18

Alice rannte los und sprang in Phils Arme. Sie vergrub das Gesicht an seiner Schulter und atmete seinen vertrauten Geruch ein: Seife und Baumwolle und den Rauch aus den Bars und Clubs, in denen er spielte, der in seine Kleidung drang und sich nicht herauswaschen ließ, egal wie oft Maggie sie in die Waschmaschine gesteckt hatte.

»Hi, Schatz«, sagte er in seiner lakonischen Art. Als wäre es nur ein paar Tage und nicht Monate her, seit sie sich das letzte Mal gesehen hatten. Als wäre er gerade vom Einkaufen zurück und nicht von einem anderen Kontinent. Er strich ihr das Haar aus der Stirn, seine schwieligen Hände ziepten in den losen Strähnen.

»Du bist hier«, stellte sie unnötigerweise fest. »In Amerika, meine ich.«

Er nickte.

»Ich war auf einer Party. Wir beide waren dort.« Alice drehte sich zu Charlie um, die sich im Hintergrund hielt, die Arme vor der Brust verschränkt, der Blick auf die Holzdielen der Veranda gerichtet.

»Wie geht es dir, Charlie?«, fragte er sanft.

Charlie hob den Blick. »Gut«, sagte sie kühl und mit gleichgültiger Miene. »Bin nur ein bisschen müde.«

»Ja, das kann ich verstehen. Es ist ja schon spät.«

»Eben. Ich geh dann mal ins Bett.«

»Charlie …«, hob Alice an.

Charlie wirbelte herum. »Nein«, sagte sie, mittlerweile nicht mehr ganz so gleichgültig, ihre Stimme war belegt vor Wut. »Er kann einfach kommen und gehen, wie er will, also kann ich das auch.« Ohne auf eine Erwiderung zu warten, schob sie sich an Alice vorbei ins Haus und schlug die Tür hinter sich zu.

Phil sah Alice an. Er lachte leise und traurig. »Na, das fängt ja gut an.«

»Sie ist nur …«, Alice suchte nach einem passenden Ausdruck, »schwierig. Wenn sie sauer ist, sagt sie Dinge, die sie eigentlich nicht so meint.«

»Ich weiß.

»Ich gehe sie holen.«

Phil rieb sich die müden Augen mit dem Handrücken und Alice fragte sich, wann er das letzte Mal geschlafen hatte. Er hatte sein Gepäck bei sich, eingefallene Wangen und sah abgespannt aus, wie immer, wenn er zu lange auf Tour gewesen war.

»Dafür wäre ich dir sehr dankbar«, sagte er. »Ich würde sie gern in Ruhe lassen, bis sie von selbst kommt, aber diesen Luxus kann ich mir heute Nacht nicht leisten.«

»Warum nicht?«

»Ich kann nur ein paar Stunden bleiben. Um sechs muss ich den Bus nach New York nehmen und fliege dann von dort nach Prag. Eigentlich hätte ich direkt von Tokio dorthin fliegen sollen, aber ich wollte euch beide vorher sehen, deshalb …« Er brach ab.

Alice beendete den Satz für ihn. »Deshalb hast du einen Umweg gemacht. Von Japans Hauptstadt zur Hauptstadt der Tschechischen Republik mit Zwischenstopp an der Küste Connecticuts.«

Er nickte.

»Wurdest du wieder von diesem klavierlosen Quartett engagiert?«

»Ja, eine neue Tour. Diesmal durch Europa.«

»Gratuliere«, sagte sie, denn sie wusste, wie gern er Jazztrompete spielte und wie wenig Möglichkeiten es hierfür in seinem Beruf gab. Meistens spielte er für Rockbands, deren Musik er nicht ausstehen konnte.

»Danke, mein Schatz.«

Sie sah ihn an, in seine ruhigen blauen Augen – ein blasses Blau, die Farbe von ausgeblichenem Jeansstoff. Er wusste, dass sie nicht seine richtige Tochter war, aber er wusste nicht, dass sie es wusste. Er behandelte sie nicht anders als sonst, nannte sie immer noch Schatz, strich ihr Haar zurück. Sie war gerührt und wandte sich ab, damit er ihre Gefühle nicht sehen konnte. Dann sagte sie: »Warte hier. Ich hole sie zurück.«

Alice betrat das Haus. Während sie langsam in Richtung Charlies Zimmer ging, vorbei an den Porträts ihrer Flood-Verwandten aus vielen Generationen – Männer und Frauen mit Richards Gesichtszügen, Camillas Gesichtszügen, ihren Gesichtszügen – und die breite Treppe hinaufstieg, wusste sie, dass die Zeit gekommen war. Sie musste Charlie die Wahrheit sagen. Wenn sie auch nicht den Mut fand, es für sich selbst zu tun, so musste sie es wenigstens für Phil tun.

Sie klopfte an Charlies Tür.

»Geh weg«, kam es gedämpft aus dem Zimmer.

»Das kann ich nicht«, sagte Alice und trat ein.

Es dauerte länger, als Alice gedacht hatte, um alles zu erzählen. Sie kam nur stückweise voran, was hauptsächlich an Charlie lag, die immer wieder in Wutanfälle oder Tränen ausbrach und andauernd dazwischenredete, Fragen und Schluchzen und Vorwürfe auf Alice einprasseln ließ. Doch schließlich hatte Alice ihr alles erklärt.

Charlie umklammerte ihr Kissen. Ihre Augen waren geschwollen und rot umrandet. »Armer Dad, armer Dad«, sagte sie immer und immer wieder.

»Ja«, sagte Alice. Sie fühlte sich plötzlich so ausgelaugt wie noch nie zuvor in ihrem Leben. »Das ist hart für ihn, darin besteht kein Zweifel.«

»Er hat zugelassen, dass wir schlecht von ihm denken, nur damit wir nicht schlecht von Mom denken.«

»Ja, das hat er.«

»Dabei hat sie seine Loyalität überhaupt nicht verdient, nach der ganzen Scheiße, die sie abgezogen hat.«

»Ich weiß.«

Abrupt warf Charlie das Kissen weg und stand auf. »Ich gehe zu ihm.« An der Tür zögerte sie und drehte sich zu Alice um. »Kommst du mit?«

»Ihr zwei solltet ein bisschen Zeit für euch haben.«

»Warum?«

Weil du seine Tochter bist und ich nicht, dachte Alice, sagte es aber nicht laut. »Ich komme gleich nach.«

Charlie nickte und schloss die Tür hinter sich.

Alice ließ sich aufs Bett sinken. Nur ganz kurz die Augen schließen, dachte sie.

Das Nächste, was Alice wahrnahm, war Charlie, die an ihren Schultern rüttelte.

Erst als sie die Augen öffnete, ließ Charlie sie los. »Schön, du lebst. Einen Moment lang war ich mir da nicht so sicher.«

Desorientiert richtete Alice sich auf. »Wie spät ist es?«

»Fast fünf Uhr vierzig.«

Fünf Uhr vierzig. Alice hatte knapp drei Stunden geschlafen.

»Dad hat ein Taxi gerufen, das ihn zum Busbahnhof bringt. Es ist schon da und wartet an der Einfahrt auf ihn. Aber er wollte, dass ich dich hole, damit er dich noch einmal sehen kann, bevor er fährt.«

Alice sah Charlie ins Gesicht. Sie wirkte ruhig, aber ihre Augen waren trüb und leicht gerötet. Ihre Nasenspitze ebenfalls. »Ist es gut gelaufen? Ich meine, habt ihr geredet?«

»Ja, das haben wir. Es war gut, richtig gut. Ich bin froh, dass du es mir erzählt hast, Allie. Ich glaube nicht, dass er es getan hätte. Er hätte weiter zugelassen, dass ich ihm die Schuld gebe anstatt Mom, hätte sie weiter in Schutz genommen, obwohl sie es nicht verdient. Und er wäre mit dem Wissen nach Europa gegangen, dass ich ihn hasse …« Charlie kniff die Augen zu, als wollte sie die unangenehme Vorstellung verdrängen. »Beeil dich. Er muss in den nächsten paar Minuten los, wenn er seinen Bus nicht verpassen will.«

»Warte doch mal eine Sekunde. Hat …«

»Keine Zeit – wir können später reden. Los, wir müssen runter, bevor er ins Taxi steigt.«

Benommen ließ sich Alice von Charlie auf die Füße ziehen. Die beiden Mädchen stolperten aus dem Zimmer und die Treppe hinunter. Sie öffneten die Haustür.

Phil lehnte an einer der Säulen, der Seesack hing über seiner Schulter, den Instrumentenkoffer hatte er in der Hand. Ein gelber Toyota Prius parkte in der Einfahrt. Auf der Beifahrerseite stand Serenity Point Yellow Taxi & Co.

Alice blieb im Türrahmen stehen, bis Charlie ihr einen leichten Stups gab.

Phil und Alice, jetzt nur noch ein paar Schritte voneinander entfernt, musterten sich einen dieser endlosen Momente lang. Im frühen Morgenlicht wirkte alles blass und traurig, auch sein Gesicht. Alice stand da, umklammerte ihre Ellenbogen und tat ihr Bestes, alle Gefühlsregungen zu unterdrücken. Als sie ihn heute Nacht auf der Veranda gesehen hatte, hatte sie sich ihm in die Arme geworfen. Aber das waren nur die Freude und die Überraschung gewesen, ihn zu sehen. Mittlerweile war einige Zeit vergangen, ihr Kopf hatte sich eingeschaltet und sie fühlte sich plötzlich befangen in seiner Gegenwart. Jetzt war ihr bewusst, wie wenig sie verband, wie wenig Anrecht sie auf ihn hatte, wie erschöpft er von dem Gespräch mit Charlie sein musste, seinem echten Kind.

»Du weißt es«, sagte er schließlich.

»Ich weiß es«, erwiderte sie.

»Hat es deine Mutter dir erzählt?«

»Erst, nachdem ich sie dazu gedrängt hatte.«

Es entstand eine Pause, dann sagte er: »Es hat für mich nie einen Unterschied gemacht, weißt du.«

»Eigentlich weiß ich das nicht. Woher auch. Du rufst nicht an. Du schreibst nicht.« Sie wollte ungezwungen klingen, aber ihre Stimme wurde immer höher und zitterte leicht.

Phil atmete tief aus und ließ den Blick eine Weile über den Horizont schweifen. Dann drehte er sich wieder zu ihr um. »Ich dachte, dass jeder von uns, ich eingeschlossen, ein bisschen Zeit bräuchte, um sich auf die neuen Umstände einzustellen. Nicht, weil ich aufgehört habe, dich zu lieben. Ich habe nie damit aufgehört und werde nie damit aufhören. Du bist meine Tochter. Verstehst du?«

Alice spürte, wie das, was in ihr zerbrochen war, zu heilen begann. Tränen verschleierten ihren Blick. Sie brachte keinen Ton heraus, die Gefühle stachen ihr in die Brust, schnürten ihr die Kehle zu. Sie konnte nur nicken. Und als Phil näher kam, die Arme um sie legte und sie an sich drückte, erwiderte sie seine Umarmung, so fest sie konnte.

Dann spürte Alice ein zweites Paar Arme, Charlie umarmte sie ebenfalls. Und so standen sie da – Alice, Charlie und Phil – in einer Dreierumarmung, bis der Taxifahrer ungeduldig auf die Hupe drückte.

Phil tätschelte Alices Arm, dann Charlies, und sie lösten sich von ihm.

»Okay, ihr beiden«, sagte er mit belegter Stimme. »Ich muss jetzt los. Ich habe Charlie meine Nummern dagelassen, damit ihr mich immer erreichen könnt, wenn ihr mich braucht.« Und dann sagte er, was er immer sagte, wenn er auf Tour ging: »Seid lieb. Hört auf eure Mutter. Wir sehen uns bald.« Er umarmte sie ein letztes Mal, eine nach der anderen, dann lief er über die schmalen Streifen Rasen zur Einfahrt.

Alice und Charlie standen wie erstarrt nebeneinander. Sie sahen zu, wie Phil seinen langen Körper in das Taxi zwängte, hörten, wie der Motor gestartet wurde. Erst als sich das Taxi in Bewegung setzte, die Räder den Kies aufwirbelten, lösten sie sich aus der Erstarrung. Sie rannten hinter dem Taxi her, folgten ihm bis zum Ende der Einfahrt und winkten, bis sie den Wagen nicht mehr sehen konnten.