7
Pine und Blum durchquerten den Empfangsraum des Cottage, als eine Stimme nach ihnen rief.
»Sie erinnern sich wahrscheinlich nicht an mich.«
Beide drehten sich um und sahen eine Frau auf sich zukommen.
Die Unbekannte war Mitte vierzig, schlank und hübsch, hatte kurz geschnittenes rotes Haar und einen federnden Gang. Sie trug eine weiße, am Kragen geöffnete Bluse, schwarze Pumps und eine dunkelgrüne Hose, die einen attraktiven Kontrast zu ihrer Haarfarbe bildete.
»Ich bin Lauren Graham«, stellte sie sich vor und hielt Pine die Hand hin. »Ich war auf der Highschool, als Sie noch mit Ihren Eltern hier wohnten. Tut mir leid, dass ich nicht da war, als Sie eingecheckt haben.«
Pine schüttelte ihr die Hand. »Ich kann mich leider nicht an Sie erinnern.«
»Kein Wunder. Sie waren ein kleines Mädchen.«
Ein wenig befangen musterten die beiden Frauen einander.
»Ist sicher unwirklich für Sie, nach so langer Zeit zurückzukommen«, sagte Graham schließlich.
»Ich habe den Eindruck, dass die Stadt sich gar nicht so sehr verändert hat.«
»Die Stadt vielleicht nicht, aber andere Dinge umso mehr. «
Pine überlegte einen Moment und nickte dann. »Wahrscheinlich ist es überall so, ob es uns passt oder nicht.« Sie räusperte sich, fügte in sachlicherem Tonfall hinzu: »Waren Sie damals, als wir noch hier gewohnt haben, bei uns zu Hause?«
»Ja. Ich habe Ihrer Mutter manchmal beim Putzen und Einkaufen geholfen. Sie und Ihre Schwester habe ich allerdings nicht oft gesehen. Ich kam nicht regelmäßig, nicht jede Woche oder so. Aber ich war froh, mir ein bisschen was verdienen zu können.«
»Vorhin bin ich Agnes Ridley begegnet.«
»Agnes? Ja, sie hat oft auf Sie und Mercy aufgepasst.«
Es war eigenartig für Pine, die Leute von ihrer Schwester reden zu hören, als würde Mercy irgendwo anders ein ganz normales Leben führen.
»Ich war ganz schön überrascht, dass Sie nach so langer Zeit zurückkommen. Als Ihre Familie damals weggezogen ist, hätte ich nie gedacht, Sie noch einmal in Andersonville zu sehen. Nicht nach dieser furchtbaren Sache.«
»Ich habe gehört, dass meine Eltern und ich damals bei Nacht und Nebel aufgebrochen sind«, sagte Pine erwartungsvoll.
Lauren Graham musterte sie nachdenklich. »Ich weiß noch, dass es tagelang das Gesprächsthema in der Stadt war. Es war, als hätten Sie nie hier gewohnt. Niemand hier hat jemals wieder etwas von Ihren Eltern gehört.«
»Das hat Agnes Ridley auch gesagt. Es muss ziemlich überraschend gekommen sein.«
»Ich würde Ihren Eltern keinen Vorwurf machen. Die Leute haben unschöne Dinge über sie gesagt … widerliche Sachen. An ihrer Stelle wäre ich auch gegangen. Wer will sich schon den ganzen Dreck anhören nach einem so schmerzlichen Verlust?«
»Viele hielten meinen Vater für den Täter oder glaubten, dass er irgendwie in die Sache verwickelt war. «
»Ja. Andere haben ihm vorgeworfen, ihm seien Bier und Hasch wichtiger als seine Kinder. Aber ich habe das nie so gesehen.«
»Warum?«
»Ihre Eltern haben einen Fehler gemacht, und das hat jemand ausgenutzt. Man kann seine Kinder nicht rund um die Uhr im Auge behalten. Ihre Eltern haben Sie und Ihre Schwester geliebt. Ihre Mutter wäre eher gestorben als zuzulassen, dass ihren Mädchen etwas zustößt.«
Pine war überrascht. »Ich … nun ja, ich habe nie wirklich mit ihr darüber gesprochen. Sie ist dem Thema immer ausgewichen.«
»Kann ich nachvollziehen. Genauso verstehe ich, dass Sie wahrscheinlich hunderttausend Fragen hatten und niemanden, der sie Ihnen beantwortet hat.«
Pine sah Graham plötzlich in einem anderen, vorteilhafteren Licht. »Ja, stimmt. Und die Fragen sind bis heute offen.«
Graham blickte auf das FBI -Abzeichen an Pines Hüfte. »Sie sind heute FBI -Agentin, wie ich sehe. Beeindruckend.«
»Sie erkennen das Abzeichen auf den ersten Blick?«
»Ich habe gegoogelt, nachdem Sie die Zimmer reserviert hatten, und Ihren Namen wiedererkannt.«
»Verstehe.«
»Wo leben Sie jetzt?«
»Arizona.«
Auf Grahams Gesicht erschien ein sehnsüchtiger Ausdruck. »Da war ich noch nie. Es soll sehr schön sein.«
»Ist es«, warf Blum ein, da Pine schwieg. »Ganz anders als hier, obwohl diese Gegend auch ihre Reize hat.«
Pine blickte zu ihrer Assistentin, dann wieder zu Graham. »Tut mir leid, ich habe wohl meine Manieren vergessen. Das ist Carol Blum, meine Assistentin.«
»Hi, Carol.« Graham lächelte sie an. »Nun ja, ich bin nicht allzu viel herumgekommen. Zuerst habe ich die Georgia Southwestern State University besucht und später in Atlanta im Gastgewerbe gearbeitet, bis ich dann wieder hier gelandet bin.«
»Sind Sie verheiratet?«
»Ich war verheiratet. Ist schon eine Weile her.« Sie ließ ihren Blick einen Moment lang schweifen. »Ich habe das Haus gekauft und mich selbstständig gemacht. Wir haben hauptsächlich Touristen hier, die das Gefängnis sehen wollen. Aber ich kann davon leben, und das ist ja die Hauptsache. Früher hatte ich größere Pläne, aber heute passt es ganz gut für mich. Allerdings würde ich sehr gern mal auf Reisen gehen. Und wer weiß, vielleicht heirate ich ja irgendwann wieder.«
»Das ist ein wirklich reizendes Haus«, meinte Blum anerkennend.
»Danke. Ich bin hier aufgewachsen.«
»Tatsache? Ihre Familie hat hier gewohnt?«, fragte Blum überrascht.
»Wir waren fünf Kinder. Meine Eltern sind schon vor Jahren gestorben. Meine Geschwister wollten das Haus nicht, und so hat sich eins zum anderen gefügt. Ich hatte Geld gespart, habe die anderen ausbezahlt und dann den Sprung ins kalte Wasser gewagt.« Graham wandte sich Pine zu. »Ihre Schwester … man weiß bis heute nicht, was mit ihr geschehen ist, nicht wahr?«
»Stimmt.«
»Aber Sie sind hergekommen, um nachzuforschen?«
»Ja. Können Sie sich erinnern, was damals passiert ist? Mich interessiert jede Kleinigkeit.«
Graham blickte kurz zu Carol Blum. »Möchten Sie einen Kaffee? Ich habe gerade eine frische Kanne aufgesetzt. Wir können ihn drüben im Frühstücksraum trinken.«
Pine und Blum nahmen die Einladung an. Während Graham Kaffeekanne und Geschirr holte, ließen sie den Blick durch den Frühstücksraum schweifen. An einer Wand stand ein breiter Glasschrank, der bis zur Decke reichte; eine umfangreiche Sammlung von Puppen war darin ausgestellt. Manche waren so groß, dass sie beinahe lebendig aussahen, andere winzig klein, und alle trugen altmodische Kleider.
Blum ging näher an die Puppen heran. »Die sind wirklich hübsch. Ziemlich alt. Die größte sieht gar nicht aus wie eine Puppe, eher wie eine Schaufensterfigur. Die Sammlung muss eine Stange Geld gekostet haben.«
»Ich sehe, Sie haben meine kleine Sammlung bemerkt.«
Pine und Blum drehten sich um. Graham war zurück und stand in der Tür, in den Händen ein Tablett mit Kaffee und Keksen.
Sie setzten sich an einen Tisch. Die Gastgeberin schenkte ihnen ein und warf dann einen Blick auf die Vitrine. »Meine Mutter hat damit angefangen. Als ich klein war, habe ich mit den Puppen gespielt, als wären sie Freundinnen. Ich habe jeder einen Namen und eine eigene Geschichte gegeben. Für mich waren sie beinahe lebendig.« Ein wenig verlegen senkte sie den Blick.
»Kinder haben eine lebhafte Fantasie«, sagte Blum diplomatisch, während Pine ihre Gastgeberin nachdenklich musterte.
»Ich selbst habe keine Kinder«, erklärte Graham.
Pine warf Blum einen kurzen Blick zu, ehe sie sich wieder Graham zuwandte. Die Frau wirkte nervös, zugleich schien sie auf seltsame Weise aufgekratzt. Wahrscheinlich geschah nicht viel Aufregendes in ihrem Leben, vermutete Pine. Da war es eine interessante Abwechslung, wenn jemand kam und versuchte, ein altes Rätsel zu lösen.
»Kommen wir auf die Ereignisse vor dreißig Jahren zurück«, sagte Pine.
»Ja, sicher. Ich war an dem Tag in der Schule. Alle haben von nichts anderem gesprochen«, erinnerte sich Graham. »Wir hörten die Sirenen des Rettungswagens, als Sie ins Krankenhaus gebracht wurden. Der Sheriff hat das Georgia Bureau of Investigation eingeschaltet.« Das GBI war gewissermaßen das bundesstaatliche Äquivalent zum FBI . »Einige Zeit später kamen sogar Leute vom Bureau.« Wieder fiel ihr Blick auf Pines FBI -Abzeichen. »Ich bin an dem Tag noch zu euch rausgefahren, um zu helfen. Ihr Vater war zu Hause, und Ihre Mom war bei Ihnen im Krankenhaus drüben in Americus.« Die Erinnerung schien ihr seltsam peinlich zu sein. »Vor dem Haus hatte sich eine Menschenmenge versammelt, aus purer Neugier. Das war nicht in Ordnung. Aber ich hätte wirklich gerne geholfen«, fügte sie rasch hinzu.
Sie stockte, trank einen Schluck Kaffee und warf kurze Blicke zu Pine und Blum, als wollte sie deren Reaktion einschätzen.
»Haben Sie an dem Tag meinen Vater gesehen?«, fragte Pine mit gepresster Stimme. Blum schaute besorgt zu ihr und bemerkte, wie innerlich aufgewühlt ihre Chefin war. Offenbar fiel es ihr schwer, die Sache mit professioneller Distanz anzugehen. Sie schien nicht gefasst zu sein auf das, was diese Reise in die Vergangenheit emotional in ihr auslöste.
»Ihr Vater …«, begann Graham leise, »nun ja, Tim hatte einiges getrunken. Wer könnte es ihm verdenken nach dem, was passiert war?«
»Erzählen Sie weiter.«
»Es kam zu einem Streit mit einem der Gaffer, und sie wurden handgreiflich. Zum Glück ging jemand dazwischen.«
»Warum war die Polizei nicht vor Ort?«, hakte Pine nach. »Es war immerhin ein Tatort und hätte abgesperrt werden müssen. Außerdem hätte mein Vater sich gar nicht dort aufhalten sollen.«
Graham warf ihr einen abschätzenden Blick zu. »Sie meinen, weil er für die Polizei ein Verdächtiger war? «
»Er war sogar der einzige Verdächtige.«
»Hm, ja. Soviel ich weiß, hatten die Cops nie jemand anderen in Verdacht …« Sie brach ab und schaute Pine unbehaglich an.
»Ich habe der Polizei damals gesagt, dass mein Vater nichts damit zu tun hat.«
»Tja, nur dass Sie noch ein Kind waren, Lee.«
»Heute würde ich ›Atlee‹ bevorzugen.«
»Wie Sie wünschen, Atlee. Außerdem waren Sie schwer verletzt. Wahrscheinlich hat es damals eine Woche gedauert, bis Sie der Polizei überhaupt etwas sagen konnten. Der Täter hatte Ihnen den Schädel gebrochen.« Lauren Graham hatte Tränen in den Augen.
»Dann haben die Cops mir wohl nicht geglaubt, als ich ihnen sagte, dass mein Dad unschuldig sei«, murmelte Pine, die plötzlich das Gefühl hatte, in einem Sumpf zu versinken, der von ihr selbst geschaffen worden war.
Blum warf ihr einen raschen Blick zu und übernahm dann selbst die Befragung. »Erinnern Sie sich sonst noch an etwas, Lauren?«
»Das FBI wurde hinzugezogen, als feststand, dass die örtliche Polizei und die State Police den Fall nicht aufklären konnten.«
»Das bedeutet dann wohl, sie hatten keinen Beweis gegen Atlees Vater in der Hand, obwohl er ihr einziger Verdächtiger war?«
»Wissen Sie, Verbrechen hat es in dieser Gegend immer schon gegeben, damals wie heute«, entgegnete Graham. »Aber keine Entführungen. Und erst recht keinen Mord. Heute haben wir’s vor allem mit Schlägereien zwischen Betrunkenen oder Drogensüchtigen zu tun. Hin und wieder auch Einbrüche. Julia Pine hat damals geschworen, dass ihr Mann sturzbetrunken auf dem Fußboden im Wohnzimmer gelegen und geschlafen hat. Und Julias Aussage zufolge lag er immer noch dort, als sie gegen sechs Uhr aufgewacht war und nach Atlee und ihrer Schwester gesehen hatte. Allein die Zahl der leeren Bierflaschen und der gerauchten Joints spricht dafür, dass es so war.«
»Es gab nie irgendwelche forensischen Spuren, die meinen Vater belastet hätten«, erklärte Pine.
»Und es waren bestimmt überall im Haus Fingerabdrücke von ihm«, meinte Blum. »Die lassen sich ja auch kaum vermeiden, wenn man irgendwo wohnt.«
»Außerdem habe ich einen Mann durchs Fenster hereinkommen sehen«, fügte Pine hinzu. »Er hat Handschuhe getragen, also kann der Täter selbst keine Fingerabdrücke hinterlassen haben.«
Graham, die soeben ihre Tasse anhob, hätte beinahe ihren Kaffee verschüttet. »Sie haben einen Mann gesehen?«
»Ja. Schon deshalb kann es nicht mein Vater gewesen sein. Warum hätte Dad durchs Fenster steigen sollen?«
»Und das haben Sie der Polizei gesagt?«
Pine zögerte einen Moment. »Ich glaube schon. Aber ich war ja nur ein verwirrtes kleines Mädchen mit einem Schädelbruch. Wahrscheinlich haben sie meine Aussage gar nicht für voll genommen.«
»Waren Sie schon drüben in Ihrem alten Haus?«
»Ja. Ein gewisser Cyrus Tanner wohnt jetzt dort. Er hat es gemietet, sagt er.«
»Ein interessanter und attraktiver Mann«, warf Carol Blum ein.
Graham lächelte. »Oh ja. Nur dass Cy Tanner viel erzählt, und nicht alles ist wahr.«
»Dann stimmt es also nicht, dass er das Haus gemietet hat?«, hakte Blum nach.
»Ich glaube nicht, dass überhaupt noch jemand weiß, wem das Haus gehört. Deshalb kann ich mir nicht vorstellen, dass Tanner jemandem Miete bezahlt. «
»Sie meinen, er wohnt illegal dort?«
»Er wäre nicht der Einzige. Seit dem Jahr 2000 hat die Stadt fast ein Drittel ihrer Einwohner verloren. Aber die Entwicklung in Sumter County ist allgemein nicht schlecht. Die Löhne gehen nach oben, die Leute finden wieder Arbeit, und dementsprechend ziehen auch die Immobilienpreise an. Es leben wieder mehr junge Leute in der Gegend. Trotzdem gibt es leer stehende Häuser, wie zum Beispiel das, in dem Sie gewohnt haben.«
»Irgendwie logisch«, meinte Blum.
»Glauben Sie wirklich, Sie können nach so vielen Jahren herausfinden, was damals vorgefallen ist?«
»Solche Cold-Case-Ermittlungen führen oft Jahre später noch zu einem Ergebnis«, erklärte Blum.
»Mag sein, aber die meisten ungeklärten Fälle bleiben ungeklärt«, hielt Graham dagegen.
»Woher wissen Sie das?«, fragte Pine.
»Ich arbeite gerade an einem Kriminalroman«, erklärte Graham. »Wie gesagt, ich kann von dem Haus ganz gut leben, aber irgendwie genügt mir das nicht. Ich möchte mir als Schriftstellerin einen Namen machen, und mein Gebiet sind historische Kriminalromane.«
»Dann sind Sie wohl doch ambitionierter, als Sie gesagt haben«, warf Blum ein.
Graham senkte den Blick. »Vermutlich.«
»Lassen Sie mich raten – Ihre Geschichten spielen zur Zeit des Bürgerkriegs«, meinte Pine.
»Gut kombiniert. Ein historischer Roman lebt von der Atmosphäre. Und diese Stadt ist irgendwie vom Krieg durchdrungen, ob es uns nun passt oder nicht. Mir bringt es hoffentlich etwas Gutes. Was ich damit sagen will … ich habe mich intensiv mit alten Kriminalfällen beschäftigt. Von daher weiß ich, dass die meisten dieser Fälle ungelöst bleiben. «
Pine erhob sich von ihrem Platz. »Meiner hoffentlich nicht. Was das angeht, werde ich alles tun, was ich kann. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen, es war ein langer Tag.«
Sie ging hinaus, ohne auf die beiden Frauen zu warten.
Graham schaute Blum unsicher an. »Kann sie das schaffen? Was meinen Sie?«
»Wenn sie es nicht schafft, schafft es keiner.«