19

Nachdem Phil fort war, kehrten die Schwestern in Charlies Zimmer zurück. Alices Glieder fühlten sich schwer und taub an, als sie die Treppe hinaufstieg. Sie wusste, dass Charlie reden wollte, und obwohl sie sich nicht danach fühlte, eine lange, anstrengende Unterhaltung über ihre völlig verdrehte Familiensituation zu führen, versuchte sie, sich Charlie zuliebe aufzuraffen. Doch als sie die Tür geöffnet hatte, ging Charlie sofort zum Bett und ließ sich ohne ein weiteres Wort hineinfallen. Dankbar, dass die Krisensitzung aufgeschoben war, ließ sich Alice neben sie fallen.

Sie wollte sich gerade auf der Seite zusammenrollen, als sich etwas in ihre Hüfte bohrte. Sie griff danach und zog ein Handy zwischen den Laken hervor, Charlies Handy. Neue Sprachnachricht, stand auf dem Display. Die Nachricht war von Maggie. Alice drehte sich zu Charlie um, aber Charlie war bereits eingeschlafen und schnarchte leise.

Alice hörte die Nachricht ab. »Hi, Süße. Es ist früh und du schläfst wahrscheinlich noch. Wenn du aufwachst und deine Kopfschmerzen noch nicht weg sind, nimm zwei Tylenol. Am besten gleich, wenn du deine hübschen Augen aufmachst, sonst wird es nur schlimmer. Richard und ich sind auf dem Weg zum Flughafen. Wir haben beschlossen, doch schon etwas eher zurückzufliegen. Die Reise war schön, aber mit dir und deiner Schwester hätten wir noch mehr Spaß gehabt. Gib Alice einen Kuss von mir. Wir sehen uns in ein paar Stunden.«

Alice verdrehte die Augen und wollte etwas Sarkastisches über Maggies gespielte mütterliche Fürsorge sagen – auch wenn Charlie sie nicht hörte –, aber sie konnte nicht. Die Nachricht war aufrichtig gewesen. Maggie hatte ihre mütterliche Fürsorge nicht nur vorgetäuscht. Und diese Tatsache machte Alice traurig. Wegen Maggie, wegen Phil, wegen Charlie und wegen ihr.

Alice ignorierte die weibliche Computerstimme, die durch das Menü führte, und legte das Handy zur Seite. Sie kuschelte sich nah an Charlie und sank in einen tiefen Schlaf.

Alice wurde von zwei Geräuschen geweckt. Das erste war das Klingeln ihres Handys. Das zweite war der Klang eines harten Gegenstandes, der immer wieder gegen einen anderen harten Gegenstand geschlagen wurde. Leicht benebelt sah sie zu Charlie hinüber, die friedlich neben ihr schlief, dann zum Digitalwecker, der auf einer Ausgabe von Der große Gatsby auf dem Nachtschrank stand. (Was wollte Charlie mit Gatsby? Hatte sie damit ein Insekt getötet oder was?) Es war ein paar Minuten nach acht.

Das Handy klingelte erneut, Alice zog es aus ihrer Tasche. Patricks Name erschien auf dem Display. Die Ereignisse der vergangenen Nacht stürmten wieder auf sie ein. Während sie auf die Telefonhörertaste tippte, fragte sie sich, ob die Polizei neuerdings erlaubte, dass man Anrufe von seinem eigenen Handy aus führen durfte.

»Patrick, hi«, sagte sie und versuchte, ausgeschlafen zu klingen, als wäre sie schon seit Stunden wach und hätte sich nicht in ein Gänsedaunenkissen gekuschelt, während er hinter Gittern schmoren musste. »Haben sie gesagt, wann sie dich rauslassen?«

»Ich bin draußen. Ich bin sogar hier.«

»Hier wo?«

»Hier vor dem Haus. Wer, glaubst du, hämmert seit fünfzehn Minuten gegen die Tür? Ich wette, ich habe mir alle Knöchel gebrochen.«

»Leg auf, leg auf«, sagte Alice und krabbelte über Charlie hinweg. »Ich bin in zwei Sekunden unten.«

Sie brauchte eher zehn, war aber trotzdem schnell. Hastig drehte sie den Schlüssel im Schloss und riss die Tür auf. Patricks Arm war erhoben, seine Hand zur Faust geballt, als wollte er gerade wieder klopfen.

Sie musterte ihn kurz. Er hatte ein paar Platzwunden und Blutergüsse, eine geschwollene Lippe, geronnenes Blut klebte an seiner Nase. Auch seine Klamotten sahen mitgenommen aus, an seinem Hemd fehlten ein Knopf und ein Ärmel, sein Gürtel hing aus irgendeinem Grund aus seiner Hosentasche. Aber ansonsten schien er die Schlägerei und die Nacht im Gefängnis gut weggesteckt zu haben, seine Augen waren klar, er sah richtig munter aus.

»Wie bist du rausgekommen?«, fragte sie und sprach immer noch in das Handy. Als ihr das bewusst wurde, legte sie auf und steckte es in ihre Tasche. »Bist du ausgebrochen?«

»So spektakulär war es nicht.«

»Wie dann?«

Er senkte den Blick auf seine Schuhe, der linke war nicht zugeschnürt. Er kniete sich hin und band ihn zu. »Sie haben mich einfach gehen lassen.«

»Sie mussten nicht auf einen Vormund oder eine andere erwachsene Person warten?«

»Nein.«

»Das ist ja merkwürdig.«

»Ich würde eher sagen, das war Glück, aber okay.« Er erhob sich wieder. »Was glaubst du denn, Alice? Sie haben die Zellentür aufgeschlossen und mich rausgelassen. Da wollte ich keine blöden Fragen stellen und von ihnen wissen, ob das die ordnungsgemäße Vorgehensweise ist. Sie haben mir gesagt, ich könnte gehen, also bin ich gegangen. Und zwar so schnell wie möglich.«

»Ich hätte dich abgeholt, wenn du angerufen hättest.«

»Ich wollte dir nicht auf die Nerven gehen.« Patricks Mund verzog sich zu einem Grinsen. »Abgesehen davon glaube ich kaum, dass du es gehört hättest.«

»Ja, ich war ganz schön platt«, stimmte sie zu.

»Außerdem war das ein gutes Training für mich. Es hat mir geholfen, den Kopf freizubekommen.«

»Du meinst wohl, dich auszunüchtern.«

»Das auch. Und wenn du mich unbedingt fahren willst, dann fahr mich jetzt.«

Alice sah ihn überrascht an. »Wohin?«

»Zur Greyhound Station. Ich steige lieber in den Bus zurück nach Bosten, bevor ich hier noch mehr Schwierigkeiten bekomme.«

Sie seufzte. »Ja, das ist wahrscheinlich eine gute Idee. Natürlich tut es mir leid, wenn du gehst, aber hier scheinst du auf der Abschussliste zu stehen. Manchmal ist es besser, wegzurennen als zu kämpfen.«

Er berührte seine blutige Nase mit der Fingerspitze und zuckte zusammen. »Ja, ich habe schon versucht zu kämpfen, aber das ist nicht besonders gut für mich ausgegangen. Eine Nacht im Gefängnis reicht mir. Es sei denn, du denkst, ich könnte diese Sasha schnell zu einem nächtlichen Besuch überreden.«

»Ziemlich fraglich.«

Er lachte.

»Kann ich dich zum Frühstück einladen, bevor ich dich zum Busbahnhof bringe?«

»Klar.« Er klopfte sich auf den flachen Bauch. »Ich könnte sofort eine Portion Schinken und Eier und Pfannkuchen vertragen.«

»Wie wäre es mit Truthahnschinken, Eiweiß und glutenfreien Pfannkuchen? Vergiss nicht, du bist in Yuppieville, kalorienhaltiges Essen ist hier nur schwer zu bekommen.«

»Ich muss ganz schön hungrig sein, denn das klingt irgendwie auch gut.«

Alice drehte sich zur Treppe um. »Dann geh ich mal Charlie wecken«, sagte sie.

Patrick legte eine Hand auf ihren Arm. »Lass sie schlafen.«

»Bist du sicher?«

»Es ist doch kein Abschied für immer. Wir werden uns bald wiedersehen. Und ein bisschen Zeit zu zweit wäre doch auch nicht so verkehrt, oder?«

Nein, das wäre es nicht. Eigentlich fand Alice sogar, dass es schön wäre, mit Patrick in einem sonnigen Café zu sitzen, die Wärme zu genießen, sich den Bauch vollzuschlagen, bis sie pappsatt war, und zu wissen, dass sie den Rest des Tages ausruhen und schlafen konnten. Sie klopfte auf ihre Taschen, in denen der Autoschlüssel und ihr Handy steckten. »Ich hab alles«, sagte sie, trat nach draußen und wollte die Tür hinter sich zuziehen.

»Äh, Alice?«

»Ja?«

»Du solltest dir vielleicht noch Schuhe anziehen.«

Sie sah auf ihre nackten Füße hinunter. »Oh, stimmt.«

Alice zog ihre Schuhe an, Patrick verschwand kurz im Bad und holte dann seine Tasche. Und nachdem Patrick auch den anderen Ärmel an seinem Hemd abgetrennt hatte, sodass es mehr oder weniger einheitlich wirkte, stiegen die beiden in den Mercedes und fuhren in Richtung Stadtzentrum. Auf der Einfahrt kam ihnen der Pick-up von Luz und Fernanda entgegen.

Alice und Patrick verbrachten fast drei Stunden im Café Arcadia, vor ihnen standen Teller mit Toasträndern und Ketchup-Spuren, sie tranken eine Tasse Kaffee nach der anderen und redeten. Das Thema Tommy – oder Tommys feiges Verhalten letzte Nacht – brachte Patrick nicht zur Sprache, was sie ihm hoch anrechnete. Und natürlich fing sie auch nicht davon an. Sie unterhielten sich hauptsächlich über früher, über Dinge, die sie erlebt hatten, schwierige Zeiten, die sie durchgemacht hatten, Leute, die sie kannten.

Gegen Mittag füllte sich das Café allmählich. Obwohl Alice protestierte, bezahlte Patrick die Rechnung. Sie gingen zum Wagen zurück und fuhren zur Greyhound Station.

Der nächste Bus nach Bosten fuhr erst in fünfundvierzig Minuten, also setzte sich Alice neben Patrick auf eine der harten Holzbänke neben den Fahrscheinautomaten, um ihm beim Warten Gesellschaft zu leisten. Sie hielten Händchen, redeten aber kaum noch. Alice spürte auf einmal eine gewisse Distanz und Traurigkeit zwischen ihnen. Als schließlich die Durchsage kam, dass der 13-Uhr-15-Bus Richtung South Station zum Einsteigen bereitstand, lächelten sie sich unsicher an.

Sie brachte ihn zum Bus. An der Tür musterte er sie lange mit seinen blassblauen Augen, bevor er den Blick über den leeren grauen Parkplatz wandern ließ, der Geruch von Diesel hing in der Luft. Sein Haar wehte leicht im Wind. Sein Gesicht war unter den Sommersprossen und Prellungen ganz blass. Schließlich drehte er sich wieder zu ihr um. »Pass auf dich auf, Al.«

»Du auch.«

»Und wenn irgendetwas schiefläuft, rufst du mich an. Dann komme ich sofort.«

Sie nickte.

Er hätte gern noch mehr gesagt, das konnte sie ihm ansehen, aber er tat es nicht. Er nickte nur zurück.

Sie sah zu, wie er die Stufen hochstieg, dem Fahrer sein Ticket zeigte und durch den Bus lief, bis er einen Platz gefunden hatte und sich setzte. Genau wie heute Morgen winkte Alice, bis der Bus außer Sichtweite war.

Sie hatte direkt in der Sonne geparkt, im Auto herrschte eine Bullenhitze. Trotzdem fuhr sie nach Hause, ohne die Fenster zu öffnen oder die Klimaanlage anzustellen.