schlecht ging, bin ich nach Hause gekommen. Und als es mir zu Hause dann schlecht ging, bin ich nach Atlanta zurückgekehrt.«
Tessa seufzte dramatisch. »Ich habe vergessen, wie man eine Schlussfolgerung zieht.«
»Du hast gelitten, und jetzt bist du zu Hause, und ich muss dich unterstützen.«
»Hast lange genug dafür gebraucht.«
»Danke für deine Güte.« Sara machte das Licht im Flur aus. »Ich habe herumtelefoniert und kann dir ein paar Empfehlungen für wirklich gute Hebammen geben. Sie suchen immer Auszubildende. Ich schick dir alles per E-Mail, sobald ich zu Hause bin.«
Tessas Schmollgeräusche ließen erkennen, dass sie nicht so leicht zu besänftigen war. »Wie läuft es mit Will?«
Sara blickte sich um. Sie sah das winzige Büro im hinteren Bereich der Leichenhalle, wo sie neulich Wills Haut mit Lotion eingerieben hatte. »Das habe ich mit einem Handjob repariert.«
»Gut gemacht«, sagte Tessa. »Ich bin immer noch böse auf dich.«
Sara starrte auf ihr Telefon. Tessa hatte wieder aufgelegt.
Leise fluchte sie in sich hinein, als sie zum Hauptgebäude ging. Sie liebte ihre kleine Schwester, aber sie war echt eine typische kleine Schwester.
Sie stieg eine weitere Treppe hinauf, denn ihr Leben im GBI war wie ein endloser Haufen Legosteine. Sie verlagerte ihre Aktentasche, rückte die Handtasche zurecht. Der Gedanke, dass sie Will gleich sehen würde, machte sie leicht nervös. Er war seit Brocks Selbstmord so geduldig mit ihr gewesen. Nachts konnte er nicht schlafen, weil sich Sara im Bett hin und her warf, aber er ließ sie nicht auf die Couch umziehen. Wills Kindheit war ein einziges Trauma gewesen. Er wusste, dass man manchmal nichts weiter tun konnte, als zuzuhören.
Im Flur war es dunkel, als Sara die Tür öffnete. Amanda und Faith waren bereits nach Hause gegangen. Nur Wills Bürolicht schnitt ein weißes Dreieck in den Teppichboden des Korridors. Sara hörte Bruce Springsteen auf Wills Computer laufen.
»I’m on Fire.«
Sara langte hinter sich und zog das Band aus ihrem Haar, so dass es offen auf die Schultern fiel.
Sie wartete, bis Will sie endlich in der Tür stehen sah.
Er lächelte. »Hey.«
»Hey.« Sara setzte sich auf das Zweisitzersofa in der Ecke und stellte Aktentasche und Handtasche auf den Boden. Sie klopfte auf das Kissen neben sich. »Komm her. Ich muss dir etwas zeigen.«
Er sah sie komisch an, aber er tat, was sie verlangte.
Sara atmete tief durch. Sie hatte diesen Augenblick seit Tagen geprobt, aber jetzt, da es so weit war, spürte sie Schmetterlinge im Bauch.
»Stimmt etwas nicht?«, fragte Will.
»Nein, Liebster.«
Sie zog die braune Papiertüte aus der Aktentasche, öffnete sie und stellte sie auf die Couch zwischen sie.
Will lachte, denn er erkannte das Logo von McDonald’s. Er beugte sich vor und spähte in die Tüte. »Das ist ein Big Mac.«
Sara wartete.
Will nahm die Schachtel aus der Tüte. Sein Lächeln fiel in sich zusammen. »Etwas ist da drin, aber es hat nicht das Gewicht eines Big Macs.«
»Wir werden uns später darüber unterhalten, woher du das Gewicht eines Big Macs so genau kennst.«
»Okay«, sagte er. »Aber hast du ihn in den normalen Müll geworfen oder in den Müll von den Toten?«
»Baby, jetzt lass doch mal das mit dem Hamburger.«
Er sah immer noch enttäuscht aus, aber sie dachte, das würde sich bald ändern.
Will klappte den Karton auf.
Er sah auf das türkisblaue Ringkissen von Tiffany hinunter, das Sara auf schwarzes Seidenpapier gelegt hatte.
Der Ehering aus Titan und Platin war außen dunkel und innen hell. Will trug nie Schmuck. Sein Ring aus der ersten Ehe stammte aus der Pfandleihe. Will hatte ihn selbst gekauft. Von Angie hatte er nie etwas bekommen.
Er starrte den Ring an, aber er sagte nichts.
Sara spielte rasch eine Reihe von Varianten durch, weil der Ring wahrscheinlich zu massiv war oder die Farbe ihm nicht gefiel oder er es sich anders überlegt hatte.
Sie musste ihm die Frage stellen. »Hast du es dir anders überlegt?«
Vorsichtig stellte er den Karton wieder zwischen sie.
»Ich habe viel über meinen Job nachgedacht«, sagte er. »Nicht über das Gehalt, was nicht großartig ist, sondern wie ich meine Arbeit verrichte.«
Sie presste die Lippen zusammen.
»Was ich tue, ist: Ich versetze mich in die Haut des Täters. So komme ich ihm auf die Schliche.«
Sara schnürte es die Kehle zu. Er ignorierte den Ring vollkommen.
»Ich kann mir Mörder und Diebe vorstellen, gewalttätige Ehemänner und Vergewaltiger. Ich kann mich selbst in Brock in gewisser Weise hineinversetzen. Ich bin wirklich sehr gut darin, mir alles Mögliche vorzustellen, aber ich kann mir nicht vorstellen, was ich täte, wenn du stirbst.«
Tränen brannten in Saras Augen. Der Gedanke, Will zu verlieren, war so unerträglich wie die Vorstellung, dass Will die Hölle durchleben musste, durch die sie nach Jeffreys Tod gegangen war.
»Ich habe dich auf der Videoaufnahme von Grant County vor acht Jahren gesehen, und ich habe dich nicht wiedererkannt«, sagte er.
Sara wischte sich über die Augen. Die acht Jahre fühlten sich an, als lägen sie ein ganzes Leben zurück.
»Im Kinderheim haben wir schlimme Dinge immer durchgestanden, indem wir uns einfach gesagt haben, dass sie jemand anderem passiert sind. Dass nicht du dieser Mensch warst. Du hast dich aufgespalten, und die neue Person war die, die weitermachen konnte.«
Sara blieb stumm. Er sprach so selten von seiner Kindheit, dass sie ihm keinen Anlass geben wollte, aufzuhören.
Will sah auf den Ehering.
Sie hatte zu viel Geld ausgegeben. Er mochte die Farbe nicht. Das Metall war zu massiv.
»Du weißt, dass meine Mutter eine Prostituierte war.«
Er versuchte, es ihr auszureden.
»Baby, du weißt, das spielt keine Rolle für mich.«
Sein Blick war immer noch auf den Ring gerichtet. »Als ich nach ihrem Tod ihre Habseligkeiten bekam, fand ich lauter billigen Modeschmuck.«
Sara biss sich auf die Zunge. Der Ring war nicht billig gewesen.
»Halsketten und Armreife und … wie nennt man das hässliche Ding, das Amanda an ihren Blazern trägt?«
»Brosche.«
»Eine Brosche« sagte er. »Die Halsketten waren so alt, dass sie auseinanderfielen. Die silbernen Armreife waren alle schwarz angelaufen. Es waren mindestens zwanzig. Wahrscheinlich hat sie alle auf einmal getragen.« Er wandte endlich den Blick von dem Ring ab und legte die Hand auf die Rückenlehne des Sofas. Seine Finger spielten mit ihren Haarspitzen. »Wie heißen diese Halsketten, die so eng anliegen wie ein Hundehalsband?«
»Choker«, sagte sie. »Soll ich dir ein paar Fotos auf meinem Laptop zeigen?«
Er zupfte sachte an ihrem Haar. Sie begriff, dass er sie nur neckte.
»Du bist so wunderschön«, sagte er.
Ihr Herz machte einen Satz. Er lächelte so verträumt. Sara war schon früher dahingeschmolzen, aber Will war der einzige Mann, bei dem sie tatsächlich weiche Knie bekam.
»Deine Augen sind von einem so besonderen Grün, es ist beinahe unwirklich.«
Will strich ihr das Haar hinter die Ohren. Sie bemühte sich, nicht zu schnurren wie eine Katze.
»Als ich dich kennenlernte, habe ich ständig gedacht, dass ich diese Farbe schon irgendwo gesehen habe. Es hat mich verrückt gemacht, weil mir nicht eingefallen ist, wo.« Er legte die Hand wieder auf die Sofalehne. »Ich habe mir monatelang Ringe angesehen, mit Edelsteinen im Prinzess-Schliff und Marquis-Schliff und Kissen-Schliff. Und die ganze Zeit hatte ich Panik, weil ich dachte, ich müsste achtzig Riesen ausgeben.«
»Will, du musst nicht …«
Er griff in seine Tasche und zog einen kleinen Silberring hervor – es war billiger Modeschmuck. Das Metall war leicht verbogen. Der grüne Stein hatte einen Kratzer.
Die Farbe war fast identisch mit der ihrer Augen.
»Der hat meiner Mutter gehört«, sagte er.
Saras Hand ging an ihren Mund. Er hatte den Ring in seiner Tasche aufbewahrt und auf den richtigen Moment gewartet.
»Und?«, fragte er.
»Ja, mein Herz. Ich möchte dich liebend gern heiraten.«
Sara brauchte die Frage nicht zu hören.
Dieses Mal würde sie es nicht vermasseln.