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Charlie beschloss, das Tennistraining heute Nachmittag sausen zu lassen. Nachdem sie und Alice mit ihren Smoothies und Sandwiches fertig waren, überredete sie Richard zu einer Fahrt in die Stadt. Sie wollte zwei Dinge erledigen.

Zuerst hatte sie vor, zum Hautarzt zu gehen, um sich über die Möglichkeit einer Lasertattooentfernung zu informieren. Was hatte sie sich nur dabei gedacht, als sie sich von diesem Kerl in dem heruntergekommenen Laden in Charleston einen Engelsflügel auf die Hüfte tätowieren ließ? Das Tattoo war weder cool noch ausgefallen, noch ironisch. Es war billig. Ein Arschgeweih. Damit würde sie nie richtig nach Serenity Point passen. Solange es auf ihrer Haut prangte, würde sie ihre unrühmliche Vergangenheit nie verleugnen können: die geschmacklosen Partys, die kitschigen Klamotten und die Losertypen, mit denen sie ausgegangen war. (Weder Alice noch Maggie hatten sich so sehr in dieses Leben gestürzt wie sie. Sie hatten es immer geschafft, Abstand zu halten.) Außerdem hatte Charlie es satt, einen hellen Streifen in Form eines Pflasters auf ihrer sonnengebräunten Haut zu haben.

Wenn sie beim Hautarzt alle Infos bekommen hatte, wollte sie etwas für Stan suchen, ein kleines Entschuldigungsgeschenk, vielleicht ein Buch. Sie war zwar nicht gerade eine Vielleserin und verschenkte nur selten Bücher, aber außer, dass er gern las, wusste sie nicht viel über ihn. Außerdem hatte ihre Freundschaft auch mit einem Buch begonnen: Stan hatte gesehen, wie sie in Tess von den d’Urbervilles, der Sommerlektüre für die Wolcott, gelesen hatte, und sie darauf angesprochen. Obwohl ihre Meinungen zu diesem Buch weit auseinandergingen – sie hatte sich beklagt, dass sie überhaupt irgendetwas lesen musste, er hatte sie bemitleidet, dass sie genau dieses Buch von Thomas Hardy lesen musste und nicht einen seiner anderen besseren Titel –, trotzdem hatte sie sich geschmeichelt gefühlt, dass er sich überhaupt mit ihr darüber unterhielt. Sie war daran gewöhnt, dass Alice als Superhirn und Bücherwurm der Familie galt. Deshalb war es eine Überraschung für sie, eine erfreuliche Überraschung, einen Jungen zu treffen, der mit ihr über Literatur diskutierte. Und sie wollte, dass das so blieb.

Dr. Larchmonts Sprechstundenhilfe bot ihr an, sie für ein kurzes Beratungsgespräch mit dem Arzt um halb drei dazwischenzuschieben. Da ihr bis dahin noch eine Dreiviertelstunde Zeit blieb, beschloss Charlie, in einem Buchladen vorbeizuschauen. Als würde sie etwas Verbotenes tun, betrat sie das Geschäft mit gesenktem Kopf, das Gesicht hinter einer dunklen Sonnenbrille versteckt. Eine ältere Frau, die trotz der Hitze eine Strickjacke trug, kam auf sie zu.

»Kann ich Ihnen behilflich sein?«, fragte die Frau in einem Tonfall, als wollte sie noch hinzufügen: »Ich glaube, Sie sind hier falsch.« Zumindest kam es Charlie so vor.

Ohne die Frau anzusehen, schüttelte Charlie den Kopf und lief schnell in den hinteren Bereich des Ladens, als wüsste sie genau, was sie tat. Dabei fühlte sie sich völlig fehl am Platz, während sie durch die Regalreihen lief. Sie fragte sich, wie lange sie wohl bleiben müsste, um zu beweisen, dass sie nicht irrtümlicherweise hereingekommen war. Da fiel ihr ein hellblauer Buchrücken ins Auge. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und zog den schmalen Band aus dem Regal. Der große Gatsby. Sie hatten das Buch im letzten Schuljahr im Englischunterricht behandelt und es hatte ihr gefallen. Sie hatte es sogar zu Ende gelesen und den Aufsatz dazu selbst verfasst, anstatt einen alten von Alice abzuschreiben, wie sie es sonst immer tat. (Thema: Welche Bedeutung hat Nick Carraways Beschreibung von Daisy Buchanan als »hoch oben in ihrem weißen Palast lebende Königstochter«?)

Wenn sie Gatsby gelesen hatte, musste Stan es auch schon gelesen haben. Aber egal. Zumindest würde er sie nicht für dumm halten, wenn sie es ihm schenkte.

Und es passte irgendwie zu seiner Situation: In Der große Gatsby ging es um einen Jungen aus einfachen Verhältnissen, der die Karriereleiter bis in schwindelerregende Höhen hinaufkletterte, vom Tellerwäscher zum Millionär. Na gut, er starb am Ende. Aber vorher bekam er noch das Mädchen. Jedenfalls für eine kleine Weile.

Charlie ging zur Kasse und reichte der Verkäuferin das Buch. Diesmal sah sie ihr direkt in die Augen.

»Oh, Fitzgerald«, sagte die Frau und betrachtete das Cover. »Einer meiner Lieblingsautoren.«

Erst jetzt bemerkte Charlie, dass die Frau ein freundliches Gesicht hatte und das anfängliche Hilfeangebot vermutlich ernst gemeint war.

»Meiner auch«, sagte Charlie besonders nett, um ihre Unhöflichkeit von vorhin etwas wettzumachen, und nahm die Sonnenbrille ab.

»Ist das Buch für Sie oder soll es ein Geschenk sein?«

»Ein Geschenk.« Charlie machte eine kurze Pause. »Sie haben nicht zufällig noch ein Exemplar davon? Ich würde es gern auch für mich kaufen.«

»Ich glaube, ich habe hinten noch eins. Soll ich es für Sie holen?«

»Das wäre großartig«, sagte Charlie, beugte sich vor und nahm sich ein Karamellbonbon aus einer silbernen Schale neben dem Lesezeichenständer.

Als Charlie den Laden mit dem Bonbon im Mund verließ, fiel ihr ein, dass sie gar keine Ahnung hatte, wohin sie das Buch schicken sollte. Sie wusste, dass Stan in New Haven wohnte, aber nicht genau wo. Sie kannte nicht mal seinen Nachnamen. Wenigstens wusste sie, wo er arbeitete. Aber wenn er ein Exemplar von Der große Gatsby im Red Sky erhielt, wäre das vielleicht ein Kündigungsgrund. Oder es würde ihm eine Tracht Prügel einbringen. Wobei – Stan schien gut auf sich aufpassen zu können.

Charlie zog ihr iPhone aus der Tasche, um die Adresse der Bar herauszusuchen. Sie war nur noch einen Block von der Post entfernt, als sie am Crown Hobby Shop vorbeikam. Sie warf einen Blick ins Schaufenster, nicht aus Interesse, sondern um den Sitz ihrer neuen Frisur zu überprüfen (halb hochgesteckt, hinten antoupiert, vorn ein paar lose Strähnen.) Sie trat einen Schritt näher und beugte sich vor. Plötzlich sah sie innerhalb ihres Spiegelbildes Tommy van Stratten mit dem Verkäufer reden. Aufgeregt klopfte sie an die Scheibe und winkte.

Tommy drehte sich um. Als er sie vor dem Schaufenster stehen sah, winkte er zurück, ließ die Hand aber sofort wieder sinken. Abrupt wandte er ihr den Rücken zu und setzte sein Gespräch mit dem Verkäufer fort. Gott, ging es noch unverschämter? Konnte er sie nicht mehr leiden oder kaufte er gerade irgendetwas Peinliches, das sie nicht sehen sollte – eine Modelleisenbahn vielleicht oder eins dieser Schiffe, die man in eine Flasche steckte? Charlie wusste nicht, was Alice an ihm fand. Tommy war zwar gut aussehend, klug und sportlich, aber ansonsten hielt Charlie ihn offen gestanden für einen ziemlich schrägen Vogel. Wahrscheinlich hatte der tragische Unfall seiner Freundin, die ihren Wagen in der Bucht versenkt hatte, ihn nachhaltig traumatisiert.

Vielleicht war es zwischen Alice und ihrem Schwarm sowieso schon wieder aus, überlegte Charlie. Ihre Schwester hatte ihn schon eine ganze Weile nicht mehr erwähnt und als er ihnen vor Kurzem begegnet war, hatte sie ihn kaum beachtet, so getan, als wäre er ihr egal. Dabei würde es Charlie freuen, wenn Alice einen Freund hätte. Sie war zu oft allein, eigentlich immer. Charlie machte sich Sorgen um ihre Schwester. Alice war schon immer gern allein gewesen, aber in Cambridge hatte sie wenigstens Patrick für die wenigen Momente gehabt, in denen sie sich doch nach menschlichem Kontakt sehnte. Tricky – Charlies Spitzname für Patrick – tat Alice gut, er holte sie aus ihren Grübeleien. Zu schade, dass er so weit weg war.

Charlie sah auf das Display ihres iPhones. Viertel nach zwei. Sie wollte nicht zu spät zu Dr. Larchmont kommen und ihren Termin einer der Serenity-Point-Matronen überlassen, die eine neue Spritze Verjüngungsserum brauchte. (Woraus wurde Botox eigentlich hergestellt? Aus dem Blut unschuldiger Jungfrauen?) Sie beschloss, zuerst seine Praxis aufzusuchen. Danach konnte sie immer noch an der Post vorbeigehen und dann nach Hause laufen. Bis zu Richards Villa zurück war es ein weiter Weg, der mehr als eine halbe Stunde dauern würde. Wenn Tommy etwas netter gewesen wäre, hätte sie ihn nach einer Mitfahrgelegenheit gefragt. Warum war er nur so ein komischer Typ? Wenigstens konnte sie sich für heute das Fitness-Studio sparen.