31
Detective Wallis und Agent Laredo saßen am selben Tisch wie zuvor Pine und Blum. Tanner und Ridley waren gegangen.
Blum trat ein, sah die zwei Männer, ging schnurstracks zu ihrem Tisch und setzte sich neben Wallis.
»Hallo, Carol«, sagte Wallis. »Warum ist Agentin Pine nicht ein bisschen länger geblieben?«
»Sie hatte etwas zu erledigen. Aber sie hat mich zurückgeschickt, um auf dem Laufenden zu bleiben.«
Laredo warf ihr einen prüfenden Blick zu, schwieg jedoch.
»Das freut mich.« Wallis nickte. »Wie ich Agent Laredo und Ihrer Chefin schon gesagt habe, scheinen wir im Fall Hanna Rebane gegen eine Wand zu laufen. Es gibt nicht den kleinsten Hinweis, was sie getan hat, als sie am Tag ihrer Ermordung aus dem Haus gegangen ist. Wie es aussieht, hat sie niemanden angerufen und weder Kreditkarte noch Bankkarte benutzt. Niemand hat sie gesehen. Ab diesem Zeitpunkt ist sie wie vom Erdboden verschluckt.«
»Bis sie wenig später in Andersonville, Georgia, wieder auftaucht«, fügte Blum hinzu.
»Haben Sie die Wohnung auf Fingerabdrücke untersucht?«, fragte Laredo.
»Ja. Die einzigen Abdrücke stammen von Rebane, Clemmons und ihrem Freund – und der war zur fraglichen Zeit in Miami.«
»Was ist mit dem zweiten Opfer? Wissen wir da schon mehr? «
»Ja, da war das Glück auf unserer Seite. Die Fingerabdrücke haben einen Treffer ergeben. Der Mann heißt Layne Gillespie. Zweiunddreißig Jahre alt. Die letzte bekannte Adresse ist in Savannah.«
»Was wissen wir sonst noch über ihn?«, hakte Laredo nach.
»Er war ein paar Jahre in der Army. Mit einer allgemeinen Entlassung aus dem Dienst ausgeschieden.«
»Also keine ehrenhafte Entlassung, aber auch keine unehrenhafte«, sagte Laredo nachdenklich.
»Und auch keine Entlassung aus disziplinarischen Gründen«, fügte Blum hinzu. »Was mich interessieren würde: War es eine Entlassung unter ehrenhaften Bedingungen oder nicht?«
Beide Männer musterten sie verdutzt.
»Mein ältester Sohn ist Militärpolizist in der Army«, erklärte Blum. »Von daher kenne ich den Sprachgebrauch. Eine Entlassung unter ehrenhaften Bedingungen bedeutet, dass die Leistungen des Betreffenden zufriedenstellend waren, sein Verhalten aber nicht dem entsprochen hat, was von einem Militärangehörigen erwartet wird. Wenn die Entlassung hingegen unter anderen als ehrenhaften Bedingungen erfolgt, waren auch die Leistungen nicht ausreichend. Das taucht dann in den Entlassungspapieren auf. Wie war es bei Gillespie?«
»Er wurde unter anderen als ehrenhaften Bedingungen entlassen«, sagte Wallis nach einem kurzen Blick in die Unterlagen.
»Und die Gründe?«, hakte Blum nach.
»In den Unterlagen steht nur, dass sein Verhalten nicht den Ansprüchen der Army entsprochen hat – genau wie Sie gesagt haben.« Er stockte einen Moment. »Aber in seinen Militärunterlagen wurde offenbar das eine oder andere gestrichen. Jedenfalls in dem Teil, den man mir gegeben hat.«
Blum und Laredo wechselten einen Blick.
»Stellt sich die Frage, warum«, sagte Laredo .
Wallis zuckte mit den Schultern. »Ich habe nachgefragt, aber keine wirkliche Erklärung bekommen. Nachdem Gillespie aus der Army ausgeschieden war, hatte er verschiedene Jobs angenommen, aber nie für sehr lange.«
»Was hat er in Savannah gemacht?«, wollte Laredo wissen.
»Das müssen wir noch überprüfen. Es sind drei Autostunden von hier. Ich werde morgen hinfahren.«
»Gibt es Hinweise, warum er gerade hier ermordet wurde?«, hakte Laredo nach.
»Bisher nicht. Morgen ist die Obduktion. Agentin Pine wollte auch dabei sein, wenn sie Gillespie aufschneiden.« Er schaute zu Blum. »Gilt das noch? Dass ich das FBI offiziell eingeschaltet habe, heißt nicht, dass ich auf Agentin Pines Mithilfe verzichten möchte.« Er warf Laredo einen kurzen Blick zu. »Wenn das für Sie in Ordnung ist.«
Laredo nickte nur, was Blum weder als begeisterte Zustimmung noch als heftige Ablehnung wertete.
»Ich glaube, Agentin Pine ist weiterhin bereit, mitzuarbeiten«, erklärte Blum.
»Gut, das wär’s dann für heute.« Wallis erhob sich. »Ich muss nach Hause. Meine Frau weiß kaum noch, wie ich aussehe.«
Er nickte den anderen zu und ging.
Blum beugte sich vor und sah Laredo auffordernd an. »Möchten Sie darüber sprechen, Agent Laredo?«
Er fummelte an der Papierhülle eines Trinkhalms und beäugte sie aus zusammengekniffenen Augen. »Ich weiß nicht, was Sie meinen, Mrs. Blum.«
Sie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. »Wie lange sind Sie schon beim FBI
»Sechzehn Jahre. Ich habe kurz nach dem College angefangen.«
»Nicht schlecht. Ich bin seit fast vier Jahrzehnten dabei.«
Seine Augen weiteten sich leicht. »In der Abteilung, die das Organisatorische und den Papierkram erledigt, nicht wahr? «
Sie seufzte. »Ich hatte gehofft, dass Sie ein bisschen besser Bescheid wüssten, wie die Dinge bei uns laufen.«
»Was soll das jetzt wieder heißen?«
»In meiner Zeit beim FBI habe ich wahrscheinlich an die vierhundert Agenten gecoacht.«
Laredos Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, bis Blums Blick ihm klarmachte, dass sie es todernst meinte.
»Es gibt ungefähr elftausend männliche Special Agents, aber nur zweitausendsiebenhundert weibliche. Das Verhältnis liegt also bei etwa vier zu eins. In der Abteilung für Papierkram, wie Sie es nennen, haben wir neuntausendfünfhundert Männer und über dreizehntausend Frauen.«
»Die genauen Zahlen wusste ich nicht«, sagte er. »Danke für die Info.«
»Das Verhältnis bei den Agenten hat sich über die Jahre kaum in Richtung eines Gleichgewichts verändert«, fuhr Blum fort.
»Es ist nun mal ein harter Job. Womit ich nicht sagen will, dass er für Frauen nicht geeignet wäre. Ihre Chefin beweist es ja. Aber wenn Sie Kinder und ein Familienleben haben wollen, ist es nicht einfach. Was das angeht, ist das FBI nicht sehr entgegenkommend.«
»Ja, in dieser Hinsicht müsste einiges verbessert werden, weil wir dann nämlich viel mehr qualifizierte Frauen an Bord hätten.«
»Ich weiß nicht, warum Sie mir das erzählen. Für so was bin ich nicht zuständig. Ich bin bloß ein einfacher Soldat, den man dorthin schickt, wo es brennt.«
»Ich arbeite jetzt schon eine ganze Weile mit Agentin Pine zusammen. Sie macht ihren Job hervorragend.«
»Hat jemand was anderes behauptet?«
»Ich habe mich ein bisschen über Sie erkundigt, Agent Laredo.«
Er richtete sich auf, und sein Gesicht verfinsterte sich. »Wie bitte? «
»Bevor ich hergekommen bin, habe ich eine Freundin beim FBI angerufen. Eine Dame aus der Abteilung Papierkram. Sie hat ein paar Erkundigungen für mich eingeholt und mich zurückgerufen. Und schon wusste ich mehr über Sie. Das ging übrigens sehr flott – immerhin reden wir hier von der Papierkram -Abteilung.«
Laredos hellgrüne Augen sprühten Funken. »Was soll das? Ich glaube nicht, dass Sie das Recht dazu haben.«
»Haben Sie sich noch nie im Bureau über jemanden erkundigt?«
Laredo wollte etwas erwidern, blieb dann aber stumm.
»Es wird Sie vielleicht freuen, dass das Ergebnis meiner Erkundigungen positiv war. Die Leute haben eine hohe Meinung von Ihnen. Es ist nichts Nachteiliges über Sie bekannt.«
»Das hätte ich Ihnen selbst sagen können, wenn Sie mich gefragt hätten.«
»Hätten Sie es mir denn gesagt?«
»Wahrscheinlich nicht. Ich hätte mir gesagt, dass es Sie nichts angeht. Meine Dienstmarke sollte Beweis genug für meine Eignung sein.«
»Ich informiere mich gern selbst und mache mir dann ein eigenes Bild.«
»Jetzt reden Sie, als wären Sie selbst Special Agent und nicht … na, Sie wissen schon.«
»Sie würden sich wundern, wie sehr man manchmal als Agentin denkt und handelt, auch wenn man hauptamtlich für Papierkram zuständig ist. Ich bin mir nicht sicher, ob das umgekehrt auch so ist.«
Die buschigen Brauen hoben sich. »Das heißt was genau?«
»Kennen Sie die vielen Schleichwege, über die man schneller an die nötigen Ressourcen herankommt, als die Bürokratie es normalerweise erlaubt?«
»Ähm … «
»Wissen Sie, wie man eine Telefonkonferenz für mehr als fünf Teilnehmer organisiert, von denen einige im Ausland sitzen?«
»Ich …«
»Oder wie hoch die Reisespesen für Feiertagsarbeit sind? Welche Support-Mitarbeiter im Hoover Building Ihnen am besten helfen können, wenn Sie in eine Datenbank für brisantes Material verschiedener Geheimhaltungsstufen hineinmüssen? Oder etwas so Grundlegendes wie das Problem, welche Abteilung für Anfragen zum Thema Kaffeesorten zuständig ist?«
»Ich schätze mal, wir haben spezielle Mitarbeiter, die genau dafür zuständig sind.«
»Richtig. Wir sind ein Team . Zusammen bewältigen wir einen verdammt kniffligen Job, so gut wir können.«
»Worauf wollen Sie eigentlich hinaus?«
»Meine ursprüngliche Frage: Möchten Sie mir erzählen, in welcher Weise Sie mit Agentin Pine zu tun hatten? Das habe ich zuvor gemeint, obwohl Sie das natürlich genau gewusst haben.«
»Ich glaube nicht, dass es da viel zu erzählen gibt.«
Blum lehnte sich enttäuscht zurück. »Habe ich schon erwähnt, dass ich nebenbei vielen Agenten beigebracht habe, woran man erkennt, wenn jemand die Wahrheit verschleiert?«
»Sie meinen, wenn jemand lügt? Ich kann Sie beruhigen – das lernen Agenten schon in der Ausbildung.«
»Ein Auffrischungskurs kann nie schaden.«
»Okay, dann zeigen Sie doch mal, was Sie können. Wie kommen Sie darauf, dass ich lüge?«
»Sie haben nach unten und zur Seite geschaut, und noch dazu abwehrend die Arme verschränkt, als Sie sagten, es gäbe nicht viel zu erzählen. Die klassische Ausweichstrategie. Wissen Sie, ich habe sechs Kinder großgezogen. In dem Moment haben Sie dreingeschaut wie mein Sohn mit neun Jahren, wenn er etwas angestellt hatte, es aber nicht zugeben wollte. Also, bleiben Sie bei Ihrer Behauptung, dass es darüber nichts zu sagen gibt?«
Sein Gesicht verdunkelte sich noch mehr. »Sie bewegen sich gefährlich nahe an einer roten Linie, Mrs. Blum. Ich möchte nicht, dass Sie irgendwas tun, das Ihre langjährige Laufbahn beim FBI gefährden könnte.«
Blum schaute ihn an. Nicht ängstlich, nicht zornig, eher betrübt. »Schade, dass Sie so reagieren. Meinen Kindern habe ich von klein auf beigebracht, dass Ehrlichkeit der beste Weg ist, Agent Laredo. Aber da sind wir uns anscheinend nicht einig.« Sie erhob sich, fügte hinzu: »Agentin Pine ist hartnäckig, klug, anpassungsfähig und physisch auf der Höhe.«
Er zuckte mit den Schultern. »Da sagen Sie mir nichts Neues.«
»Sie ist aber auch unnachgiebig. Sich selbst und anderen gegenüber. Sie hat null Toleranz für Leute, die ihre hohen Standards nicht erfüllen.«
Laredo blickte zu ihr auf, ein hartes, abweisendes Funkeln in den Augen. »Ich habe meine eigenen Standards. Und die sind verdammt anspruchsvoll, wenn Sie’s genau wissen wollen.«
»Dann sollten Sie und Agentin Pine keine Probleme miteinander haben. Davon gehe ich jetzt einfach aus – nach dem, was Sie mir gerade versichert haben. Besten Dank.« Sie drehte sich um und ging.
Laredos finsterer Blick folgte ihr bis zur Tür.