Kapitel 2
Tag eins, 3. Dezember
Es war dunkel draußen und es schneite ein wenig. Bisher eine Ausnahme in diesem Winter. Genau wie die Meteorologen es vorhergesehen hatten, war er bis jetzt recht milde verlaufen. Schön, dachte Louise Wellinghaus, ein Weihnachtsmarktbesuch mit Schnee. Da schmeckte der Glühwein gleich ein wenig besser. Sie grinste.
Die Vierundsiebzigjährige bog mit ihrem Mini Cooper nach links ab in die Heidestraße, fuhr zwanzig Meter weiter und hielt am Straßenrand an. Sie sah aus dem Autofenster. Aus der Küche des Hauses schimmerte Licht.
In freudiger Erwartung, gleich ihre Tochter zu sehen, stieg Louise aus, schloss den Wagen ab und eilte in Richtung Haustür. Durch die plötzliche Kälte musste sie niesen. Sie blieb stehen und bemerkte, dass ihr beim Niesen ein kleines Malheur passiert war. Oh, nein, warum habe ich auch unterwegs so viel getrunken, dachte sie und ging weiter.
Der Weg zum Haus war mit Buchsbaumkugeln gesäumt, die von im Boden versteckten LED-Lampen angeleuchtet wurden. Vor dem extravaganten weißen Bungalow im Bauhausstil mit den partiellen Holzverkleidungen standen übergroße erdfarbene Vasen. In sie waren zu dieser Jahreszeit aufwendige Weihnachtsgestecke mit farbenfrohen Kugeln platziert worden.
Beim Haus angekommen, drückte sie ihren Zeigefinger lange auf die Klingel neben der Haustür, für die man auch einen gebrauchten Kleinwagen bekommen hätte.
»Marie, komm schon«, zischte sie leise und trat von einem Bein auf das andere. »Ich halts gleich nicht mehr aus.« Sie ging leicht in die Hocke, weil sie dachte, dem immer stärker werdenden Blasendruck so besser aushalten zu können. Ungeduldig fing sie an, gegen die Haustür zu klopfen. Gleichzeitig drehte sie ihren Kopf nach links und sah durch die stetig fallenden Schneeflocken Maries Auto vor der Einfahrt stehen. »Oh Gott, du bist doch da, warum kommst du nicht?«, rief sie. Dann hielt sie verzweifelt inne und horchte, ob sie von innen Schritte hörte. Als das nicht der Fall war, fing sie an, fahrig in ihrer Handtasche zu wühlen. Irgendwo musste doch der Türschlüssel zum Haus ihrer Tochter sein. »Ah, da hab ich dich«, rief sie, als sie den kleinen Pariser Eiffelturm zu fassen bekam. Sie zog den Schlüssel heraus, steckte ihn in das Schloss und öffnete die schwere Tür.
»Marie?«, rief sie laut und trat in den mit anthrazitfarbenen Steinfliesen ausgelegten Flur. Das Licht brannte und aus dem Wohnzimmer drang leise Musik zu ihr herüber. »Bist du da? Wir waren verabredet, hast du das vergessen?« Als sie keine Antwort bekam, runzelte Louise Wellinghaus ihre Stirn, stellte die Handtasche auf das weiße Tischchen unter dem Spiegel und öffnete die Tür zum Gäste-WC. Es nützte nichts, ihre Tochter musste warten. »Marie?«, rief sie gedehnt, »ich gehe schnell für kleine Mädchen!« Sie wartete die Antwort nicht mehr ab und stürzte auf die Toilette.
Zwei Minuten später kam sie murmelnd wieder heraus. »Das ist ja gerade noch mal gut gegangen.« Sie zupfte sich den Rock zurecht und ging weiter in Richtung Küche.
»Ich lasse meine Stiefel an, wenn's dir recht ist. Wir wollen ja sowieso gleich los, oder?« Sie bekam keine Antwort, wunderte sich und ließ ihren Blick durch die große Küche schweifen. Ihre Tochter konnte sie nirgends entdecken.
»Marie? Bist du im Vorratsraum? Du bist wohl schwer beschäftigt. Hast du unseren Besuch auf dem Weihnachtsmarkt vergessen? Und in das neue Geschäft in der Wilhelmstraße …« Ein verbrannter Geruch stieg ihr in die Nase. »Backst du Plätzchen? Die verbrennen schon, glaub ich!« Kopfschüttelnd ging sie zum Ofen, schaltete ihn ab und machte die Klappe auf. Schwarzer Rauch kam ihr entgegen. Louise Wellinghaus fing an zu husten, wedelte den Qualm fort und schloss die Klappe schnell wieder. Der kurze Blick hatte genügt, die Kekse waren nicht mehr zu retten.
Sie lief zum Fenster und öffnete es weit, dann sah sie sich unschlüssig in der perfekt ausgestatteten Küche um. Das Rezeptbuch lag aufgeschlagen neben dem Ofen, ein Glas Rotwein stand daneben … Aber wo war ihre Tochter?
Auf dem Küchentisch fiel ihr eine weiße Schachtel auf. Daneben lag ein blutrotes Band. Ein Geschenk? Von wem Marie wohl etwas geschenkt bekommen hatte? Hatte sie etwas von ihrem neuen Verehrer bekommen?
Vielleicht war eine Karte dabei. Ob sie einen Blick riskieren sollte? Sie biss sich kurz auf die Lippen, dann trat sie einen Schritt vor und linste in das offene Päckchen …