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Roger Duncan wischte sich die Hände an einem schmierigen Lappen ab und bedeutete ihnen, ihm in ein kleines Zimmer bei der Werkstatt zu folgen, in der er gerade an einer mattgrauen Mercedes-Limousine arbeitete.
Er war groß und schlank und hatte muskulöse Oberarme.
Sie hatten ihm erklärt, weshalb sie hier waren. Duncan lehnte sich an die Wand, strich sich die dichten blonden Haare aus dem Gesicht, verschränkte die Arme vor der Brust und seufzte.
»Himmel noch mal, ist er wirklich tot? Der kleine Frankie? Wie zum Teufel ist so was möglich? Sie sind ganz sicher?«
»Ja, leider«, erwiderte Wallis. »Ihre Frau hat uns erzählt, dass der Junge manchmal bei Ihnen in der Werkstatt war.«
»Ja. Zweimal, glaube ich. Wir haben strenge Sicherheitsbestimmungen. Aber es war am Wochenende, und ich habe ihm nur ein paar Dinge gezeigt, die ich hier mache. Ich habe ihn in einem Auto sitzen lassen, das hat er natürlich cool gefunden. Ich habe ihm nicht gesagt, wie viel so ein Schlitten kostet. Er hätte sich wahrscheinlich nie ein solches Auto leisten können, genauso wenig wie ich.«
»Haben Sie ihn jemandem vorgestellt, als Sie mit ihm hier waren?«, hakte Laredo nach.
»Ja, ein paar anderen Mechanikern. Und Don, der im Büro arbeitet. Er hat sich eine Weile mit Frankie unterhalten, während ich schnell was erledigt habe. Und einer Verkäuferin. Warum fragen Sie?«
»Wir müssen herausfinden, wie es dazu gekommen ist, dass Frankie tot in Andersonville, Georgia, gefunden wurde. Deshalb müssen wir alle Kontakte überprüfen, die er hatte, auch wenn er mit jemandem nur ein paar Worte gewechselt hat.«
»Also, ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendjemand hier ihm was getan haben könnte. Das sind alles Leute, die schon lange hier arbeiten, so wie ich.«
»Wann haben Sie Frankie zum letzten Mal gesehen?«, fragte Pine.
Duncan überlegte einen Moment. »An dem Tag war ich schon auf der Arbeit, als er zum Bus ging. Am Abend davor hatten wir noch zusammen gegessen. Dann ging er ins Bett, und am nächsten Tag fuhr er zur Schule.« Wie zur Rechtfertigung fügte er hinzu: »Genie ist eine großartige Mom. Sie beschützt die Kinder wie eine Adlermutter. Aber sie müssen halt zur Schule gehen.«
»Ihre Frau hat sich Sorgen gemacht, als Frankie nach der Schule nicht nach Hause gekommen ist?«
»Natürlich. Genie war völlig aus dem Häuschen. Die Bushaltestelle ist ja nur ein paar Blocks entfernt. Da steigen viele Kinder aus, darum haben wir uns nie Sorgen gemacht. Sie hat mich auf der Arbeit angerufen, dann bei der Behörde, durch die wir Frankie bekommen haben, aber dort hat man ihr nicht wirklich weitergeholfen. Danach hat sie alle möglichen Leute gefragt. Aber keiner hat Frankie nach der Schule gesehen, also hat Genie die Cops angerufen. Ich bin früher von der Arbeit weg und habe mit ein paar anderen Vätern die Gegend abgesucht.«
»Das hat Ihre Frau uns schon erzählt«, sagte Wallis.
»Wie zum Teufel ist Frankie nach Andersonville gekommen? Wie weit ist das überhaupt von hier? «
»Ungefähr anderthalb Autostunden«, erklärte Wallis.
»Das ist total verrückt. Halten Sie es für möglich, dass irgendein Perverser ihn entführt hat? Das Schwein hat ihn doch nicht etwa …?«
»Er wurde nicht missbraucht, falls Sie das meinen«, erklärte Wallis.
»Man hört so viel heutzutage«, sagte Duncan angewidert. »Wer so was tut, ist das noch ein Mensch?«
»Haben Sie irgendeine Vermutung, was sich zugetragen haben könnte?«, warf Pine ein. »Haben Sie vielleicht mal ein fremdes Auto bei Ihnen in der Straße gesehen? Oder einen Fremden, der sich in der Gegend herumgetrieben hat?«
»Nein, nichts dergleichen. Unser Viertel ist eine enge Gemeinschaft. Wir helfen uns gegenseitig. Wenn irgend so was gewesen wäre, hätte es jemand erwähnt.« Er stockte, senkte den Blick. »Ich … ich nehme an, wir müssen uns um die … Beerdigung kümmern.«
»Ja. Wir sagen Ihnen Bescheid, sobald wir den Leichnam freigeben können, Mr. Duncan«, erwiderte Wallis. »Es wird nicht so lange dauern.«
»Okay. Verdammt, wer kann einem Kind so was antun?«
»Sie wären überrascht«, sagte Pine und musterte ihn aufmerksam. »Haben Sie eigentlich nur mit Mercedes zu tun oder auch mit anderen Autos?«
»Zu neunzig Prozent Mercedes, würde ich sagen.«
»Und die restlichen zehn Prozent?«
»Das sind hauptsächlich ausgefallenere Wagen.«
»Welche genau?«
»Aston Martin. Rolls-Royce. Einmal hatte ich sogar einen Lamborghini Veneno hier. Der Hammer, kann ich Ihnen sagen.« Er grinste verlegen. »Die Kiste kostet mehr, als ich in meinem ganzen Leben verdienen werde.«
»War auch mal ein Pagani dabei?«, hakte Pine nach .
»Ein Pagani«, schnaubte er. »Also, einen Pagani werden Sie hier in der Gegend nicht finden.«
»Sie kennen die Marke?«, schaltete Laredo sich ein.
»Ja, aber nur von Fotos in Zeitschriften. Verdammt schönes Auto. So einen hätte ich gerne mal hier in der Werkstatt.«
»Wie heißt der Kollege im Büro, den Sie erwähnt haben?«
»Don. Don Bigelow. Der arbeitet schon ewig hier.«
»Danke.«
Pine ging voraus zum Büro, wo sie auf Bigelow trafen, einen korpulenten Mann Anfang sechzig, der Unterlagen auf seinem Schreibtisch durchsah und zugleich auf seiner Computertastatur tippte.
»Was kann ich für Sie tun?«, fragte er. Seine Brille hatte er auf die Stirn hochgeschoben. »Wollen Sie ein Auto kaufen oder geht es um die Finanzierung? Normalerweise kriege ich zuerst die Unterlagen herein.«
Pine zeigte ihm ihre Dienstmarke, Laredo und Wallis ebenso.
»Wir wollen nichts kaufen, wir brauchen ein paar Informationen«, erklärte sie.
Bigelow beäugte sie nervös. »FBI ? Bitte, sagen Sie nicht, jemand hier hätte was unterschlagen oder so. Hören Sie, Sie können meine Unterlagen überprüfen. Ich bin blitzsauber, glauben Sie mir.«
»Darum geht es nicht. Wir haben erfahren, dass Roger Duncan eines seiner Pflegekinder mal hierher mitgenommen hat.«
Bigelow blickte sie einen Moment lang verständnislos an. »Oh, Sie meinen den kleinen mexikanischen Jungen?«
»Ja.«
»Ja, der war mal hier. Netter Bursche. Er mag Autos. Verdammt, wer hätte nicht gern einen Mercedes vor dem Haus stehen?« Er stockte und sah argwöhnisch von einem zum andern. »Warum fragen Sie nach dem Jungen? Ihm ist doch nichts passiert, oder? «
»Haben Sie es nicht gehört?«, fragte Pine.
»Was?«
»Ihm ist etwas passiert«, warf Wallis ein.
»Was?«
»Jemand hat ihn ermordet.«
Bigelow erhob sich sichtlich erschüttert hinter seinem Schreibtisch. »Großer Gott. Diesen netten kleinen Burschen? Wer zum Teufel hat das getan?«
»Das wollen wir herausfinden«, sagte Pine. »Haben Sie mit ihm gesprochen, als er hier war?«
»Ja, Roger hat ihn kurz ins Büro gebracht. Ich habe sechs Enkelkinder, auf die wir oft aufpassen. Der Kleine war sehr aufgeweckt, hat auch gut Englisch gesprochen. Er hat mit Roger herumgealbert – man hat gesehen, dass die zwei sich gut verstehen.«
»War er lange hier?«
»Bei mir war er vielleicht zehn Minuten. Roger musste kurz was erledigen. Ich habe dem Jungen erklärt, was ich hier mache, es hat ihn aber nicht besonders interessiert.« Er grinste säuerlich. »Das ist wohl zu langweilig für einen kleinen Jungen. Er wollte lieber in einem Auto sitzen und so tun, als würde er fahren, als sich von mir anzuhören, wie man diese Schlitten verkauft. Irgendwie verständlich. Ich finde die Autos selbst auch interessanter als den Papierkram. Ich habe ihm ein kleines Modell eines Mercedes-Rennwagens geschenkt – die kriegen wir manchmal zu Werbezwecken. Zufällig hatte ich gerade einen in der Schublade. Der Junge hat gestrahlt, als hätte ich ihm eine Million Dollar geschenkt.«
»Roger sagt, dass Sie hier auch mit anderen Fabrikaten zu tun haben, nicht nur mit Mercedes?«, sagte Pine.
»Das stimmt, meistens für Mercedes-Kunden, die noch andere Autos haben.«
»Auch exotische Modelle? «
»Ja. Es ist nicht so leicht, qualifizierte Mechaniker zu finden, die sich damit auskennen. Da müssen Sie normalerweise nach Atlanta fahren. Wir bieten das hier an, so können sich die Leute den Weg sparen. Unsere Mechaniker sind erstklassig. Die kennen sich mit vielen verschiedenen Marken und Modellen aus.«
»Roger hat erwähnt, dass er mal an einem Lamborghini Veneno gearbeitet hat«, warf Laredo ein.
»Ja, stimmt. Der gehört Mr. Driscoll. Ich glaube, er ist der Einzige in der Gegend, der so einen hat. Driscoll ist mit Immobilien reich geworden. Der macht sogar Geschäfte mit Fort Benning.«
»Gibt es vielleicht jemanden in der näheren Umgebung, der einen Pagani besitzt?«, hakte Laredo nach.
Bigelow schüttelte den Kopf. »Nein, einen Pagani hatten wir noch nie hier. Ich habe überhaupt noch nie einen in echt gesehen.«
»Kennen Sie vielleicht einen Händler in der Gegend, der die verkauft?«, fragte Pine.
»Es gibt einen in Atlanta, der Ferrari und Maserati anbietet. Vielleicht auch Pagani, wenn er auf Italiener spezialisiert ist.«
»Haben Sie schon mal ein Auto an einen Jack Lineberry verkauft? Oder hat er mal einen Wagen in die Werkstatt gebracht?«
Wallis warf Pine einen Blick zu, schwieg jedoch.
Auch Laredo sah sie unverwandt an.
»Lineberry? Der Name sagt mir nichts. Aber ich kann ja mal nachsehen. Jeden Kunden kann ich mir nicht merken.«
Er setzte sich an seinen Schreibtisch und tippte etwas in den Computer ein. »Nee. Bei uns hat nie jemand unter diesem Namen ein Auto gekauft.«
»Vielleicht eins zur Reparatur gebracht?«
Wieder tippte Bigelow auf ein paar Tasten, dann schüttelte er den Kopf. »Nein, nichts. «
»Okay, danke.«
»Was glauben Sie, wer den Jungen umgebracht hat?«, fragte Bigelow.
»Das müssen wir herausfinden.«
»Hoffentlich erwischen Sie den Bastard.«
»Das hoffen wir auch«, gab Pine zurück.
Wallis’ Handy klingelte. Er ging dran und zog sich in einen Winkel des Büros zurück. Als er das Gespräch beendet hatte, kam er zu ihnen zurück.
»Wir haben eine Spur.«
»Was für eine?«, fragte Pine gespannt.
»Ein kleines Mädchen hat beobachtet, wie ein Mann mit Frankie gesprochen hat, als der Junge zur Bushaltestelle ging. An dem Tag, als er verschwunden ist. Das Mädchen will gesehen haben, wie der Mann dem Jungen einen Umschlag und Geld gab.«