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»Von wem haben Sie Ihren Christophorus-Anhänger?«, wollte Blum wissen, als sie und Pine zurück zum Cottage gingen.
»Von meiner Mutter. Er war ihr letztes Geschenk an mich.«
»Sie meinen, bevor sie fortgegangen ist?«
»Ja. Da muss sie schon beschlossen haben, mich zu verlassen. Es war wohl ihr Abschiedsgeschenk. Als wollte sie sagen: ›Ich werde nicht mehr da sein, um dich zu beschützen, das soll jetzt dieses dumme Stück Metall übernehmen.‹«
»Wenn Sie es so empfinden, warum tragen Sie den Anhänger dann?«, wunderte sich Blum.
»Weil er so ziemlich das einzige Erinnerungsstück von ihr ist. Deshalb ist er mir trotz allem wichtig. Es ist eine Art … na ja, Hassliebe. Manchmal berühre ich die Medaille und fühle mich genauso verlassen wie damals. Ein andermal gibt sie mir Wärme und Sicherheit, als wäre ich wieder sechs Jahre alt. Als wäre Mom noch da und würde meine Hand halten.«
Blum nickte nachdenklich. »Mutter-Tochter-Beziehungen sind oft kompliziert. Vielleicht das Komplizierteste überhaupt. Bei mir war es jedenfalls so. Mit meinen Söhnen war es im Vergleich dazu das reinste Kinderspiel.«
Der Anhänger, den der tote Junge getragen hatte, war bereits auf Fingerabdrücke untersucht worden, doch ohne Erfolg. Für Pine stand fest, dass jemand gezielt alle Spuren von der Medaille entfernt hatte .
»Hoffentlich können uns die Kriminaltechniker sagen, auf welche Weise die Medaille beschädigt wurde.«
»Halten Sie das wirklich für wichtig? Vielleicht gehört der Anhänger dem Jungen selbst. Und wer weiß, wie alt die Beschädigung schon ist.«
»Die scharfe Kante ist nach innen gebogen, Carol. Das hätte Spuren auf der Haut hinterlassen. Es gibt aber keine. Außerdem hätte der Junge die Medaille nicht getragen, wenn sie ihm die Haut aufgekratzt hätte.«
»Stimmt auch wieder. Dann hat der Mörder sie ihm umgehängt?«
»Ich bin mir sicher. Es muss irgendetwas Persönliches sein. Die Medaille hat wahrscheinlich jemand getragen, der in einer besonderen Beziehung zum Mörder steht. Wenn wir bloß herausfinden könnten, wem sie gehört hat …«
»Lee?«
Sie blickten auf und sahen Agnes Ridley vor dem Cottage stehen.
»Ist es wirklich wahr?«, fragte die alte Dame. »Schon wieder ein Mord?«
Pine und Blum gingen zu ihr. »Leider ja«, antwortete Pine. »Diesmal ein kleiner Junge.«
»Was!«, rief Ridley entsetzt. »O Gott. Ein Kind? Was hat dieser Verrückte vor?«
»Wir wissen nicht, was er bezweckt«, erklärte Pine. »Deshalb können wir nicht einschätzen, auf wen er es abgesehen hat.«
»Weiß man schon, wer das Kind ist?«, wollte Ridley wissen.
»Noch nicht. Die Polizei wird eine Beschreibung und eine Zeichnung veröffentlichen. Die Frage ist, ob irgendwo in der Gegend ein Kind vermisst wird.«
»Mir ist nichts bekannt. Und wenn das Kind von hier wäre, hätten die Eltern doch sicher schon die Polizei verständigt. «
»Stimmt.«
»Kann ich irgendetwas tun?«, fragte Ridley.
»Halten Sie Augen und Ohren offen. Wenn Ihnen etwas Verdächtiges auffällt, verständigen Sie die Polizei.«
Sie betraten das Cottage, wo Lauren Graham sie bereits im Empfangsraum erwartete.
»Du lieber Himmel, was ist nur aus dieser Stadt geworden?«, jammerte sie, als sie die beiden Frauen hereinkommen sah.
»Warum ist die Museumsangestellte eigentlich hierhergekommen, nachdem sie den Jungen gefunden hatte?«, fragte Pine. »Ich habe ganz vergessen, sie das zu fragen.«
»Lily? Sie hat gewusst, dass Sie hier wohnen«, erklärte Graham. »Es wird ihr als Erstes eingefallen sein.«
»Was genau hat Lily gesagt?«, hakte Blum nach. »Wissen Sie das noch?«
»Dass sie im Museum einen toten Jungen gefunden hat, der in einer Uniform steckt. Sie wäre beinahe in Ohnmacht gefallen, sagte sie mir, und dass sie dann losgerannt sei, so schnell sie konnte – direkt hierher.«
»Wie lange kennen Sie Lily schon?«
»Fast mein ganzes Leben lang. Sie arbeitet schon eine halbe Ewigkeit im Museum. Ob sie je wieder hingehen kann? Wie soll man nach so etwas weitermachen, als wäre nichts gewesen?«
Pine blieb beim Thema. »Die Puppe, deren Uniform der Täter dem Jungen angezogen hat, wurde im Hinterzimmer gefunden«, sagte sie. »Von dort dürfte der Mörder ins Museum gekommen sein. Das Schloss wurde nicht geknackt, der Täter muss also einen Schlüssel gehabt haben. Können Sie sich das erklären?«
»Jemand muss einen Nachschlüssel angefertigt haben«, vermutete Graham. »Ich glaube nicht, dass Lily ihre Tasche jede Sekunde im Blick hat. Außerdem hat sie mal erwähnt, dass die Schlösser ziemlich veraltet sind. «
»Das Museum ist mit einer Alarmanlage gesichert. Wir wissen, dass sie eingeschaltet war, als Lily zur Arbeit kam, weil sie uns erzählt hat, sie habe die Anlage abgeschaltet. Was wiederum bedeutet, dass der Täter den Code gekannt haben muss. Ist es so leicht, an den heranzukommen?«
»Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass so etwas noch nie vorgekommen ist.«
»Jetzt ist es aber passiert«, erwiderte Pine. »Und wir müssen herausfinden, warum.«