Kapitel 5
Fünf Minuten später folgte Kati Lenny Verbeek nach draußen in die Kälte. Sarah setzte sich gerade auf ihr Auto und ließ den Motor an. Als sie schließlich losfuhr, winkte sie beiden kurz zu.
Kati hob den Arm und sah ihr mit müden Augen hinterher. Es war ein langer Tag gewesen. Sie setzte sich spontan auf die oberste Stufe der Treppe, die zum Haus führte. Ihr Blick glitt zum dunklen Himmel. Die Schneeflocken tanzten noch immer vor der Straßenlaterne. Es sah richtig schön aus, fand sie. Die Schneeflocken wirkten beruhigend auf sie.
Lenny war stehen geblieben und drehte sich nach ihr um. »Wo bleibst du denn?«, fragte er sichtlich verwundert. »Was hockst du da in der Kälte? Willst du krank werden? Du holst dir eine Blasen- oder noch schlimmer eine Nierenbeckenentzündung!«
Er stiefelte durch die dünne Schneedecke zu ihr hinüber, griff nach ihren Händen und zog sie hoch. Mit einem kleinen Seufzer ließ Kati es zu und erhob sich.
Lenny hob seine rechte Augenbraue an. »Du hast nicht vergessen, dass ich in ein paar Tagen in den Skiurlaub düse und du dann die Truppe leiten musst, oder?« Sie gingen gemeinsam Richtung Auto. »Du kannst es dir nicht leisten, jetzt krank zu werden. Du bist die erste Wahl, wenn es darum geht, mich zu ersetzen.«
Kati schnaufte leise. »Nein, habe ich nicht vergessen. Und ich habe auch keinen Bock, krank zu werden. Es reicht mir schon, dass es Florian und Sandra nicht so gut geht.«
»Oh, erzähl‘s mir gleich, ja?«, sagte Lenny, machte einen kleinen Umweg zum Streifenwagen und meldete sich bei dem Polizeibeamten ab.
Kati setzte sich währenddessen in den Wagen, in dem es auch nicht viel wärmer war als draußen. Als ihr Chef, den sie schon seit der Ausbildung in der Polizeiakademie aus Nienburg kannte, einstieg, rieb sie sich die kalten Hände.
Lenny lächelte sie mit seinen weißen, strahlenden Zähnen an. »Komm, gib her, ich rubbele sie dir warm.«
Kati grinste, hielt sie ihm hin und warf ihm einen verstohlenen Blick zu. Sie musste daran denken, dass sie nicht immer nur eine platonische Freundschaft miteinander gehabt hatten. Damals war es zeitweise ganz schön zur Sache gegangen, woran der eine oder andere Joint nicht ganz unschuldig gewesen war. Doch das war schon lange her …
»Was ist mit Florian und Sandra?«, fragte Lenny, während er Katis Hände rubbelte und sie schließlich etwas wärmer aus den seinen entließ. »Ich habe sie gar nicht auf der Einweihungsparty gesehen.« Er drehte den Schlüssel im Zündschloss und der Motor sprang an.
Kati nickte. »Ja, sie konnten nicht kommen. Beide fühlten sich für die Autofahrt und die Feier zu schlapp und zu kaputt.«
»Haben sich wohl was eingefangen«, mutmaßte Lenny.
Kati zuckte mit den Schultern und gähnte. »Kann gut sein.«
»Sie studieren jetzt beide in Karlsruhe, oder?«
»Hm, ja. Sandra studiert Logopädie und Flo Elektrotechnik mit dem Schwerpunkt erneuerbare Energien.«
Lenny pfiff leise durch die Zähne. »Jung müsste man noch mal sein. Ich habe die Zeit während des Studiums jedenfalls sehr genossen. Du auch, oder?«
Kati sah aus dem Fenster. Trotz der späten Stunde und des nasskalten Wetters waren viele Autos auf den Straßen. »Schon, aber damals war meine Sichtweise, was den Beruf betrifft, ziemlich verklärt und naiv.«
Im Polizeipräsidium angekommen, ging Kati zuerst zu ihrem Arbeitsplatz und hängte ihren Mantel über die Lehne des Bürostuhls. Sie drehte ihn zu sich und ließ sich hineinplumpsen, um für einen Moment auszuruhen und nachzudenken. Sie stützte die Arme auf die Ellenbogen und versenkte das Gesicht in beide Hände. Unmittelbar trat das Bild der abgeschnittenen Hand mit der Schneekugel vor ihr geistiges Auge. Was für ein Psycho war da draußen unterwegs und tat so etwas Schreckliches? Hackte einer Frau die Hand ab? Womöglich bei lebendigem Leib. Unmerklich schüttelte sie ihren Kopf.
Sie versuchte, sich in die Frau hineinzuversetzen, und stellte sich vor, wie es wäre, angeschnallt auf einer Pritsche zu liegen und zu beobachten, wie ein Irrer die Klinge einer Axt schärft … Schrecklich, diese Angst, die die Frau gehabt haben musste, wenn er ihr das bei lebendigem Leib angetan hatte.
Plötzlich änderte sich das Bild. Sie lag nicht mehr, sondern saß in einem Pool aus Blut und ein Mann hielt ihr von hinten ein Messer an die Kehle. Überall waren Blut und Gedärme und es stank widerlich nach Exkrementen. Sie versuchte zu atmen und Luft zu holen, doch es fiel ihr immer schwerer und schwerer. Dann ein Schlag …
Kati erschrak, als sie auf dem Schreibtisch aufschlug und fuhr wie von einer Wespe gestochen nach oben. Sie war eingeschlafen und hatte von damals geträumt, vom vorletzten Sommer. Kati überkam eine Woge der Übelkeit. Sie nahm einen Schluck aus der Wasserflasche, die direkt neben ihr stand und sah auf die Wanduhr. Sie zeigte 21:45 Uhr. So eine Scheiße, dachte sie. Die Mutter, diese … diese Frau Wellinghaus, wartete auf sie im Besprechungsraum und sie ratzte vor Müdigkeit ein!
Kati atmete noch einmal tief durch, stand entschlossen auf, richtete ihren blonden Zopf und ging ohne Umwege zur Kaffeeküche, um zwei Kaffee zu holen. Frau Wellinghaus konnte sicher auch einen gebrauchen. Mit den beiden Bechern in der Hand eilte sie zu den Besprechungsräumen.
Laura Kienle, Lennys Sekretärin, schloss gerade die Tür von Zimmer eins hinter sich.
»Sie sind auch hier, Laura?«
Die Sechsundfünfzigjährige nickte. »Nachdem der Umtrunk bei Ihnen von jetzt auf gleich zu Ende war, bin ich nach Hause, doch dann hat Verbeek mich angerufen und gesagt, er bräuchte mich hier. Und da ich nichts weiter zu tun hatte …«
Kati legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Vielen Dank. Sie sind die Beste, Laura.«
Laura Kienle lief rot an. »Man tut, was man kann. Ist doch selbstverständlich.«
Da sie in beiden Händen eine Tasse hielt, wies Kati mit ihrem Kinn in Richtung Tür. »Ist Frau Wellinghaus dort drin?«
»Ja«, antwortete die Sekretärin. »Die Frau ist völlig durch den Wind. Sie fragt ständig nach ihrer Tochter.«
Kati seufzte. »Danke Laura, ich kümmere mich um sie. Sie können jetzt nach Hause gehen.«
Kienle nickte. »Gut, dann bis morgen früh.«
»Ja, bis morgen, Laura.«
Da sie nicht anklopfen konnte, drückte Kati mit ihrem Ellenbogen die Türklinke nach unten und trat ein.
Frau Wellinghaus, Kati schätzte sie auf circa siebzig Jahre, sprang auf und sah sie mit aufgerissenen Augen an. Ihre grauen Haare wirkten sehr verstrubbelt. Sie trug einen beigen Rollkragenpullover, einen karierten Rock, der kurz über dem Knie endete und dicke schwarze Strumpfhosen. Ihre Füße stecken in kniehohen schwarzen Winterstiefeln.
Ihr Gesicht war für das Alter recht glatt, fand Kati, es waren kaum Falten darin zu erkennen, doch das Weiße in ihren Augen war rot geädert. Sie hatte geweint.
»Sind Sie die ermittelnde Beamtin? Ich muss wissen, ob Sie Marie gefunden haben.«
Als Kati der Frau entgegentrat, dachte sie sofort an ein kleines verschrecktes Kaninchen mit roten Augen. Sie stellte die beiden Kaffeetassen auf den Tisch und streckte der Frau dann die rechte Hand entgegen.
»Frau Wellinghaus, mein Name ist Kati Lindberg. Ich bin eine der Ermittlerinnen in diesem Fall.«
»Und was ist? Haben Sie meine Tochter schon gefunden?«
Kati fasste Frau Wellinghaus an die Schulter und drückte sie mehr oder weniger sanft auf den Stuhl zurück.
»Setzen wir uns erst mal und dann beruhigen Sie sich.« Kati nahm selbst Platz und schob eine der Tassen zu der Mutter der Vermissten hinüber.
Doch Frau Wellinghaus wollte keinen Kaffee und schob die Tasse gleich wieder von sich weg. »Ich will mich nicht beruhigen. Ich will wissen, wo meine Tochter ist und was … was dieses Ding da in dem Karton sollte.« Ihre Augen wurden wieder groß. »War das eine echte Hand? Nein, oder? Das war doch sicher so ein Ding, das man an Halloween jemanden vor die Schwelle legen kann, oder? Sah aber so verdammt echt aus, dass ich mich übergeben musste.«
Kati sah sie ernst an. Ist die Frau wirklich so naiv?, fragte sie sich. Sie schüttelte den Kopf. »Nein, es handelt sich definitiv um eine echte Hand.«
Frau Wellinghaus‘ Gesichtsfarbe wurde fahl und sie hielt sich die Hand vor dem Mund. »Oh mein Gott, aber es ist doch keine Hand von meiner Marie, oder?«
Kati schüttelte erneut den Kopf. »Nein, davon gehen wir momentan nicht aus.«
Die ältere Frau atmete tief aus und ließ den Kopf sinken. »Gott sei Dank«, stieß sie hervor.
»Ich muss Ihnen jetzt ein paar Fragen stellen, Frau Wellinghaus«, sagte Kati und nestelte einen Notizblock und einen Kugelschreiber aus ihrer Hosentasche hervor und legte beides auf den Tisch.
Über ihnen flackerte die Neonröhre und gab klackende Geräusche von sich. Genervt sah Kati zur Decke. In den letzten Tagen hatte sie den Hausmeister schon dreimal darauf aufmerksam gemacht und immer noch flackerte dieses Teil! Es machte sie wahnsinnig.
Kati schloss kurz die Augen und besann sich darauf, sich jetzt auf die bevorstehende Befragung zu konzentrieren.
Sie nahm einen Schluck von ihrem Kaffee und lächelte Frau Wellinghaus an. »Erzählen Sie mir doch bitte, warum Sie bei Ihrer Tochter gewesen sind.«
»Das habe ich schon dem Beamten bei ihr im Haus erzählt. Wir waren verabredet, um über den Weihnachtsmarkt zu schlendern. Das machen wir traditionell jedes Jahr so. Ich wollte sie gegen halb acht abholen und dann gemeinsam mit ihr in die Stuttgarter Innenstadt fahren.«
»Also sind Sie um 19:30 Uhr bei dem Haus Ihrer Tochter angekommen?«
Frau Wellinghaus nickte. »Ja. Ich habe geklingelt, und als niemand aufgemacht hat, habe ich die Tür mit meinem eigenen Schlüssel geöffnet.«
»Sie haben einen eigenen Schlüssel für das Haus Ihrer Tochter?«
»Ja, ich gieße manchmal die Blumen, wenn sie nicht da ist, oder kucke nach dem Rechten.«
Kati schlug ein Bein über das andere. »Und was ist mit einem Herrn von Beesten? Gibt es den? Wir haben bis jetzt nur über Ihre Tochter geredet.«
»Mein Schwiegersohn Tibor ist ziemlich genau vor einem Jahr bei einem schweren Autounfall ums Leben gekommen«, sagte Frau Wellinghaus.
»Das tut mir sehr leid. Das habe ich nicht gewusst.«
Frau Wellinghaus lächelte milde, wie eine Großmutter, die ihre Enkelin trösten wollte. »Woher sollten Sie auch.« Sie griff nun doch nach der Tasse mit dem Kaffee und nippte daran. »Er ist bis zu Unkenntlichkeit in seinem Auto verbrannt. Das war ein harter Schicksalsschlag für Marie, doch meine Tochter hat das ganz gut weggesteckt. Sie ist hart im Nehmen.«
Den letzten Satz hatte Kati gar nicht mehr richtig wahrgenommen. Die Wörter »bis zur Unkenntlichkeit verbrannt« trafen sie mitten ins Herz. Das Bild ihres in Flammen eingeschlossenen Ehemanns trat vor ihr geistiges Auge. Er hatte bei einem Polizeieinsatz versucht, eine alte Dame aus einem brennenden Haus zu retten, und war mit ihr zusammen in den Flammen umgekommen. – Nein, sie selbst hatte ihn getötet! Sie hatte seine wahnsinnig lauten Schreie gehört, seine unglaublichen Schmerzen fast am eigenen Leib gespürt. Seine Haut hatte bereits in Flammen gestanden, er hatte keine Chance mehr gehabt.
Sie hatte damals spontan und aus dem Bauch heraus reagiert. Sie hatte seine Qualen nicht ertragen können und hatte ihn kurzerhand erschossen.
Ihr damaliger Chef, der Gerichtsmediziner und ein paar weitere Kollegen hatten dichtgehalten, eine verschworene Gemeinschaft gebildet und ihr still beigestanden, doch letztendlich hatte sie trotzdem nicht in Hannover bleiben können. Die Erinnerung hätte sie jeden Tag aufs Neue eingeholt und tat es sogar hier in Stuttgart manchmal. Eine Träne löste sich aus ihrem rechten Auge und lief die Wange hinunter.
»Frau Lindberg?«, sagte plötzlich eine Stimme zu ihr.
Verstört sah sie auf. Frau Wellinghaus war aufgestanden und hatte eine Hand auf ihre Schulter gelegt.
»Geht es Ihnen gut? Kann ich helfen?«
Kati presste die Lippen zusammen, wischte die Träne fort und versuchte zu lächeln. »Oh nein, danke. Es geht schon wieder. Ich …« Sie hielt inne und atmete tief ein. Nein, sie würde sich jetzt nicht erklären.
Sie strich sich den Pony aus dem Gesicht, umfasste ihre Tasse und sah Frau Wellinghaus mit festem Blick an.
»Sie haben also die Tür aufgeschlossen, sind in das Haus hineingegangen, und dann? Sind Sie sofort in die Küche gegangen? Haben Sie etwas Ungewöhnliches bemerkt oder seltsame Geräusche vernommen?«
Frau Wellinghaus schüttelte den Kopf. »Ich hatte laut gefragt, ob sie den Weihnachtsmarktbesuch vergessen hätte und dann … ja, dann bin ich schnell aufs Klo, weil ich so dringend musste.«
Kati nickte. »Okay, und danach?«
»Dann bin ich direkt in die Küche gegangen und habe die angebrannten Plätzchen gerochen. Ich bin zum Ofen, habe ihn ausgeschaltet, kurz reingesehen und dann habe ich das Fenster aufgemacht.«
Tränen stiegen der älteren Frau in die Augen und sie nestelte ein Taschentuch aus ihrer Manteltasche hervor. »Ich habe sie immer wieder gerufen, doch sie hat nicht geantwortet.« Frau Wellinghaus wischte sich die verweinten Augen und schnäuzte sich.
»Und dann … Dann habe ich dieses Päckchen auf dem Küchentresen stehen sehen und war neugierig. Ich habe gedacht, meine Tochter hätte vielleicht etwas Nettes von ihrem neuen Freund bekommen. Und dann«, sie stockte kurz, »sah ich diese …« Sie brach ab.
Kati sah ihr an, dass ihr die Erinnerung zu schaffen machte.
»Und was haben Sie gemacht, nachdem Sie den Inhalt des Päckchens gesehen hatten?«
»Wie gesagt, ich musste mich übergeben. Als ich mich wieder einigermaßen beruhigt hatte, bin ich durchs ganze Haus gegangen und habe nach meiner Tochter gerufen. Doch sie war nicht da. Dann habe ich die Polizei gerufen, mich ins Wohnzimmer gesetzt und gewartet.«
»Sie haben gemeint, Ihre Tochter hätte einen neuen Mann kennengelernt? Wie heißt er?«
Frau Wellinghaus nickte und schniefte mit der Nase. »Ja, sie kennt ihn wohl noch nicht so lange. Sie hat ihn erst vor kurzem zum Mittagessen mitgebracht. Er heißt Günther. Den Nachnamen kenne ich gar nicht. Ehrlich gesagt, weiß ich noch nicht so recht, was ich von ihm halten soll. Er wirkt ein wenig aufbrausend. Deshalb ist das Essen auch nicht so schön verlaufen.«
»Gab es Streit?«
»Ja, mein Mann hatte eine kleine Auseinandersetzung mit diesem Günther. Marie hatte wieder mal von Tibors Tod angefangen, dass fand Günther nicht gut und regte sich darüber auf. Nichts Dramatisches, aber … Naja, es war ein unschöner Einstieg für ihn, sagen wir es mal so. Ich wollte meine Tochter heute auf dem Weihnachtsmarkt fragen, wie es mit ihm weitergehen soll.« Sie lächelte. »Ein kleiner Glühwein löst ja manchmal die Zunge, wissen Sie?« Sie machte eine kurze Pause. »Ich wollte sie auch noch mal ermahnen, genau hinzuschauen, mit wem sie sich in Zukunft einlässt, denn ihr Nachname könnte ein Problem darstellen.«
Kati zog die Augenbrauen zusammen. »Ihr Nachname? Inwiefern?«
»Sie musste sich schon zu Tibors Lebzeiten vor Verehrern in acht nehmen, die sie wegen des von im Nachnamen kennenlernen wollten. So einen Zusatz zu führen, ist sehr attraktiv. Viele Leute versprechen sich davon, zu mehr Ansehen zu gelangen und ernster genommen zu werden. Beruflich wie privat.«
Kati sah sie verwundert an. »Sie meinen, Ihre Tochter musste sich vor Heiratsschwindlern in Acht nehmen? Wie sieht es denn finanziell bei Ihrer Tochter aus?«
»Sie haben das Haus gesehen«, sagte Frau Wellinghaus. »Ich denke, Geld ist zu Genüge da, aber dafür haben die beiden auch hart gearbeitet. Das ›von‹ in dem Namen stammt zwar von der Seite meines Schwiegersohnes, aber alter Geldadel steckt nicht mehr dahinter. Die beiden haben in Stuttgart ein sehr lukratives Immobilienbüro betrieben, das meine Tochter nun allein weiterführt.«
Kati nickte und sah auf ihre Notizen. »Wie heißt das Unternehmen Ihrer Tochter?«
»Von Beesten Immobilien.«
Kati lächelte. »Ah, okay.« Sie tippte mit dem Kugelschreiber ein paarmal auf das Papier.
»Nehmen wir mal an, Ihre Tochter wurde nicht entführt …«
Das Gesicht von Frau Wellinghaus nahm wieder das Aussehen eines verschreckten Kaninchens an. Hatte sie diese Alternative während ihrer Erzählungen etwa verdrängt?
»Wo könnte sie untergekommen sein, wenn sie die Möglichkeit gehabt hatte, vor dem Eindringling zu fliehen?
»Marie? Oh, bei diesem Günther natürlich, aber sie hat auch ein paar Freundinnen.« Sie sah an Kati vorbei an die Wand und überlegte. »Ah, eine heißt Michelle Krakow und die andere … Wie hieß die noch?« Sie strich sich wie Wickie aus der Zeichentrickserie unter der Nase. »Ah ja, ich weiß es wieder, die zweite heißt Miriam Grünwaldt.«
Kati notierte sich auch den zweiten Namen und stand auf. »Gut Frau Wellinghaus. Das war's fürs Erste. Wir melden uns bei Ihnen, wenn es etwas Neues gibt oder wir noch weitere Fragen haben.«
Die ältere Dame stand auf und nahm zögerlich ihre Jacke von der Stuhllehne, während Kati zur Tür ging und sie öffnete. »Folgen Sie mir bitte. Ich kucke mal, ob ein Kollege Sie nach Hause bringen kann, ansonsten rufen wir Ihnen ein Taxi.«
Fünf Minuten später kehrte Kati zu ihrem Arbeitsplatz im Großraumbüro zurück. Timo saß nicht an seinem Platz, aber vielleicht war er vom Haus der Vermissten gleich zu seiner Wohnung gefahren. Das würde er glatt bringen, dachte Kati, nahm es ihm aber nicht übel. Sie würde sich jetzt selber gerne ins Auto setzen und nach Hause düsen. Bei dem Gedanken fiel ihr ein, dass sie ja gar kein Auto auf dem Parkplatz stehen hatte, da Lenny sie mit seinem Wagen mitgenommen hatte.
Sarah kam mit einer Tasse in der Hand auf ihren Schreibtisch zu. Sie war genauso kaffeesüchtig wie Kati und auch so verstanden sich die beiden Frauen gut. In den drei Jahren waren sie nicht nur zu einem perfekten Team zusammengewachsen, sie waren auch beste Freundinnen geworden. Mit ihrer quirligen Art und der großen Unternehmenslust hatte Sarah sie mitgezogen und es geschafft, dass sie sich in Stuttgart gut eingelebt hatte.
»In der Straße gibt es leider keine Überwachungskameras.«
»Wäre auch zu schön gewesen«, sagte Kati und seufzte laut.
»Aber«, sagte Sarah gedehnt. »Die ersten Ergebnisse von der Tatortgruppe sind da. Armin hat mich angerufen.«
Armin Beierle, ein waschechter Schwabe, leitete die Tatortgruppe und wurde von allen Mitarbeitern des Präsidiums geschätzt.
Kati richtete sich in ihrem Stuhl auf. Sarah hatte ihre Neugier geweckt. »Und? Nun sag schon.«
»Sie sind noch nicht ganz fertig dort, aber sie haben einen abgebrochenen Fingernagel in einer Ritze neben der Haustür gefunden. Und auf der Zarge waren lang gezogene verschmierte Spuren von vier Fingern.«
»Hm, dann ist sie vermutlich doch entführt worden und wollte sich festhalten.«
Sarah nickte. »Das glaube ich auch. Hätte sie sich irgendwo in der Nähe versteckt, wäre sie aufgetaucht, sobald sie die Polizeiwagen gesehen hätte, und wenn sie woanders hin wäre, zu einer Freundin zum Beispiel, hätte sie sich sicherlich schon bei ihrer Mutter gemeldet.«
Kati zeigte auf ihre Notizen. »Frau Wellinghaus, die Mutter der Vermissten, hat mir Namen von zwei engen Freundinnen gegeben, die werde ich trotzdem jetzt anrufen.«
Sarah wies auf die Wanduhr. Sie zeigte elf. »Ist schon reichlich spät, oder?«
Kati stellte den Monitor an, um die Nummern der beiden Frauen herauszusuchen. »Das ist mir egal. Falls sie rangehen, können sie auch mit mir reden, falls nicht, habe ich Pech gehabt.«
»Okay, wie du meinst«, sagte Sarah und wendete sich ab. »Ich mach jetzt jedenfalls `ne Fliege, sonst stirbt mein Katerchen noch den Hungertod.«
Kati lachte. »Alles klar, dann bis morgen. Ich bleibe noch ein wenig und versuche, etwas über die von Beestens herauszufinden. Die haben eine Immobilienagentur.«
»Mach, was du nicht lassen kannst. Ich nehme mir morgen den Rechner der Dame zur Brust. Bis dann.« Sarah winkte Kati zu und ging.
»Ja, bis morgen. Fahr vorsichtig.«