Am nächsten Morgen wartete Alice im Club darauf, dass Charlie ihre allererste Privatstunde beendete. (Wie schnell sich die Dinge änderten! Es war erst ein paar Wochen her, dass Charlie den Club zum ersten Mal betreten hatte – und das nur gezwungenermaßen. Auf dem Parkplatz vor dem Club hatte sie sogar vor Richards Augen ihren Tanga schnalzen lassen und ihr Tattoo präsentiert. Jetzt war sie freiwillig hier und es ging ihr nur noch um Tennisspielen, Tennisklamotten und Tennistrainer.)
Alice hingegen war hier, weil sie es keinen Tag länger aushielt, nur im Haus zu bleiben, sich in ihrem Zimmer zu verkriechen und kaum etwas zu trinken, um nicht zur Toilette gehen zu müssen. Nur weil sie nicht das Risiko eingehen wollte, Mom oder Richard über den Weg zu laufen. Sie hoffte, dass sie Charlie zu einem Smoothie oder einem Strandspaziergang überreden konnte, bevor ihr Nachmittagstraining begann, und dass sie nicht schon Pläne mit Jude oder Cybill hatte.
Charlies Stunde war jedoch erst in dreißig Minuten zu Ende und Alice hatte vergessen, ein Buch einzustecken. Sie versuchte, die Zeit irgendwie totzuschlagen, aber das war gar nicht so einfach. Sie hätte wie so oft das Siegerfoto von Camilla und Tommy anstarren können, das im Clubhaus an der Wand hing. Jedes Mal verfiel sie dabei in eine Art Trance, ein zwanghaftes Staunen, und träumte mit offenen Augen: Was hatte Camilla gedacht, als der Fotograf abgedrückt hatte? Und was war Tommy durch den Kopf gegangen? Wie sehr sie sich liebten und ob sie für den Rest ihres Lebens zusammenblieben? Oder war Camilla zu diesem Zeitpunkt schon gelangweilt von Tommy und seiner ergebenen Zuneigung? Hatte sie schon begonnen, sich nach einem neuen, schmutzigeren, aufregenderen Nervenkitzel umzusehen? Hatte sie schon den Appetit auf Gefahr und Selbstzerstörung entwickelt?
Doch Alice wollte heute nicht über Camillas krankhafte Angewohnheiten nachdenken. Camilla war nur ein Mädchen, rief sie sich in Erinnerung. Und noch dazu ein totes. Indem Alice sie verteufelte, machte sie Camilla nur noch mehr zu etwas Besonderem, romantisierte sie. Dabei hatte Alice bewiesen, dass sie es durchaus mit Camilla aufnehmen konnte. Camilla hatte es nicht geschafft, ihre Beziehung zu Charlie zu zerstören. Sie hatte zwar einen Keil zwischen sie getrieben, aber das hatte nicht ausgereicht. Und Tommy hatte ihr offenbart, dass er mit keinem anderen Mädchen jemals so glücklich gewesen war wie mit ihr. Hätten sie und Camilla sich kennengelernt, hätte Alice sie wahrscheinlich überraschend normal gefunden, vielleicht sogar langweilig. Camilla besaß nur die Macht, die Alice ihr gab. Und das war ab jetzt vorbei.
Trotzig wandte Alice dem Bild den Rücken zu.
Sie hatte sich gerade eine der Broschüren vom Tisch genommen und wollte etwas über die Unterschiede zwischen Pilates und Cardiolates lesen, als Lucy, eine der Tennistrainerinnen, rief: »Wie gut kennst du dich mit Videobearbeitungsprogrammen aus?« Sie saß hinter dem Tresen, aß einen Veggie-Wrap und tippte ab und zu auf der Computertastatur herum.
Alice sah sich um. Obwohl sonst niemand im Raum war, war sie nicht sicher, ob Lucy sie gemeint hatte. Offen gestanden machte Lucy sie ein wenig nervös. Sie war älter und hübscher und ging auf ein hervorragendes College. Auch wenn sie diesen Sommer einen Job im Club hatte, arbeitete sie nicht wirklich, sondern hing hier mehr oder weniger nur herum. Ihre Eltern waren Mitglieder und sie brauchte das Geld eigentlich nicht.
»Meinst du mich?«, fragte Alice schließlich.
»Du bist Alice, oder? Weißt du irgendwas über Videosoftware?«
»Fast nichts.«
»Das ist immer noch mehr als ich. Würdest du mal herkommen und einen Blick darauf werfen?«
Alice legte die Broschüre zurück auf den Stapel und ging zu Lucy. Auf dem Computerbildschirm lief ein Video, das der verwackelten Kameraführung und der schlechten Tonqualität nach zu urteilen von einem Amateur aufgenommen worden war und das eine Sommerparty unter freiem Himmel im Club zeigte. Clubmitglieder schlenderten elegant gekleidet und mit Champagnergläsern in der Hand über den Rasen, sie lachten und redeten, im Hintergrund war Streichmusik zu hören. Dann entdeckte Alice rote, weiße und blaue Wimpel, die Tennisplätze und Bäume schmückten, die Torte mit der amerikanischen Flagge auf dem Tisch und die Uncle-Sam-Hüte auf den Köpfen vieler Männer. Das war nicht nur irgendeine Sommerparty, sondern die Feier anlässlich des vierten Juli. Plötzlich blieben die Leute stehen, drehten sich um und hoben die Köpfe erwartungsvoll gen Himmel. Gleich musste das Feuerwerk beginnen.
»Die Unabhängigkeitstagsparty im Club«, erklärte Lucy unnötigerweise. »Clay hat mich gebeten, dieses chaotische Filmmaterial auf knappe zwei Minuten zu kürzen – und es geht stundenlang.« Clay Swaine war der Tennis-Chef des Clubs und Lucys Boss.
»Warum?«, fragte Alice.
»Er will das Video auf der diesjährigen Feier zeigen. Was für eine Zeitverschwendung. Ich meine, warum sollten sich die Leute auf der diesjährigen Party die letzte Party ansehen wollen? Vor allem, weil es ja größtenteils dieselben Leute sind. Das verstehe ich nicht. Und Clay gibt mir nicht mal genügend Zeit. Die Party ist in zwei Tagen. Was glaubt er denn, wer ich bin? Sofia Coppola?«
Alice seufzte mitfühlend und wollte gerade zum Sofa zurückkehren und sich wieder der Pilates-Broschüre widmen, als ihr etwas ins Auge fiel: Camilla, die Einzige in der Menge, die geradeaus schaute und nicht nach oben. Camilla, die ein weißes Kleid trug. Es war ein ganz bestimmtes Weiß, wie weiße Schokolade. Wie weißes Feuer. Wie Lügen.
Camilla, fünf Tage bevor sie starb.
Alice schnappte nach Luft, hatte aber dennoch das Gefühl zu ersticken, als wäre kein Sauerstoff mehr im Raum. Sie beugte sich so nah an den Computer, dass sie fast mit der Nase den Bildschirm berührte. Das war Camilla, die lebendige, atmende Camilla, die sich frei bewegen konnte und nicht in einem kleinen Bilderrahmen feststeckte. Alles, was Alice sich eingeredet hatte, dass Camilla gar nicht so besonders gewesen sei, dass ihr Ruf nur aufgebauscht, übertrieben und unverdient gewesen war, verflüchtigte sich.
Sie hatten Recht, dachte Alice. Camilla war gefährlich. Eine kühle Blondine, mit heißen Trieben und dunklen Geheimnissen. Jetzt glaubte sie die vielen Geschichten, die sie über ihre Halbschwester gehört hatte.
Lucy warf ihr einen fragenden Blick zu, doch bevor Alice ein schlauer Kommentar eingefallen war, kam eine Frau herein. Sie trug eine dieser kleinen Sonnenblenden, die im Club-Shop verkauft wurden, und so viel Schmuck, dass es klimperte, als sie den Arm ausstreckte und die Tür hinter sich schloss.
»Lucy«, sagte die Frau, »da stimmt etwas nicht mit dem Netz auf Platz drei.«
Lucy legte den Wrap hin. »Was soll denn nicht stimmen?«
»Na ja, es war ein wenig zu hoch, also haben wir versucht, die Höhe anzupassen, und dabei ist das Band gerissen. Würdest du bitte nachsehen, ob du da etwas machen kannst? Wir haben den Platz nur für eine Stunde und wir wollten wenigstens einen Satz spielen.«
Lucy verdrehte genervt die Augen, was aber nur Alice sehen konnte. Dann wandte sie sich übertrieben freundlich wieder der Frau zu. »Aber natürlich, Mrs Tilly, ich komme gleich. Alice, könntest du für mich das Telefon hüten?«
Alice unterdrückte ein Gähnen und nickte müde. Doch sobald Lucy durch die Tür verschwunden war, ließ sie sich auf den Stuhl fallen und richtete den Blick wieder auf den Bildschirm. Der Kameramann schien genau in dem Moment auf Camilla aufmerksam geworden zu sein, als sie auch Alice aufgefallen war, denn auf einmal wurde Camilla herangezoomt und das Feuerwerk am Himmel völlig ausgeblendet. Alice hörte es im Hintergrund knallen und pfeifen und sah, wie sich die Farben der explodierenden Raketen in den Gesichtern der Clubmitglieder spiegelten. Camilla sagte etwas zu dem Jungen, der neben ihr stand – Tommy! Seine Haare waren länger, seine Wangen voller, aber es war ohne Zweifel Tommy – ihre Lippen bewegten sich und sie blickte erst flehend, dann verärgert und dann empört. Als würde sie ihn bitten, sie in Ruhe zu lassen, aber er ließ sie nicht gehen. Als wäre er ihr lästig, ein Klotz am Bein. Schließlich löste sie sich von ihm und stolzierte mit langbeinigen Schritten durch das Gras davon.
Tommy sah Camilla nach und sein Gesichtsausdruck ließ Alices Herz in die Hose rutschen. Sein Blick wirkte so gequält. Sie wusste sofort, dass alles, was Tommy ihr über seine Beziehung zu Camilla kurz vor ihrem Tod gesagt hatte, eine Lüge gewesen war: dass Camilla ihm egal gewesen wäre, dass er ihre Ausbrüche, ihre Eskapaden, wie mies sie ihn behandelte, satt gehabt hätte. In Wahrheit hatte er sie die ganze Zeit auf eine krankhafte Art geliebt. Jeder Blinde konnte das sehen. Dabei war das Video sogar entstanden, nachdem er ihre Beziehung beendet hatte. Drei Tage danach, wenn Alice richtig gerechnet hatte. Nun, er mochte zwar mit Camilla Schluss gemacht haben, aber ihre Macht über ihn war ungebrochen. Am liebsten wäre er ihr nachgelaufen und vor ihr auf die Knie gefallen, hätte seine Arme um ihre Beine geschlungen und sie angefleht, ihn zurückzunehmen. Alice war sich sicher, dass es genau das war, was er dachte und fühlte. Sie konnte es in seinen Augen sehen. Sie spürte es in ihrem Inneren.
Alice riss den Blick von Tommy los und folgte Camilla, die den Rasen überquerte. Sie lief an Jude und Cybill vorbei und strich sanft mit den Fingern über Judes nackten Unterarm, ohne ihn anzusehen. Er wandte sich ruckartig zu ihr um, genau wie Cybill. Doch Camilla ging weiter, bis sie schließlich neben ihrem Vater und einem weiteren Mann stehen blieb. Richard war sichtlich erfreut, seine Tochter zu sehen, seine finstere, verschlossene Miene öffnete sich und hellte sich auf. Sie umarmte ihn und küsste ihn mehrmals. Dann lachte sie über etwas, was er sagte, Alice aber nicht verstehen konnte. Sie sah nur Camillas Reaktion, ihr Lächeln und ihre blendend weißen Zähne.
Sie schien glücklich zu sein, aber auf eine Art, die Alice merkwürdig vorkam. Etwas an dieser Freude und an ihrer Mimik wirkte übertrieben, zu aufgesetzt, als würde sie jemandem etwas vorspielen wollen. Richard? War das die Rolle, von der Tommy erzählt hatte? War das die Camilla, die ihren perfektionistischen Vater zufriedenstellen wollte, die tagsüber so tat, als wäre sie ein artiges Mädchen, eine Vorzeigetochter, nur damit sie nachts machen konnte, was sie wollte, ohne dass er sie kontrollierte? Oder spielte sie die Rolle für Tommy? Sie wusste, dass er jeden ihrer Schritte verfolgte, dass er nicht anders konnte. Wollte sie ihn quälen, indem sie ihm zeigte, wie gut es ihr ohne ihn ging, wie sie alle Blicke auf sich zog, Fantasien weckte? Wollte sie ihm vor Augen führen, wie begehrenswert sie war, wie viel Macht sie besaß?
Als könnte Alice die Kamera mit ihren Gedanken lenken, schwenkte sie plötzlich von Camilla zu Tommy. Seine Miene drückte genau das aus, was Alice befürchtet hatte: Verzweiflung, Angst und tiefe Eifersucht. Letzteres musste Jude gelten. Oder war er Camilla so sehr verfallen, dass er sogar ihren Vater um ihre Zuneigung beneidete? Als die Kamera wieder auf Camilla gerichtet wurde, lief sie gerade weiter. Der Mann neben Richard drehte sich ein wenig und für einen kurzen Moment sah man ihn im Profil. Alice erkannte ihn sofort – Dr. van Stratten.
Camilla ging jetzt in Richtung Clubhaus. Alice folgte jedem ihrer Schritte. Plötzlich blieb sie stehen und drehte sich um, sodass sie Alice direkt ansah. Ihre Hand lag auf der vorgestreckten Hüfte, ihr Blick war lang und intensiv, sie blinzelte nicht einmal – extrem cool, extrem sexy, halb anzüglich, halb drohend. Alices Herz setzte für einen Moment aus, dann öffneten sich Camillas weiche Lippen und sie lächelte Alice an. In diesem Augenblick wurde Alice bewusst, dass Camilla ja gar nicht sie ansah, sondern die Person hinter der Kamera. Alice hätte alles gegeben – eine Fingerspitze, den kleinen Zeh, den letzten Tag ihres Lebens –, um zu erfahren, wer die Person auf der anderen Seite der Kamera war.
Und dann fiel plötzlich etwas aus der Tasche oder vom Hemdkragen dieser Person. Eine Sonnenbrille, wie es schien. Die Kamera senkte sich und wackelte, filmte das Gras, während eine verschwommene Hand die Brille aufhob. Und da, nicht nur in einem, sondern in beiden verspiegelten Brillengläsern, starrte sie in das scharfkantige Gesicht von Nick Chillingworth.
Alice hörte eine Tür klappen und sah auf. Es war Lucy, die von den Tennisplätzen zurückkehrte. Sie schüttelte angewidert den Kopf.
»Konntest du das Netz reparieren?«, fragte Alice und lehnte sich auf dem Stuhl zurück, während sie sich krampfhaft bemühte, lässig zu klingen.
»Ja, aber diese Tussis werden es wahrscheinlich wieder kaputt machen. Sie sind davon überzeugt, dass es zu hoch hängt, obwohl ich extra das Bandmaß geholt habe. Die Höhe stimmt genau.«
»Vielleicht solltest du das Netz für sie einfach etwas tiefer einstellen.«
»Das würde auch nichts nutzen. Die bekommen den Ball nie auf die andere Seite. Das ist hoffnungslos. Und, konntest du etwas mit dem Programm anfangen?«
»Zu viel Hightech für mich.«
Lucy seufzte. Sie beugte sich über Alices Schulter und drückte gleichzeitig die Befehlstaste und Q. Mit Bedauern sah Alice, wie das Video vom Bildschirm verschwand. Sie zwang sich, gar nicht erst darüber nachzudenken, ob es möglich wäre, es per E-Mail an ihren Google-Account zu senden.
»Trotzdem danke«, sagte Lucy, nahm ihren Veggie-Wrap und biss hinein. »Wenigstens kann ich Clay jetzt sagen, dass ich es versucht habe.«
Alice lächelte und stand auf, damit Lucy sich hinsetzen konnte. Während sie zum Sofa ging, warf sie einen Blick auf die Uhr an der gegenüberliegenden Wand. Noch zehn Minuten, bis Charlies Stunde um war. Sie nahm die Pilates-Broschüre, als ihr Handy klingelte. In der Hoffnung, den Namen zu sehen, nach dem sie sich schon seit gestern sehnte, warf sie einen Blick auf das Display. Doch plötzlich graute ihr auch davor.
Aber es war nicht Tommy.
Es war Patrick.
Patrick, dem sie seit Wochen auswich. Patrick, dessen Sprachnachrichten sie kein einziges Mal abgehört hatte. Patrick, dessen E-Mails sie ungelesen gelöscht hatte.
Bevor es ein zweites Mal klingeln konnte, griff sie nach dem Handy, so hastig, dass es ihr fast heruntergefallen wäre.
»Hi«, stieß sie fast atemlos hervor.
»Alice?«
»Ja, wer sonst. Es ist mein Handy.«
Es folgte Schweigen.
»Patrick? Bist du noch dran?«
»Ja, bin ich. Mir hat es nur gerade die Sprache verschlagen. Du hast meine Anrufe so lange ignoriert, dass ich vergessen hatte, wie deine Stimme klingt.«
»Haha, sehr witzig«, sagte sie, musste aber trotzdem lachen.
»Du hast mich sozusagen kalt erwischt.«
»Wäre ja nicht das erste Mal.«
»Ich habe gar nichts vorbereitet, was ich zu dir persönlich sagen könnte. Ich war ganz darauf eingestellt, dir eine Nachricht auf der Mailbox zu hinterlassen.«
»Na, dann tu doch so, als sei ich die Mailbox. Komm, ich mache es dir einfacher. Hi, das ist der Anschluss von Alice. Ich kann euren Anruf im Moment nicht entgegennehmen, aber wenn ihr mir eine Nachricht hinterlasst, rufe ich zurück. Piep.«
Ein Moment verstrich. Dann noch einer.
»Nee, ich kann das nicht«, sagte Patrick schließlich. »Ich habe Lampenfieber.«
»Sag mir wenigstens, worum es ging.«
»Na ja, zuerst wollte ich wegen deiner Mailbox ganz gekränkt und machomäßig tun, weil die Ansage eine große Lüge ist. Ich habe unzählige Nachrichten hinterlassen und du hast kein einziges Mal zurückgerufen. Und dann wollte ich die Memme spielen und dich anflehen, so was wie bitte, bitte, bitte, ruf mich zurück, wann immer es dir passt, bitte, oh bitte.«
Sie lachte wieder.
»Also, wie geht es dir? Du bist offenbar ziemlich schwer beschäftigt.«
Sie seufzte. »Ja, aber ich kann dir gar nicht sagen, womit. Ich arbeite nicht. Und ich male nicht. Dieses neue Leben hier raubt mir nur eine ganze Menge Kraft, denke ich.«
»Ja, dein neues Leben.«
»Na ja, ich habe darüber nachgedacht, es vielleicht auch mal kennenzulernen.«
»Und wie stellst du dir das vor?«
»Indem ich die freundliche Einladung annehme, die du mir unterbreiten wirst.«
»Was ist los? Reicht dir die große böse Stadt nicht mehr?«
»Nicht ohne dich und Charlie. Ohne euch macht hier nichts Spaß. Nicht mal Partys sind lustig ohne euch.«
»Aber ich war doch noch nie eine Party-Queen.«
»Das stimmt«, sagte Patrick zärtlich. »Das warst du nie. Also, lädst du mich jetzt ein oder nicht? Und vergiss nicht, ich müsste nicht nach Serenity Point kommen, wenn du mich ab und zu in Cambridge besuchen würdest, wie du es versprochen hast.«
Alice zögerte. Die Wahrheit war, dass sie Patrick sehr gern wiedersehen würde. Allein beim Klang seiner Stimme vermisste sie ihn schon, vermisste ihr altes Leben. Aber sie wusste, dass diese Sehnsucht von der Tatsache verstärkt wurde, dass sie mit Tommy gerade eine schwere Zeit durchmachte. Und das verunsicherte sie. Abgesehen davon könnte Patrick ihre Zustimmung als Zeichen deuten, dass sie immer noch an ihm interessiert war und ihre Beziehung an der Stelle wiederaufnehmen wollte, wo sie aufgehört hatte. Aber das wollte sie nicht. Und nicht nur wegen Tommy. Es gab einen Grund, warum sie und Patrick mehr als zwei Jahre ein Paar gewesen waren – na ja, eigentlich hatten sie eher eine On-Off-Beziehung geführt – und sie trotzdem noch Jungfrau war. Es fehlte etwas zwischen ihnen. Zumindest für sie.
»Natürlich erwarte ich nicht, dass wir uns ein Zimmer teilen, oder so«, fuhr Patrick fort. »Ist schon klar, dass du im Moment keinen Freund haben willst. Zumindest nicht mich. Es ist nur so, dass ich Mitte August ein paar Tage frei habe.«
Patricks Vater und Onkel besaßen eine kleine Baufirma in Sommerville. Seit Patrick zwölf war, hatte er die Sommerferien damit verbracht, Zement zu mischen, Trockenbauwände aufzustellen und Baugerüste zu errichten.
»Ich brauche einfach etwas, worauf ich mich freuen kann, verstehst du?«
Der wehmütige Klang seiner Stimme machte Alice traurig. Er schien begriffen zu haben, dass sie nicht an einer Beziehung interessiert war und Mitte August war noch weit weg. Sollte sein Besuch zu einem Problem zwischen Tommy und ihr werden, hätte sie genügend Zeit, sich eine Ausrede zu überlegen.
»Okay, du kannst kommen«, sagte sie.
»Wirklich?«
»Ja, klar. Charlie wird ausflippen, wenn ich ihr das erzähle.«
»Oh, wow, Alice, das ist toll. Es wird wie in alten Zeiten.«
»Wir sind zu jung, um alte Zeiten zu haben.«
»Na gut, dann wie vor Kurzem.«
Sie telefonierten, bis Charlie vom Tennisplatz kam. Zum Abschied sagte Patrick, wie sehr er sich freue, sie bald wiederzusehen. Sie versicherte ihm, dass sie sich auch freute.
Und sie meinte es auch so.