Kapitel 19
Am nächsten Morgen um halb sieben saß Kati mit einer heißen Tasse Tee am Frühstückstisch und schmierte sich ein Honigbrötchen.
Nach ihrem gemeinsamen Bad mit Georg hatte sie sich früh ins Bett gelegt, hatte ihre Medikamente eingenommen, sich dick eingemummelt und gehofft, dass ihr der Schlaf helfen würde, die Erkältungssymptome zurückzudrängen.
Bis jetzt sah es ganz gut aus. Sie hatte zwar Schnupfen, aber sonst war nichts weiter hinzugekommen.
»Ich bin dann mal weg«, rief Georg, warf ihr aus dem Flur einen Luftkuss zu und dann fiel die Tür ins Schloss.
Zwanzig Sekunden später wurde die Tür wieder aufgeschlossen. Kati sah erstaunt auf. »Georg, hast du was vergessen?« Sie hörte Schritte im Flur und dann stand Georg plötzlich mit einer weißen Schachtel in der Hand in der Küche. »Das lag draußen auf dem Abstreifer«, sagte er und legte das Paket auf den Tisch. »Ist ganz schön schwer.«
Kati starrte erst die Schachtel an, dann Georg. »Willst du mich auf den Arm nehmen?«, fragte sie. »Das ist ein ganz schlechter Scherz!«
Georg trat einen Schritt zurück. »Du denkst, dass ich das eben dorthin gelegt habe? Meinst du nicht, das wäre ein bisschen umständlich?«
Kati verzog den Mund und ihre Augen verengten sich. »Es ist also wirklich nicht von dir?«
»Nein, wenn ich es dir doch sage!«
Katis Blick glitt zurück zu dem Päckchen. »Scheiße«, sagte sie, »das sieht genauso aus wie das bei Frau Müller und bei Marie von Beesten. Sieh mal, das hat auch diese sehr feinen, silbrigen Schneeflocken drauf.«
Georg hob die Augenbrauen, dann stellte er seine Tasche auf einen der Küchenstühle. »Du meinst doch nicht, dass der Täter dir etwas geschickt hat?«
Kati kaute auf ihrer Unterlippe herum. Ihr war flau im Magen. Sie stand auf, ging zum Küchenschrank und holte sich Einmalhandschuhe heraus, die sie für den Notfall und heikle Putzarbeiten immer zu Hause hatte. Sie streifte sie über und wollte gerade die Schleife öffnen, als Bianca in die Küche trat. »Oh, ein Geschenk«, trällerte sie und stellte sich direkt neben Kati.
Georg legte einen Arm um Biancas Taille und führte sie hinaus in den Flur. Bianca sah ihn an, schüttelte den Kopf und protestierte. »Hey, was machst du da?«
»Glaub mir, das, was da drin ist, möchtest du nicht sehen.«
»Was? Warum?«, rief Bianca und drehte sich zur Küche. »Ist es eine Weihnachtsüberraschung?«
Georg sah sie mit eindringlichen Blick an und schob sie weiter in den Flur hinein. »Glaub es mir, Bianca! Bitte hör auf mich!«
Kati hatte nicht gewagt, das Paket anzufassen. »Georg?«
»Bleib da stehen, okay?«, sagte er zu Bianca und lief zurück in die Küche.
»Okay«, sagte Kati und holte tief Luft. Mit zittrigen Fingern löste sie die rote Schleife und ließ sie seitlich auf den rustikalen Holztisch fallen.
Kati hob den Deckel langsam an und ihr Puls beschleunigte sich weiter. Scheiße, scheiße, scheiße, dachte sie. Was ist, wenn da wirklich …
Sie legte den Deckel zur Seite und ihr Blick fiel auf mehrere durchsichtige Tüten, die mit etwas gefüllt waren. Darauf lag ein weißer Umschlag, der nicht beschriftet war, und darunter lag ein weiterer weißer Karton.
Kati zog die Augenbrauen zusammen. Sie meinte, zu erkennen, was in den Tüten zu sehen war. Sie griff zu einer von ihnen und hielt sie dicht vor ihr Gesicht.
»Das sind diese ostfriesischen Rölleken, oder?«, rief Bianca, die sich, ohne von den beiden bemerkt zu werden, in die Küche geschlichen und neben Georg gestellt hatte.
Kati sah sie an. »Ja, du hast recht.«
Georg sah aus wie ein Erstklässler, der an einer Tafel eine schier unlösbare Aufgabe lösen sollte. »Was zum Teufel sind Rölleken?«
Er nahm eine der drei Tüten in die Hand und besah sich den Inhalt näher. »Waffeln?«, fragte er und runzelte die Stirn.
Kati lachte und war froh, dass der Inhalt des Paketes dermaßen harmlos und zudem noch sehr lecker war. »Rölleken sind traditionelle ostfriesische Neujahrskuchen. Man kann sie zum Tee oder Kaffee knuspern und …«
»Sie haben ein sehr hohes Suchtpotenzial«, führte Bianca den Satz weiter. »Wenn du einmal damit anfängst, kannst du nicht mehr aufhören.«
»Aha«, sagte Georg gedehnt und legte die Tüte wieder in die Schachtel zurück. »Und wer hat die geschickt? Willst du nicht mal in den Umschlag kucken?«
Kati hatte das Kuvert ganz vergessen, sah, dass es an die Seite gerutscht war und nahm es heraus. Es war nicht verschlossen. Sie zog eine Karte hervor und klappte sie auf, während Georg den zweiten Karton unter den Tüten hervorzog.
Kati sah, dass auf der Packung von außen ein Bild eines speziellen Waffeleisens aufgedruckt war.
»Sorry, dass ich bei Eurer Einweihungsfeier nicht dabei sein konnte. Dies ist ein kleines Geschenk von mir an Euch. Genießt sie, backt dann selber fleißig und seid mir für diesen kleinen Scherz nicht böse. Eure Bianca.«
Kati ließ die Karte sinken und grinste über das ganze Gesicht. Georg drehte sich zu seiner Schwester um und boxte sie leicht gegen den Arm. »Du bist so eine kleine …«
»Überraschung!« Biancas Wangen waren rot wie reife Äpfel und sie strahlte über das ganze Gesicht.
Kati ging um den Tisch herum und nahm sie in den Arm. »Danke, das ist eine ganz tolle Überraschung. Du hast dir gemerkt, dass ich gesagt habe, mein Eisen wäre seit Jahren kaputt und dass ich diese Dinger so gerne esse.«
Bianca nickte. »Oh ja«, sagte sie gedehnt. »Ich kannte diese Rölleken nicht, aber dann habe ich das Eisen im Internet gefunden und gleich zwei bestellt.« Sie grinste. »Du hast zu Recht geschwärmt. Sehr lecker, diese Teile.«
»So, so«, sagte Georg und griff nach einer der Tüten. »Meine Schwester weiß mal wieder mehr über meine Verlobte als ich! Dann werde ich die mal mitnehmen und sie probieren.« Er gab erst Kati und dann seiner Schwester einen Kuss auf die Wange. »Macht es gut, ihr Süßen. Ich muss jetzt wirklich ins Krankenhaus. Die Toten warten auf mich.«
Nachdem er gegangen war, setzte sich Kati wieder an den Tisch und trank ihren Tee, während Bianca für Flo und Sandra das Frühstück herrichtete.
Kati biss von ihrem Honigbrötchen ab und kaute genüsslich.
»Warum habt ihr da eigentlich eben so ein Tamtam um das Päckchen gemacht?«, fragte sie, während sie Haferflocken in die heiße Milch rührte.
Kati hörte auf zu kauen und das Bild des abgetrennten Kopfes in dem Paket vor Tims Haustür tauchte vor ihrem geistigen Auge auf.
»Ähm, es ist so …«, begann Kati den Satz brach ihn jedoch wieder ab.
»Ja?«, fragte Bianca neugierig. »Erzähl!«
Kati wand sich innerlich. »Ich weiß nicht, es geht um laufende Ermittlungen. Darüber darf ich nicht sprechen.«
Bianca drehte sich um und stemmte ihre Arme in die üppigen Hüften. »Also, ich bitte dich!«, sagte sie, »als ob ich irgendjemanden davon erzählen würde.«
Kati kratzte sich unter dem Wollschal, den sie um den Hals trug.
»Jemand hat Leuten in genau der gleichen Verpackung Körperteile geschickt«, sagte sie und fühlte sich unwohl dabei.
Bianca lehnte sich mit offenem Mund gegen die Küchenzeile. »Was?« Sie legte eine Hand vor den Mund. »Das ist ja schrecklich. Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich die Dinger einfach in einer Schüssel zum Kaffee auf den Tisch gestellt.«
Kati legte Bianca eine Hand auf einen Unterarm. »Ist schon gut, das konntest du wirklich nicht wissen.«
Bianca presste die Lippen aufeinander. »Du und Georg habt gedacht, dass der Täter euch auch etwas geschickt hätte, oder?«
»Ganz auszuschließen ist so etwas nie«, sagte Kati und drehte sich wieder zum Tisch, um ihr Brötchen aufzuessen. »Wo hast du denn diese Schachtel gekauft?«
»Das war so eine Verkaufsaktion in einer Drogerie«, sagte Bianca. »Das waren vier Stück, die ineinander gestapelt waren. Die Schleife war auch dabei.«
Kati zog ihr Handy hervor und öffnete ihre Notiz App. »Sagst du mir, welche Drogerie das war?«
Bianca nannte ihr den Namen der Kette. »Meinst du, der Täter hat die Schachteln auch dort gekauft?«
Kati zuckte mit den Schultern. »Wahrscheinlich ist es Massenware, aber spätestens, wenn wir einen Verdacht gegen jemanden haben, könnten wir diesen mit Aufnahmen aus den Drogerien untermauern.«
Eineinhalb Stunden später saß Kati in ihrem Büro am Schreibtisch. Die morgendliche Besprechung lag bereits hinter ihr.
Timo hatte die Exhumierung der Leiche von Beestens stark vorangetrieben und Druck gemacht. Die Explosion des Wagens hatte nicht viel von dem Fahrer übrig gelassen. Der Körper war fast komplett zu Asche verbrannt und auch vom Gebiss waren am Auffindeort nur fünf einzelne Zähne gefunden worden. Es war fast so, als wäre eine Handgranate direkt in von Beestens Mund explodiert.
Die Zähne waren zu einem Speziallabor geschickt worden, das mit dem Verfahren der Kaltvermahlung die Zähne pulverisieren und aus dem Pulver die DNS extrahieren würde.
Nun hieß es warten.
Ihre Aufgabe bestand jetzt darin, den Therapeuten von Lydia Warnecke zu kontaktieren und ihn zu fragen, ob er ihr eine Gruppe empfohlen hatte.
Staatsanwältin Brunner hatte ihr versprochen, sich um einen richterlichen Beschluss zu kümmern, um Einsicht in die Krankenakte von Lydia Warnecke zu bekommen. Doch das konnte dauern.
Warneckes Therapeut, Dr. Theobald, reagierte sehr kooperativ. Er konnte sich gut an Lydia Warnecke erinnern, wollte jedoch ohne die richterliche Anordnung nicht über sie sprechen.
»Das verstehe ich ja«, sagte Kati. »Erinnern Sie sich, ob Sie ihr eine Selbsthilfegruppe empfohlen haben? Zumindest das könnten Sie mir doch sagen.«
Theobald zögerte nicht eine Sekunde, bevor er antwortete. »Ja sicher, das war eine Selbsthilfegruppe, die sich in der St. Michaelis-Kirche trifft. Sie findet immer noch statt, und zwar am Donnerstag. Ich glaube um zwanzig Uhr.«
»Das hilft mir sehr weiter, vielen Dank«, sagte Kati und notierte sich die Angaben.
»Ich befürchte aber, dass sie von dem Leiter der Gruppe auch keine näheren Auskünfte bekommen ohne einen richterlichen Beschluss. Die sind da sehr eigen, wenn es darum geht, Informationen herauszugeben.«
»Okay, ich probiere trotzdem mein Glück.« Sie verabschiedeten sich und Kati legte auf, um gleich danach Staatsanwältin Brunner zu kontaktieren.
Diese war nicht sehr begeistert, versprach jedoch, sich um den Beschluss zu kümmern.
Kati trank den letzten Schluck ihres Kaffees aus, stand auf und ging in die kleine Küche, um sich einen neuen zu holen.
Sarah stand an dem Automaten und machte sich ebenfalls einen Kaffee. »Hi«, sagte sie lächelnd. »Brauchst du auch Nachschub?«
»Davon kannst du ausgehen«, antwortete Kati und wedelte mit ihrer leeren Tasse in der Luft herum.
»Ich habe übrigens in der Praxis von Günther Lessing angerufen, weil ich ihn noch etwas fragen wollte«, sagte Sarah, ging zum Kühlschrank und holte die Milch heraus.
»Aha. Und?«
»Die Sprechstundenhilfe hat mir erzählt, dass Lessing nicht in der Praxis aufgetaucht wäre, ihr aber eine Notiz hinterlassen hätte, in der er sie aufforderte, alle Patiententermine für die Woche abzusagen. Außerdem stand auf dem Zettel, dass sie sich freinehmen könnte.«
Kati runzelte die Stirn. »Hm«, brummte sie. »Das ist seltsam. Meinst du, das hängt mit seiner verschwundenen Freundin Marie zusammen?«
Sarah nahm ihren Becher zur Hand und goss sich Milch ein, während Kati ihre Tasse unter den Auslauf des Vollautomaten stellte und einen Latte macchiato wählte.
»Die Frage habe ich mir auch gestellt«, sagte sie und nahm einen Schluck Kaffee.
»Du kannst es ja mal bei ihm zu Hause probieren«, schlug Kati vor.
Sarah verzog den Mund zu einem Lächeln. »Genau das hatte ich jetzt vor.«
»Ich werde gleich die Betreuerin von Marcel Warnecke im Heim anrufen«, sagte Kati. »Sie ist wahrscheinlich am besten in der Lage zu beurteilen, ob es Sinn macht, einen Phantomzeichner zu ihm zu schicken, um das Gesicht auf dem Foto nachzeichnen zu lassen.«
Laura Kienle stürmte plötzlich in die Kaffeeküche. »Kommen Sie schnell zum Chef. Es gibt Neuigkeiten!«