Kapitel 18
Kati lief zu ihrem Schreibtisch, setzte sich und suchte im Online-Archiv die Akte zum Selbstmord von Lydia Warnecke.
Was würde sie finden? War der Fall lupenrein? War es eindeutig ein Selbstmord gewesen oder hatte es seitens der Ermittler Zweifel gegeben?
Gerade als das Ergebnis ihrer Suche auf dem Bildschirm aufploppte, stieg ein unangenehmes Kribbeln in ihrer Nase auf. Kati griff nach der Packung mit Taschentüchern, doch es war zu spät. Sie nieste in ihre Armbeuge. »Mist!«, fluchte sie, nahm sich ein Taschentuch und schnäuzte sich. Hoffentlich war das nur ein Stäubchen, eine Erkältung kann ich jetzt nicht gebrauchen, dachte sie.
Sie richtete ihre Aufmerksamkeit auf den Bildschirm, klickte auf den Ordner mit der Akte und strich sich eine lange Haarsträhne hinter das linke Ohr.
Der Mauszeiger schwebte über der ersten Datei. Kati wusste, dass sie schreckliche Bilder erwarteten. Lydia Warnecke war von einem Zug erfasst und getötet worden. Kati atmete tief ein und aus und klickte die linke Maustaste. Es half ja nichts. Sie musste wissen, was damals passiert war.
Schnell überflog sie die ersten Zeilen. Es waren Namen der ermittelnden Kollegen, Zeitpunkt, Auffindeort et cetera, et cetera.
Sie scrollte hinunter, bis sie zu der Beschreibung der Verletzungen kam. Die Worte ließen sie erstarren.
Der Kopf und beide Hände waren durch die Räder des Zuges abgetrennt worden!
Der Kopf und beide Hände, der Kopf und beide Hände … Die Worte wiederholten sich in Endlosschleife, während sich ein weiterer Gedanke in Katis Hirn Raum schuf.
Sie hatte mit ihrer Vermutung recht gehabt! Der Mord an Tanja Müller, die Entführung von Marie von Beesten und vielleicht auch der Tod ihres Ehemanns hingen mit Lydias Freitod zusammen!
Kati tippte sich mit dem Zeigefinger gegen ihre Lippe und starrte auf den Bildschirm. Die Frage war, warum hatte Lydia den Freitod gewählt? Kati dachte an die Worte von Jannika. Lydia hatte starke Depressionen. Aber warum? Gab es dafür einen bestimmten Auslöser? Einen Dämon, der sie seit dem Alter von sechzehn Jahren immer weiter ausgehöhlt und nur noch eine leere Hülle übrig gelassen hatte? Einen Schatten ihrer selbst?
Und wer war dann für die Racheaktion – den Mord und die Entführung – verantwortlich?
Die Antwort lag auf der Hand. Jemand der Lydia Warnecke geliebt und ihren Selbstmord nicht verwunden hatte. Jemand, der sich vielleicht eine Teilschuld am Tod von Lydia gab, weil er sie nicht davon hatte abhalten können, sich in einer eiskalten Winternacht auf ein Gleis zu legen. Jemand der zu allem entschlossen war und sein Vorgehen, seit langem geplant hatte.
Kati griff zum Hörer und tippte auf Lennys Avatar, als er plötzlich selbst durch die Tür des Großraumbüros trat und auf sie zu kam. Er sah nicht gerade gut gelaunt aus.
»Was ist?«, fragte Kati mit gerunzelter Stirn und merkte, dass schon wieder so ein Kribbeln ihre Nase emporstieg.
»Dein eigenmächtiger Abgang vorhin. Ich …«
»Haaaaatschi!«
Lenny trat einen Schritt zurück, riss den linken Arm hoch und schützte sein Gesicht vor den Viren. »Hey, das muss echt nicht sein!«
Kati griff nach einem weiteren Taschentuch und nieste noch einmal. Ihre Nase schwoll immer mehr zu. »Sorry, ich weiß auch nicht, was das ist. Hoffentlich nur Staub.«
»Das hoffe ich auch«, brummte Lenny.
Kati zog die Nase hoch, versuchte ihren Chef mit einem Lächeln zu beschwichtigen, und winkte ihn zu sich. »Hier, sieh mal! Material, das uns weiterbringen kann.« Sie öffnete nebeneinander mehrere Bilddateien, auf denen die abgetrennten Körperteile von Lydia Warnecke zu sehen waren.
»Oh«, entfuhr es Lenny, der augenscheinlich nicht mit solchen Bildern gerechnet hatte. Kati sah, dass sich sein Adamsapfel hob und wieder senkte. Auch ihr selbst fiel es schwer, auf den Bildschirm zu blicken. Der Kopf von Lydia hatte große Ähnlichkeit mit dem, den sie in der Schachtel vor Tims Tür gesehen hatte, nur, dass der neben den Gleisen frischer wirkte. Die halbgeschlossenen Augen waren genauso schrecklich anzusehen.
»Du hättest mich ruhig vorwarnen können«, sagte Lenny und zog Sarahs Stuhl zu sich, um sich draufzusetzen. »Das ist harter Tobak.«
»Entschuldige, ich hatte die Bilder selbst noch nicht gesehen, sondern nur die Beschreibung im Bericht gelesen.«
Ihr Chef nickte, wobei einige seiner graubraunen Rastalocken auf und ab schwangen. »Kopf und beide Hände, hm?«
Kati nickte. »Yep.« Sie atmete tief ein und erzählte Lenny von ihrer Rachetheorie.
Als sie endete, sog Lenny für einen Moment seine Unterlippe ein. »Du meinst, jemand, der Lydia nahestand, nimmt Rache an Marie von Beesten?« Er lehnte sich zurück und sah zu den Fotos auf dem Bildschirm. »Ich weiß nicht, Kati. Ist das nicht ein wenig weit hergeholt? Ich meine, wir wissen doch so gut wie gar nichts von dieser Lydia. Du hast erst am Nachmittag von ihr erfahren und jetzt soll sie der Grund für das alles sein?« Er wies mit dem linken Zeigefinger auf den Monitor.
Kati nickte und klickte auf die Lupe mit dem Plus, sodass das Bild von Lydia Warneckes Kopf vergrößert dargestellt wurde. »Ein Kopf, zwei Hände! Es hat definitiv etwas mit ihr zu tun!«
Lenny schnaufte. »Daran zweifele ich ja nicht, aber …«
»Aber?«, unterbrach ihn Kati und taxierte ihren Chef.
»Wer sollte sie rächen wollen? Wir wissen ja noch nicht einmal, ob sie verheiratet war oder einen Freund hatte.«
»Sie war nicht verheiratet und hatte keinen Freund«, antwortete Kati, wie aus der Pistole geschossen. »Es steht nichts davon in der Akte.«
Lenny hob die Augenbrauen und nickte kurz. »Siehst du, also wer sollte Rache nehmen? Die Eltern?«
»Nein, nicht die Eltern, obwohl wir die natürlich nicht von vornherein ausschließen sollten, aber …«
»Aber?«, fragte Lenny und sah sie mit demselben kritischen Blick an, mit dem Kati ihn vorher angesehen hatte.
»Aber vielleicht gibt es trotzdem jemanden da draußen, der sie geliebt hat und von dem niemand wusste.«
Lenny schnalzte mit der Zunge. »Tzzz. Vielleicht hier, vielleicht da. Das sind mir etwas zu viele ›Vielleicht‹, Kati!« Er erhob sich und rollte Sarahs Stuhl wieder an ihren Schreibtisch.
»Lenny!«, sagte Kati und drehte sich zu ihm herum. »Du kennst mich. Ich …« Sie stockte kurz. »Klar, ich irre mich auch mal, aber oft liege ich richtig mit meinem Bauchgefühl.«
»Fakten! Wir brauchen Fakten!«, konterte ihr Chef und baute sich vor ihr auf. »Wenn ich mit irgendeinem Bauchgefühl von dir zu Staatsanwältin Brunner oder dem Kriminaloberrat gehe, dann …«
Kati sprang auf und fasste Lenny an den Unterarm. »Lass mich zu Lydia und Marcel Warneckes Eltern fahren und recherchieren. Dann bekommst du deine Fakten, und wenn nichts dabei herauskommt, gebe ich Ruhe, okay?«
Lennys Kopf knickte zur Seite, er schloss für eine Sekunde die Augen und schnaufte laut durch die Nase aus. »Okay, ich gebe mich geschlagen. Wir haben ja ohnehin gerade keine andere Idee.« Er fuhr sich mit dem Finger unter der Nase entlang und stemmte dann beide Arme in die Hüften. »Sarah und Markus überprüfen die Arbeit der Polizeischüler hinsichtlich der Alibis und Timo kümmert sich um die Exhumierung der Leiche des Immobilienmaklers. Falls sie wirklich nicht die DNS von Beestens enthält, haben wir einen neuen Ansatz. Dann müssen wir herausfinden, ob er noch lebt und ob er Grund hatte, Tanja Müller zu töten und seine Frau zu entführen.«
Er drehte sich um, blieb aber neben riesigen Pflanzkübel stehen, der als eine Art Trennwand dienen und eine heimelige Atmosphäre schaffen sollte. »Ich werde die Brunner und den Kriminalrat über die Neuigkeiten informieren. Ich hoffe, du siehst mich nachher noch mit Kopf herumlaufen, es könnte nämlich sein, sie reißen ihn mir ab.«
Lenny ging ein paar Schritte. »Ach übrigens! Mein Urlaub wurde offiziell gestrichen. Ich bleibe dir erhalten!« Ohne eine Antwort abzuwarten, lief er weiter.
Oh, nein, dachte Kati und schüttelte den Kopf, das Gleiche war ihr auch passiert. Sie sah ihm nach, war aber gedanklich schnell wieder bei dem Fall.
Waren Tanja, Marie und Tibor in der Jugend eine eingeschworene Gemeinschaft gewesen? Hatte die Gruppe etwas ausgefressen und Lydia Warnecke durch die Schneekugeln, die sie an ihren Bruder gesandt haben, indirekt Warnungen zukommen lassen? Zwanzig Jahre lang? Waren sie die drei Weisen?
Kati kaute auf ihren Lippen, während ihr Blick auf dem Monitor und Lydias Kopf klebte. Ihr Fitnessarmband vibrierte am Handgelenk, wie immer zur vollen Stunde. Sie sah auf die Uhr am Monitor. Schon fünf?, dachte Kati entsetzt. Schnell nahm sie sich etwas zu schreiben und übertrug die Adresse und die Telefonnummer von Lydias Eltern aus der Online-Akte auf einen Zettel.
Sie nahm ihren beigen Mantel, zog ihn über und lief im Laufschritt durch das Büro und dann die Treppen hinunter zum Parkplatz. Den Aufwand, die Eltern vorher telefonisch zu kontaktieren, machte sie sich nicht. Sie waren sicher bei dem kalten Wetter zu Hause und wenn nicht, würde sie noch einmal zu Marcel Warnecke fahren, um ihn über seine Schwester auszufragen.
Natürlich steckte sie wieder eine Weile im Feierabendverkehr fest und kam erst später als erwartet bei Familie Warnecke an.
Während der Fahrt hatte es wieder angefangen zu schneien. Die Straßen waren zwar frei, doch viele Autofahrer fuhren aus Angst vor Glätte sehr vorsichtig.
Kati parkte ihren silbernen VW Passat vor einem großen, langgezogenen Haus. Als sie ausstieg, bemerkte sie, dass es sich um ein altes, aufwändig renoviertes Bahnhofsgebäude handelte. Sie sah auf ihre Notiz. Hausnummer fünf – sie war bei der richtigen Adresse.
Die Außenlaterne leuchtete und Kati sah, dass auch im Inneren Lichter brannten. Sie atmete erleichtert auf. Zumindest war sie nicht umsonst gekommen, es schien jemand zu Hause zu sein. Mit vorsichtigen Schritten näherte sich Kati auf dem leicht vereisten Weg dem Gebäude.
Kati kam an der Tür an und drückte auf die Klingel. Während sie wartete, rieb sie ihre Hände aneinander. Nach Sonnenuntergang waren die Temperaturen weiter gefallen und sie fror.
Die Tür wurde geöffnet und ein Mann mit einer braunen Hose, die von Hosenträgern über dem stattlichen Bauch gehalten wurde, sah sie misstrauisch an. Die Knopfleiste seines braun karierten Hemds war an einer Stelle aufgeplatzt. »Wir spenden nichts«, sagte er brummend und drückte gegen das Türblatt, um die Tür vor ihrer Nase zu schließen.
»Warten Sie!« Kati zog ihren Ausweis aus der Manteltasche. »Mein Name ist Kati Lindberg und ich komme vom LKA Stuttgart.«
Der Mann hielt inne. »LKA?«, fragte er. »Geht's um den Überfall im Pflegeheim? Haben Sie das Schwein gefasst, das unserem Marcel so einen Schrecken eingejagt hat?«
Kati schüttelte den Kopf. »Leider noch nicht. Genaugenommen war es auch kein Überfall, sondern ein Einbruch und …«
»Was und?«, tönte der Mann und zog seine grauweißen buschigen Augenbrauen zusammen.
»Im Moment ist noch nicht klar, ob etwas gestohlen worden ist.«
»Oh, doch.« Der Mann war sich sicher. »Es wurde was geklaut. Wir haben unseren Sohn besucht. Jannika und er waren gerade dabei, den Saustall wieder aufzuräumen.«
Kati riss die Augen auf. Beierle und die Kollegen von der Spusi hatten Wort gehalten und sich beeilt. »Und was?«
»Es fehlte ein Foto mit Rahmen.«
»Ein Foto? Mehr nicht?«
»Mehr nicht«, brummte Warnecke. »Aber bei Marcel … Sie wissen schon … Ich weiß nicht, ob er den Gesamtüberblick hat.«
Kati, die bezweifelte, dass sie selbst über jedes ihrer Besitztümer Bescheid wusste, fand die Aussage des Vaters ungerecht. Sie überlegte, ob sie ihn zurechtweisen sollte, ließ es aber. Sie brauchte dringend weitere Informationen, da war es nicht zielführend, ihn vor den Kopf zu stoßen.
Die vom Boden aufsteigende Kälte wurde immer unangenehmer und Kati tippelte in ihren Stiefeln von einem Bein auf das andere. »Darf ich vielleicht hereinkommen?«, fragte sie und hauchte sich in die klamm gefrorenen roten Hände. Warum hatte sie sich keine Handschuhe angezogen? »Ich habe ein paar Fragen.«
»Ich …«, stammelte der Mann vor ihr und sah auf den Boden. Kati bemerkte, dass er dunkelbraune Hausschuhe trug, wobei in dem Rechten an der Spitze ein großes Loch klaffte.
»Nun lass sie schon rein«, ertönte plötzlich eine weibliche Stimme aus dem Hintergrund. Eine schmale Hand griff von innen nach der Tür und öffnete sie weiter.
Frau Warnecke war eine große Frau, die Kati auf etwa fünfundsechzig Jahre schätzte. Ihre blonden Haare hatte sie zu einem Zopf gebunden. Das Gesicht war mit zahlreichen Falten übersät, doch ihre Augen wirkten wach und sie funkelten wie bei einem kleinen Kind, das den Weihnachtsbaum betrachtete. Sie trug einen warmen roten Wollpullover und eine Jeans.
»Kommen Sie herein«, sagte sie, gab Kati die rechte Hand und machte mit der anderen eine einladende Bewegung.
»Mein Mann ist nicht sehr gesprächig und der Besuch im Heim hat ihn gestresst, aber ich denke mir, Sie haben sicher einen wichtigen Grund dafür, das Gespräch mit uns zu suchen.«
Kati nickte. »Ja, den habe ich.«
Sie streifte ihre Stiefel an dem Vorleger ab und betrat den Flur. Lydias Mutter führte sie direkt in das Wohnzimmer. In einem Specksteinofen in einer Zimmerecke brannte ein Feuer und Kati spürte sofort die angenehme Wärme, die er abstrahlte.
»Setzen Sie sich bitte«, sagte Frau Warnecke und wies auf einen Sessel. Sie selbst setzte sich auf ein braunes Ledersofa, während sich ihr Mann auf einen weiteren Sessel setzte und den laufenden Fernseher mit der Fernbedienung ausschaltete.
»Darf ich Ihnen einen Tee anbieten?«, fragte Frau Warnecke und zeigte auf eine Kanne, die auf einem Stövchen stand.
Kati hob abwehrend ihre linke Hand. »Ich möchte keine Umstände machen, vielen Dank.«
Lydias Mutter stand auf und ging zu einer Vitrine. »Das macht gar keine Umstände«, sagte sie, nahm eine Tasse und einen Unterteller in chinesischem Stil aus dem Schrank und stellte beides vor Kati auf den Tisch. Ohne abzuwarten, schenkte sie Kati frischen Tee ein. »Das ist Roibuschtee. Ich hoffe, er schmeckt Ihnen.«
Kati lächelte sie an. »Den mag ich gerne, danke.«
Frau Warnecke schob ihr ein Zuckergefäß hin und setzte sich wieder aufs Sofa. Sie faltete die Hände im Schoß und sah Kati an. »Wie können wir Ihnen behilflich sein?«
In kurzen Worten schilderte Kati dem Ehepaar, dass sie den Einbrecher am Nachmittag verfolgt und beinahe gestellt hatte.
Warnecke schob seine Lesebrille, die er in der Zwischenzeit aufgesetzt hatte, ein Stück nach unten und sah sie darüber hinweg an. »Sie waren das? Echt?«
Kati nickte. »Ja.«
Warnecke stand auf und reichte ihr die Hand. »Respekt! Hätte ich das gewusst … Marcel hat erzählt, eine Polizeibeamtin wäre über den Balkon gesprungen, wie Lara Croft in Tomb Raider
.«
Kati räusperte sich und ihr Gesicht nahm die Farbe eines roten Liebesapfels an. Mit Lara Croft bin ich noch nie verglichen worden, dachte sie amüsiert. »Na ja, ich bin ein Stück die Regenrinne runtergerutscht und dann erst gesprungen.«
Sie nahm sich einen Löffel Zucker und rührte ihn in dem Tee um. »Wissen Sie, wer auf dem gestohlenen Foto zu sehen war?«
Herr Warnecke nickte. »Marcel hat erzählt, auf dem Bild wäre seine Schwester gewesen und daneben hätte ein Mann gestanden.«
»Ihre Tochter und ein Mann?«, fragte Kati. »Und wer ist der Mann?«
»Das habe ich Marcel auch gefragt, weil ich gar nicht wusste, dass Lydia einen Freund hatte. Marcel hat ihn aber auch noch nie gesehen, sagte er.«
Kati wandte sich an Frau Warnecke. Mütter hatten meistens mehr Einblick in das Leben ihrer Töchter. »Wussten Sie etwas über einen Freund?«
Frau Warnecke schüttelte den Kopf und seufzte. »Nein, meine Tochter hat schon seit Jahren nicht mehr mit mir über ihre Liebesbeziehungen gesprochen. Seit sie in dieser Gothic-Szene unterwegs war, war es noch schwieriger, an sie heranzukommen. Sie litt unter schweren Depressionen. Es war ein ewiges Auf und Ab.«
Kati nickte. »Ja, das ist uns bekannt. Nahm sie Medikamente dagegen ein oder hatte sie sich einer Therapie unterzogen?«
»Oh ja, sie hat starke Medikamente genommen und im Laufe der Jahre bestimmt fünf Therapien hinter sich gebracht.« Frau Warnecke zog ein Stofftaschentuch aus ihrem Ärmel und begann an ihm herumzuzupfen. Tränen stiegen ihr in die Augen, dann sah sie Kati direkt an. »Wir haben uns so bemüht, so um sie gekämpft, doch das hat alles nichts genutzt. Nach so vielen Jahren hat sie sich entschieden, nicht mehr leben zu wollen, und ich denke, das müssen wir akzeptieren, aber es ist so verdammt schwer.« Eine Träne rollte die Wange hinab und tropfte auf ihren Schoß.
Kati nickte und senkte den Blick. »Der Tod Ihrer Tochter tut mir unendlich leid«, sagte sie.
Auf der anderen Seite hörte sie plötzlich einen lauten Schluchzer. Als sie in die Richtung blickte, sah sie, dass Herr Warnecke aufgestanden war und zur Tür lief. »Entschuldigen Sie, ich kann das nicht«, sagte er und verschwand.
Kati sah zu Frau Warnecke, die ihren Blick immer noch auf die Tür richtete. »Sehen Sie es ihm nach. Er hat Lydias Tod immer noch nicht richtig verarbeitet.«
Kati nippte an ihrem Tee und stellte die Tasse wieder ab. »Denken Sie, Marcel ist in der Lage, den Mann auf dem Foto näher zu beschreiben, oder könnte er uns dabei helfen, dass ein Phantomzeichner eine Zeichnung anfertigen kann?«
Frau Warnecke schüttelte den Kopf. »Sie haben ihn im Heim kennengelernt«, sagte sie. »Sie können es probieren, aber ich persönlich glaube nicht, dass die Versuche von Erfolg gekrönt sein werden.«
Kati presste die Lippen zusammen und nickte. Sie würde es trotzdem probieren, doch sie war ja wegen etwas anderem gekommen.
Frau Warnecke sah sie mit tränennassen Augen an. »Warum waren Sie eigentlich heute bei Marcel?«
»Genau das wollte ich Ihnen erklären. Könnten Sie bitte Ihren Mann wieder hereinholen. Es geht dabei im weitesten Sinne um Lydia.«
Während Frau Warnecke versuchte, ihren Mann zu überreden, wieder hineinzukommen, sah sich Kati in dem großzügigen Wohnzimmer um. Die einst hohe Decke war abgehängt worden. Vielleicht, um Heizkosten zu sparen, oder die Familie hatte die hohen Decken nicht schön gefunden. Es müssen auch ein paar Wände eingezogen worden sein, dachte Kati, denn für die Wartehalle eines Bahnhofes war dieses Zimmer zu klein. In die großen halbrunden Sprossenfenster hatte Frau Warnecke weihnachtliche Leuchtbögen dekoriert und in der Ecke stand ein im Netz eingewickelter Weihnachtsbaum, der nur darauf wartete, aufgestellt und geschmückt zu werden. Auf dem Boden daneben stand ein alter großer Überseekoffer aus dem vorletzten Jahrhundert, der bestimmt den Weihnachtsschmuck enthielt.
Die Tür wurde geöffnet, das Ehepaar Warnecke trat gemeinsam ein und setzte sich. »Also«, sagte Lydias Mutter, »warum waren Sie bei Marcel?«
Kati erzählte ihnen nur das Nötigste und bemühte sich, sich kurzzufassen. Über die laufenden Ermittlungen durfte sie nichts erzählen, das machte es umso schwieriger.
Sie musste in Erfahrung bringen, was es mit den Schneekugeln auf sich hatte, und wollte etwas über Lydias Vergangenheit erfahren.
»Es stimmt, dass Lydia die Schneekugeln von dieser Frau von Beesten nicht gefallen haben«, sagte Frau Warnecke. »Doch letztendlich haben sie Marcel gehört und er liebte diese Dinger.«
»Und fanden Sie das nicht seltsam, dass eine ehemalige Schulkollegin Ihrer Tochter Ihrem behinderten Sohn, den sie gar nicht persönlich kannte, Schneekugeln geschickt hat?«
Frau Warnecke nahm die Teekanne und schenkte erst Kati, dann sich selber nach. »Es kann schon sein, dass eine alte Freundin von Lydia Marcel damals kennengelernt hat. Wir haben ihn auf jede Schulveranstaltung mitgenommen und Lydia hat vor ihrer Depression auch immer ihre Freundinnen mit nach Hause gebracht.«
Kati nickte. »Ich verstehe.«
»Wissen Sie, die Leute machen die verrücktesten Sachen. Manche Spenden jedes Jahr tausende Euro an irgendwelche Hilfsorganisationen und andere senden Schneekugeln an behinderte Männer.«
Kati nahm ihre Tasse und trank einen Schluck von ihrem Tee. Sie sah zu Herrn Warnecke hinüber, der aufgestanden war, um ein Scheit Holz im Ofen nachzulegen.
»Wann war denn genau der Zeitpunkt, an dem Ihre Tochter depressiv geworden ist?«, fragte Kati und stellte ihre Tasse ab. Sie hörte hinter sich ein lautes Schnaufen und war sich nicht sicher, ob das Geräusch daher rührte, dass Warnecke aus der Hocke hochkam oder er die Frage unangenehm fand.
Lydias Vater setzte sich in seinen Sessel und holte tief Luft. »Das entwickelte sich ziemlich schnell bei ihr. Ich glaube, sie war sechzehn, als es anfing«, sagte er, und Kati war überrascht, dass er plötzlich so offen über die Depression sprach. Vielleicht will er es nur schnell hinter sich bringen, dachte sie.
»Gab es einen bestimmten Auslöser?«
»Wir haben bis zuletzt versucht herauszufinden, warum sie krank geworden ist, doch weder wir noch die Therapeuten haben es geschafft. Wenn man mit ihr darüber reden wollte, hat sie sofort zugemacht und sich in ihr Schneckenhaus zurückgezogen.«
»Was heißt das, wenn Sie sagen, sie hat sich zurückgezogen?«, fragte Kati.
»Sie hat nur noch in ihrem Zimmer gehockt, laut Musik gehört und gezeichnet. Vorher ist sie oft mit ihren Freundinnen und Freunden aus der Schule ins Jugendhaus vom CVJM gegangen.«
»Wie hießen diese Freunde?«, fragte Kati, obwohl sie schon ahnte, von wem Frau Warnecke sprach.
»Das waren zum Beispiel Marie Wellinghaus, Tanja Müller und Tibor von Beesten.«
»War auch ein Günther Lessing dabei?«
»Nein, den Namen habe ich nie gehört.«
»Und was macht man beim CVJM?«, fragte Kati. »Sie müssen entschuldigen, ich weiß so gut wie nichts über diese Organisation.«
»Soweit ich mich erinnere, haben sie dort Lagerfeuer und Ausflüge gemacht, Frisbee und Volleyball gespielt, gesungen und einfach eine gute Zeit gehabt. Doch wie gesagt, nachdem die Depression eingesetzt hat, ist sie dort nicht mehr hingegangen und auch nicht mehr zur Leichtathletikgruppe.«
Warnecke kaute auf seiner Unterlippe herum. »Sie war damals eine echt gute Sprinterin und war sogar in einer Auswahl für Jugend trainiert für Olympia. Von heute auf morgen hat sie das alles hingeschmissen und wollte nichts mehr davon wissen. Die Schule hat sie gerade noch so mit einem miserablen Realschulabschluss abgeschlossen und es hat ein Jahr lang gedauert, bis wir sie soweit hatten, dass sie sich zumindest einen Job gesucht hat. Für eine Ausbildung hat ihre Energie nicht gereicht. Also ist sie kellnern gegangen und hat sich so über Wasser gehalten. Wir haben sie all die Jahre immer unterstützt, wenn sie mal wieder aus dem Job geflogen ist und sich was Neues suchen musste.«
»Ist ihr wegen der Depression immer wieder gekündigt worden?«, fragte Kati.
Warnecke nickte und sah mit traurigem Blick zum Feuer.
»Darf ich fragen, wie sich die Depression bei Lydia gezeigt hat?«
Frau Warnecke sah zu ihrem Mann, doch der schwieg. »Am Anfang war es nur Lustlosigkeit, wie viele Teenager sie verspüren. Sie war müde, lag ganze Nachmittage im Bett herum. Später kam sie nicht mehr zum Abendessen. Sie wurde immer magerer und ihre Klamotten passten nicht mehr. Nach zwei Monaten bin ich dann mit ihr zum Arzt gegangen. Der hat ihr nur ein appetitanregendes Mittel verschrieben und gemeint, das wäre nur eine Phase und die würde sich wieder legen.«
»Doch das passierte nicht.«
»Nein, es wurde eher schlimmer. Es war so, als ob sie jeglichen Antrieb und Lebensfreude verloren hätte. Selbst zu ihrem Bruder, den sie ja über alles liebte, ging sie nicht mehr so oft. Sie hatte ihn vorher immer regelmäßig im Heim besucht, als wir ihn hier nicht mehr versorgen konnten. Als sie weiter an Gewicht verlor und auch die tägliche Hygiene vernachlässigte, bin ich wieder mit ihr zu einem Arzt gegangen und der hat uns dann an einen Psychiater verwiesen. Er erkannte das ganze Ausmaß ihrer Krankheit. Ihre fehlende Lebensfreude, ihre verlorengegangene Kreativität … Ihm gegenüber äußerte sie auch ihre Ängste.«
»Ängste wovor?«, fragte Kati.
Frau Warnecke zuckte mit den Schultern. »Angst vor einfach allem. Vor Menschen, vor der Arbeit und den Aufgaben, die damit verbunden waren. Teilweise hatte sie sogar körperliche Schmerzen, hat manchmal Panikattacken gehabt und schlecht Luft bekommen. Da war dann der Zeitpunkt gekommen, dass sie starke Medikamente nehmen musste.«
Die Schilderung des Krankheitsverlaufs kam Kati bekannt vor. Georgs Exfrau hatte das Ganze auch durchgemacht.
»Gab es denn in Ihrer Familie eine genetische Veranlagung zur Depression oder ist bei Ihrer Tochter eine Stoffwechsel- oder Funktionsstörung des Gehirns festgestellt worden?«
»Eine genetische Veranlagung wurde ausgeschlossen«, sagte Herr Warnecke, »aber Sie haben recht. Man hat festgestellt, dass bestimmte Botenstoffe in ihrem Hirn aus dem Gleichgewicht geraten waren. Deshalb schlugen die Medikamente, die sie bekam, relativ gut an. Ein paar Jahre lief es besser für sie. Sie nahm am öffentlichen Leben teil und ging auch wieder ihrer Arbeit nach.«
»Ich weiß nicht …«, unterbrach ihn Frau Warnecke. »Ich hatte immer das Gefühl, irgendetwas ist vorgefallen, worüber sie aber nie gesprochen hat, aber was weiß ich schon. Es gibt so viele verschiedene Faktoren bei dieser Krankheit.«
Kati hatte zwar die ganze Zeit aufmerksam zugehört, doch jetzt wurde sie hellhörig. »Was für ein Vorfall könnte das Ihrer Meinung nach gewesen sein?«
Frau Warnecke nahm die Arme hoch und ließ sie wieder fallen. »Ich weiß es nicht«, sagte sie und wirkte ehrlich verzweifelt. »Mein Gott, sie war erst sechzehn, stand in der Blüte ihres Lebens. Sie hatte Freunde, war in der Gesellschaft akzeptiert und eingebunden. Sie hat uns gegenüber nie etwas Spezifisches erzählt.«
Kati schluckte. »Denken Sie, dass Lydia ihrem Therapeuten gegenüber eine Vermutung geäußert hat, was der Auslöser für die Krankheit gewesen sein könnte?«
Frau Warnecke schüttelte den Kopf. »Das wissen wir nicht, da wir nach ihrem Tod keine Akteneinsicht bekommen haben.«
»Mit wem hatte Lydia denn vor ihrem Tod den meisten Kontakt?«
»Mit uns jedenfalls nicht«, sagte Herr Warnecke traurig und schien noch mehr in seinem Sessel zusammenzusinken.
»Sie war ein paar Mal bei Marcel und dann gab es da noch ihren Therapeuten und eine Selbsthilfegruppe, zu der sie einmal in der Woche gegangen ist.«
Kati zückte ihr Handy. »Den Namen des Therapeuten haben wir in unserer Akte«, sagte sie, »könnten Sie mir eine Kontaktadresse von der Selbsthilfegruppe geben?«
Frau Warnecke schüttelte den Kopf. »Nein, das tut mir leid, da kann ich Ihnen leider nicht helfen. Vielleicht wenden Sie sich an den Therapeuten. Ich kann mir vorstellen, dass er die Selbsthilfegruppe empfohlen hat.«
Kati nickte. »Das werde ich tun.«
»Denken Sie, dass unsere Tochter sich in der Gruppe mehr geöffnet hat?«, fragte Lydias Mutter.
»Möglich wäre das zumindest«, antwortete Kati, stand auf und nahm ihren Mantel.
Das Ehepaar erhob sich ebenfalls. Kati reichte beiden nacheinander die Hand. »Vielen Dank für Ihre Zeit und Ihre Hilfe.«
Frau Warnecke begleitete sie zur Haustür. Mit flehendem Blick sah sie Kati an, als sie die Tür öffnete. »Werden Sie uns informieren, falls Sie etwas über Lydias Beweggründe für ihren Freitod herausfinden?«
Kati legte ihre Hand auf Frau Warneckes linke Schulter. »Das mache ich, soweit es mir möglich ist, ich verspreche es Ihnen.«
Kati stapfte von dem mit Laternen ausgeleuchteten Weg zurück zu ihrem Auto, das mittlerweile zugeschneit war. Mit der bloßen Hand wischte sie den Schnee von den Scheiben, den Rest würden die Scheibenwischer übernehmen. Plötzlich spürte sie wieder dieses Kribbeln in der Nase. Sie tastete in ihren Manteltaschen nach einem Taschentuch, doch es war schon zu spät. »Haaatschi!« Mist, dachte Kati. Sie hatte wenig Lust krank zu werden, nein, sie hasste es regelrecht. Sich tagelang im Bett auszukurieren, Salbeitee und Spitzwegerich-Hustensaft zu schlucken und untätig herumzuliegen. Ich kann froh sein, wenn es bei einer Erkältung bleibt und ich mich nicht bei Flo mit der Grippe angesteckt habe, dachte sie.
Sie öffnete das Auto, fand in der Ablage auf der Mittelkonsole eine Packung mit Taschentüchern und schnäuzte sich. Er war eiskalt und sie vermisste die wohlige Wärme, die in dem alten Bahnhofsgebäude geherrscht hatte.
Sie griff zu ihrem Handy und wählte Lennys Nummer. Nach dreimaligem Klingeln nahm er ab und sie erzählte ihm, was sie von den Eltern über Lydia Warnecke erfahren hatte. Während sie ihm berichtete, nieste sie zweimal und ihre Stimme wurde rauer.
»Nun weißt du Bescheid. Ich komme jetzt ins Büro«, sagte sie.
»Nein, du kommst nicht«, antwortete Lenny. »Du fährst jetzt direkt nach Hause, lässt dir ein warmes Wohlfühlbad ein und gehst früh ins Bett. Morgen will ich dich wieder fit im Büro sehen.«
»Aber …«, intervenierte Kati.
»Nichts aber. Deck dich in der Apotheke mit allem möglichen Zeug ein und dann sehen wir uns morgen.«
Kati, der die Kälte immer mehr in die Knochen fuhr, gab sich geschlagen. »Okay, du bist der Chef.«
»Genau. Also dann bis morgen. Tschüss.«
»Tschüss.« Kati lächelte. Manchmal war es doch von Vorteil, dass sie Lenny schon seit dem Besuch der Polizeiakademie in Nienburg kannte. Gut kannte. Zwischen ihnen herrschte immer noch eine Art Intimität. Nicht so eine, dass sich Georg oder Lennys Freundin Sorgen machen mussten. Es war eher eine Seelenverwandtschaft.
Vierzig Minuten später kam Kati mit einer Apothekentüte bewaffnet zu Hause an und wurde von Bianca an der Haustür herzlich willkommen geheißen.
»Schön, dass du schon da bist«, sagte Georgs Schwester. Sie sah auf ihre Armbanduhr. »Das wundert mich allerdings, es ist doch erst halb sieben.« Sie nahm Kati den Mantel ab und hängte ihn auf einen Bügel an die Garderobe.
»Ich bin nicht so ganz fit«, sagte Kati und zeigte auf ihre gerötete Nase. »Mein Chef hat mir für den Abend freigegeben, obwohl im Büro die Hölle los ist, aber morgen muss ich wieder los.«
Sie hob die Papiertüte in die Luft. »Hier drin ist ein Erkältungsbad. Das gönne ich mir gleich, aber vorher werde ich Flo und Sandra besuchen. Wie geht's den beiden?«
»Flo geht's etwas besser, aber Sandra macht mir Sorgen. Der Husten wird immer schlimmer. Morgen kommt der Arzt und der entscheidet dann, wie es weitergeht.« Plötzlich pfiff ein Teekessel. »Das Wasser ist heiß«, sagte Bianca und eilte in die Küche. »Willst du auch einen Tee? Ich mache gerade einen für die beiden auf der Krankenstation.«
Kati, schlüpfte in ihre Hausschuhe, folgte Bianca und schüttelte den Kopf. »Nein, jetzt nicht, danke. Ich hatte gerade zwei Tassen. Vielleicht nachher, aber ich kann das Tablett nach oben tragen.«
Bianca strahlte. »Das Angebot nehme ich gerne an, meine Vorabendserie beginnt gleich.«
Kati lächelte zurück und dachte: Rentner müsste man sein.
Eine Viertelstunde später saß sie im Bademantel auf dem Wannenrand und goss das Latschenkieferöl in das dampfende Wasser. Sofort erfüllte ein wunderbarer ätherischer Duft den Raum und Kati atmete tief ein. Oh, das tut gut, dachte sie, legte den Bademantel ab und stieg vorsichtig in die freistehende Wanne. So eine hatte sie schon immer toll gefunden. Im neuen Haus war es möglich gewesen, sich diesen Wunsch zu erfüllen. Die Wanne war aus weißem Mineralguss, am oberen Rand geschwungen und sie hatte ein kleines Vermögen gekostet.
Kati setzte sich, lehnte sich zurück und schloss die Augen. Sie hatte sich bewusst keine Musik angemacht und auch das Handy im Schlafzimmer gelassen. Nichts hören, nichts sehen, dachte sie, einfach nur entspannen.
Das duftende Wasser erwärmte ihren Körper und Kati merkte, wie die Anspannung von Sekunde zu Sekunde nachließ. Sie atmete tief ein und wieder aus. Langsam rutschte sie weiter mit dem Rücken am Wannenrand hinunter, bis sie mit dem Gesicht ganz untertauchte.
Eine alte Angewohnheit, die sie liebte, denn nun waren wirklich gar keine Geräusche mehr zu hören, außer vielleicht das Gluckern des Wassers.
Plötzlich spürte sie eine Berührung am linken Schienbein. Zu Tode erschrocken, kam sie prustend nach oben und riss die Augen auf.
Georg saß auf dem Wannenrand und lächelte sie amüsiert an. »Na, da lässt es sich meine kleine Kommissarin ja gut gehen.«
»Hallo«, sagte Kati, strich sich mit der einen Hand das Wasser aus dem Gesicht, während sie Georg mit der anderen Hand bespritzte.
»Hey«, beschwerte Georg sich grinsend und griff nach dem Handtuch, das neben der Wanne lag. »Womit habe ich so einen hinterhältigen Angriff verdient?«
Kati legte den Kopf zur Seite und bedeckte mit den Armen ihren Körper. »Ich weiß es nicht, sag du es mir.«
Georg zuckte mit den Schultern und lächelte. »Ich bin die Unschuld selbst, das weißt du doch.«
Kati rutschte mit dem Po nach vorne und umfasste ihre Knie. Er hatte recht, er war unschuldig. Doch warum hatte sie das eben gesagt? War sie doch eifersüchtig auf die Frau, der Georg im Bordell geholfen hatte? Er hatte ihr doch erklärt, warum er es getan hatte.
»Ich glaube, ich muss dich mal ein wenig verwöhnen.« Georg stand auf, nahm einen frischen Waschlappen aus dem Regal und kniete sich neben die Badewanne. Er tauchte ihn in das Badewasser und begann Katis Rücken zu waschen.
Kati schloss reflexartig ihre Augen. »Das tut gut«, seufzte sie und vergaß ihre negativen Gefühle sich selbst gegenüber.
»Hattest du einen anstrengenden Tag?«, fragte Georg.
»Das kann man wohl sagen. Er begann mit einem abgetrennten Kopf in einer Kiste und endete mit einem Elternpaar, dessen Tochter vor zwei Jahren Selbstmord begangen hat.«
Georg schnaufte laut und tauchte den Waschlappen erneut in das warme Wasser. »Zumindest bei dem Kopf kann ich mitreden«, sagte er. »Ich würde wirklich gerne wissen, was für ein kranker Sadist da am Werk gewesen ist.«
Kati drehte sich zu ihm um und sah ihn über ihre linke Schulter hinweg an. »Ich auch, das kannst du mir glauben. Ich habe herausgefunden, dass diese Frau, die Selbstmord begangen hat, von einem Zug überrollt wurde und ihr dabei der Kopf und beide Hände abgetrennt wurden.«
Georg sog tief Luft ein, sagte aber nichts.
Kati senkte ihren Kopf auf die Knie, die aus dem Wasser hinausspitzten. »Ich habe die Theorie, dass jemand ihren Selbstmord nicht verwunden hat und nun Rache nimmt.« Sie erklärte Georg in kurzen Worten, was sie an dem Tag herausgefunden hatte, während er aufstand, seine Hose auszog und über den Stuhl legte.
»Es gibt einige solcher Selbsthilfegruppen«, sagte er und öffnete seine Hemdknöpfe. »Das Beste wird sein, du fragst den Therapeuten, so wie es das Ehepaar vorgeschlagen hat.« Georg legte das Hemd ebenfalls auf den Stuhl und zog dann seine Socken aus.
Kati zog die Augenbrauen zusammen. »Was hast du vor?«, fragte sie.
Georg streifte sich seinen Slip nach unten, grinste sie frech an und stieg zu Kati in die Wanne. »Mir ist aufgefallen, dass das Wasser schon recht kalt geworden ist und ich dachte mir, ich heize es ein wenig auf.«
Bevor Kati etwas sagen konnte, zog Georg sie an sich und küsste sie auf die Nase. »Ich habe dich den ganzen Tag vermisst.«
»Ich …«, sagte sie, wurde aber durch einen weiteren zarten Kuss auf den Mund unterbrochen.
»Psst.« Georg legte einen Finger auf ihre Lippen und zog sie an sich. »Lass uns den ganzen Mist für eine Weile vergessen. Jetzt gibt es nur uns zwei …«