20

Alices Plan war, ins Bett zu krabbeln und es für die nächsten zehn bis zwölf Stunden nicht wieder zu verlassen. Doch als sie gerade in die Einfahrt abbiegen wollte, entdeckte sie eine schwarze Limousine vor Richards Haus. Ein Mann im dunklen Anzug stand am offenen Kofferraum und mühte sich damit ab, etliche Gepäckstücke auszuladen. Richard und Maggie waren vom Flughafen zurück. Natürlich. Wie hatte sie nur Maggies Nachricht auf Charlies Mailbox vergessen können? Die Frischvermählten waren völlig erledigt von ihrer Hochzeitsreise und hatten einen früheren Flug genommen. So viel zu ihrem Plan, sich wieder hinzulegen.

Bevor sie sich ihrer Entscheidung bewusst wurde, trat Alice auf das Gaspedal und fuhr an der Einfahrt vorbei. Sie wollte den beiden auf keinen Fall über den Weg laufen.

Am Strand angekommen, lenkte sie den Wagen zur Seite und hielt am Straßenrand an. Sie hörte eine Weile Radio, einen Rockmusiksender. Als »Highway to Hell« von AC/DC gespielt wurde, einer von Patricks Lieblingssongs, schaltete sie das Radio aus und beschloss, einen Spaziergang zu machen.

Nach ein paar Hundert Metern erreichte sie den Rettungsschwimmerturm, an dem sie sich gestern Abend spontan mit Nick getroffen hatte. Sie berührte einen der Stützpfeiler, das Holz war rau und splitterig unter ihrer Handfläche, und ihr fiel wieder ein, wie überraschend geräumig die Aussichtsplattform gewesen war, kühl und trocken mit einer breiten Bank. Vielleicht konnte sie sich dort ein wenig langmachen und Schlaf nachholen. Sie hätte nie damit gerechnet, dass jemand auf dieselbe Idee gekommen sein könnte – bis sie nach oben kletterte.

Tommy schlief nicht, er saß auf der Bank. Sein Notizbuch lag offen auf seinem Schoß und er schrieb konzentriert darin. So konzentriert, dass er sie erst bemerkte, als auch sie ihn entdeckte. Ihre Blicke trafen sich – wobei Tommys rechtes Auge blauviolett und geschwollen war.

Er klappte das Notizbuch zu und steckte es in die Tasche. Dann rutschte er ein Stück, um ihr Platz zu machen. Sie kletterte die letzten Sprossen der Leiter nach oben und setzte sich neben ihn. Keiner von ihnen sagte ein Wort. Eine lange Zeit suchten sie Zuflucht in der Aussicht, die sich von hier oben bot, starrten auf das Meer hinaus, das sich ruhig und glatt und blau in alle Richtungen vor ihnen ausbreitete.

Alice brach das Schweigen zuerst. »Da ist etwas, was ich dir sagen muss.«

»Okay.«

Während sie nach den richtigen Worten suchte, entstand ein neues Schweigen. Doch sie hatte es satt, ihn immer mit Samthandschuhen anzufassen, um Geheimnisse herumzuschleichen – seine Geheimnisse und jetzt auch ihre eigenen –, und beschloss, Klartext mit ihm zu reden. »Ich glaube nicht, dass Camilla Selbstmord begangen hat. Ich habe Nachforschungen über ihren Tod angestellt. An dem Abend, als ich bei dir übernachtet habe – oder übernachten sollte –, war ich im Arbeitszimmer deines Vaters und habe seinen Aktenschrank geöffnet.«

Tommy starrte sie an, dann lachte er ungläubig auf. »Also deshalb lagen Zahnbürste und Zahnpasta auf seinem Schreibtisch. Mein Dad hat mich schon danach gefragt.«

»Er war Martha Floods Arzt. Das hast du mir nie erzählt.«

»Nein, das habe ich nicht.«

»Warum nicht?«

»Warum ich es dir nicht erzählt habe?« Er lachte wieder ungläubig. »Offenbar, weil ich nicht wollte, dass du es weißt.«

»War er auch Camillas Arzt?«

Tommys Augen blitzten plötzlich böse auf. »Glaubst du wirklich, dass ich meinem Dad erlauben würde, in so nahen und persönlichen Kontakt mit meiner Freundin zu kommen? Sie nackt zu sehen, sie zu untersuchen, sie anzufassen und so weiter?«

»Ich wusste nicht, dass du da Mitspracherecht hast. Ich hatte den Eindruck, dass dein Dad bei euch das Sagen hat«, erwiderte sie zögernd, fast entschuldigend.

»Im Großen und Ganzen hat er das auch, aber nicht in allen Dingen, nein«, erwiderte Tommy. Er seufzte und schloss die Augen, der Ärger verflog so schnell, wie er gekommen war.

Für ein paar Sekunden musterte Alice sein regloses Gesicht mit den geschlossenen Lider. Es war wunderschön und ruhig, selbst mit dem geschwollenen pflaumenfarbenen Veilchen. Und plötzlich stellte sie sich Tommy dauerhaft ruhend vor: in einem Sarg. Sie konnte gar nicht mehr damit aufhören. Schließlich schüttelte sie den Kopf, um das makabere Bild loszuwerden. »Ich verstehe nicht, wieso du die Sache mit Martha vor mir geheim halten wolltest. Wen interessiert’s, dass dein Dad ihr Arzt war?«

»Ich dachte, du könntest dich dafür interessieren«, sagte er immer noch mit geschlossenen Augen.

»Und wieso dachtest du das? Sie ist also unter seiner Obhut gestorben. Aber viele Menschen sterben an Krebs. Es liegt mehr oder weniger in Gottes Hand. Es sei denn …« Alice hielt inne.

Tommy blinzelte, öffnete die Augen und blickte Alice verstört an. Doch sie sah ihn nicht an, sondern starrte auf ihre Oberschenkel. In Gedanken ging sie alle ihr bekannten Fakten durch, die langsam, aber beständig ans Licht kamen und sie lähmten.

Sie dachte zurück an das Clambake Luau im Club. Dr. van Stratten hatte gerade den Prozess wegen der Fehldiagnose hinter sich und es war der erste öffentliche Auftritt der Familie, seit das Urteil gefallen war. Die van Strattens wurden auf der Party wie Aussätzige behandelt, die anderen Gäste mieden sie, als hätten sie eine ansteckende Krankheit. Geschweige denn, dass jemand mit ihnen redete. Und dann war Richard, so zwanglos und entspannt wie immer, zu Dr. van Stratten gegangen, hatte ihm auf den Rücken geklopft, nach seinem Golfspiel gefragt, hatte Mrs van Stratten auf die Wange geküsst und Tommy die Hand geschüttelt. Und nachdem Richard den ersten Schritt getan hatte, kamen auch andere Gäste auf sie zu, zuerst zögernd, doch schon bald mutiger, als hätte es eine Entwarnung gegeben. Richard hatte die van Strattens an diesem Abend im Alleingang vor dem gesellschaftlichen Ruin bewahrt und Alice hatte ihn für diese großherzige Geste bewundert.

Doch was wäre, wenn er diesen Schritt nicht aus Freundlichkeit, sondern aus Verpflichtung, oder noch schlimmer, aus Eigennutz unternommen hatte? Als Martha noch lebte, hatte Richard ein Problem: Er hatte eine Affäre mit einer Frau, die er liebte, und eine Ehefrau, die er nicht liebte und die an der Schwelle des Todes stand. Und Dr. van Stratten hatte die Lösung: die Mittel, um der Ehefrau einen sanften Stoß ins Jenseits zu geben. Außerdem hatte er die berufliche Angewohnheit, seinen Patienten alles recht zu machen, oder wie Nick es ausdrückte, es den Patienten gegen Geld recht zu machen. Was, wenn Richard und Dr. van Stratten irgendeine für beide Seiten vorteilhafte Vereinbarung getroffen hatten? Wenn sie Martha gemeinsam umgebracht hatten? Wenn sie sich gegenseitig ein Alibi gaben, sich gegenseitig deckten?

»Es sei denn«, fuhr Alice langsam fort, »es sei denn …«

»Bitte nicht«, stöhnte Tommy.

»Gott hatte einen Helfer.«

»Ich weiß es nicht sicher. Und Camilla wusste es auch nicht.«

»Aber ihr hattet einen Verdacht?«

»Sie hatte einen. Ich nicht.« Tommy machte eine Pause und schluckte. Dann sagte er leise, fast flüsternd, als würde es ihm Schmerzen bereiten, die Worte über die Lippen zu bringen: »Ich hatte erst später einen Verdacht.«

Alice war plötzlich schwindelig. Es kam ihr vor, als würde sie schwanken oder als würde der ganze Turm sich bewegen. »Wie konnte dein Vater das tun?«, sagte sie, nur um sich zu vergewissern, dass sie überhaupt noch in der Lage war zu sprechen. Sie versuchte zu lachen, aber ihre Stimme gehorchte ihr nicht. »Ich meine, rein praktisch gesehen, nicht moralisch.«

»Es ist so einfach, Alice, du würdest es nicht glauben. Mrs Flood hatte bereits im vierten Stadium Brustkrebs und es hatten sich schon Metastasen in der Leber gebildet, sie war unglaublich anfällig. Hätte sie ihre Medikamente auch nur einen Tag nicht genommen, wäre es rasend schnell bergab gegangen, quasi von heute auf morgen. Und genau das ist passiert. Ihr Zustand verbesserte sich, verbesserte sich, verbesserte sich und dann war sie tot. Kurz nachdem sie aus dem Krankenhaus entlassen worden war und mein Vater die weitere Behandlung übernommen hatte. Binnen ein paar Tagen, nicht Wochen. Die Krebserkrankung, an der sie litt, konnte sich jederzeit verschlimmern und bei ihr trat das zu einem besonders günstigen Zeitpunkt ein. Ich meine, günstig für deinen Stiefvater und meinen Vater. Nicht so günstig für Mrs Flood.«

»Und Camilla wusste von meiner Mom? Dass Richard und sie eine Affäre hatten?«

»Ja. Ich weiß nicht, wie sie dahintergekommen ist, aber sie wusste es.«

»Und sie hat es dir nicht erzählt?«

»Ich wollte es nicht hören.« Er legte das Gesicht in die Hände. »Gott, warum habe ich ihr nicht geglaubt?«

Seine Schultern bebten und er stieß diese seltsam abgehackten Schluchzer aus, wie ein Kind, das ohne Tränen weint. Alice überlegte, ob sie ihm das wahre Verwandtschaftsverhältnis zwischen ihr und Richard anvertrauen sollte, um ihn zu trösten – auch sie war in dieses Verbrechen verwickelt, wenn auch nur genetisch bedingt –, doch dann entschied sie sich dagegen. Ihr war klar, dass das auch nach hinten losgehen konnte, dass er sich durch dieses Geständnis noch schlechter und nicht besser fühlen könnte: Er war nicht nur darin gescheitert, seine Ex-Freundin zu retten, sondern auch ihre Halbschwester. Und diese Schuld brachte ihn offensichtlich jetzt schon fast um. Wenn er noch mehr auf sich lud, würde er völlig zusammenbrechen. »Wann kamst du darauf, dass Camilla Recht hatte?«

Tommy blickte auf und lachte, jedenfalls klang es wie ein Lachen. »Als es zu spät war, natürlich. Erst nach ihrem Tod. Ich glaube, dass ich vorher einfach nicht bereit dafür war. Das war auch der eigentliche Grund, warum wir uns getrennt haben. Ich meine, ihr Fremdgehen war auch ein Problem, aber ich hatte mich irgendwie daran gewöhnt. Obwohl sie es mir mehr oder weniger direkt auf die Nase band, mit Nick darüber tratschte und über mich kicherte, mich manchmal sogar unverblümt auslachte. Aber ich konnte nicht zulassen, dass sie so über meinen Vater sprach. Mein Vater war für mich ein bedeutender Mann. Vielleicht kein guter Mensch. Aber ein bedeutender. Ich wusste, dass er ein richtiges Arschloch sein konnte, und zu Hause ist er ein Tyrann, der mich und meine Mom nur herumschubst. Aber als Arzt war er das genaue Gegenteil. Er war ein Heiler. Er hatte die Macht über Leben und Tod. Und er hat aus dem Nichts eine erfolgreiche Praxis aufgebaut. Die Leute, reiche Leute, mächtige Leute, Geschäftsführer, Verantwortungsträger, kamen zu ihm, vertrauten darauf, dass er sie gesund machte und dafür sorgte, dass es ihnen besser ging. Deshalb war es nicht gerade leicht für mich, mir anhören zu müssen, wie Camilla seine berufliche Integrität infrage stellte. Wie ich schon sagte, er ist ein Arschloch, aber er ist auch … er ist …«

»Er ist dein Vater«, beendete Alice den Satz für ihn.

»Ja, er ist mein Vater.«

»Und wieso hat sich das für dich geändert, nachdem sie gestorben war?«

Tommy wandte den Blick von Alice ab, seine Augen flohen förmlich vor ihr.

»Du denkst, dein Vater hat sie getötet«, sagte sie. Sie sprach die Worte aus, bevor ihr klar wurde, was sie da sagte. Und als er es nicht leugnete, wurde ihr wieder schwindelig. Sie fühlte sich eingeengt, die Wände des Rettungsschwimmerturms schienen immer näher zu kommen, als wollten sie sie erdrücken.

Nachdem sie etwa eine Minute schockiert geschwiegen hatte, sagte Alice: »Aber woher soll dein Vater gewusst haben, dass sie ihn verdächtigte?«

Tommy sah sie noch immer nicht an.

»Weil du es ihm gesagt hast.« Wieder sprach sie die Worte aus, bevor sie sie selbst erfasst hatte.

»Ein paar Stunden später war Camilla tot.«

Das Schweigen, das Tommys Worten folgte, war mehr als schockierend. Es war leer, weiß und hoffnungslos. Für einen Moment verschlug ihr der Hass auf Tommy den Atem, dunkle Gefühle durchströmten ihren Körper, schwarze Punkte wirbelten vor ihren Augen. Er war nicht nur daran gescheitert, Camilla zu retten, er hatte praktisch dabei geholfen, sie umzubringen. Doch dann rief sich Alice ins Gedächtnis, dass er sich nur einer Sache wirklich schuldig gemacht hatte: Er hatte der falschen Person vertraut – seinem Vater, einer Person, der er natürlich vertraute – und die Woge des Hasses ebbte ab, bis sie wieder klar denken konnte.

»Was ist mit Richard?«, fragte sie.

Tommy starrte sie an, seine Lippen öffneten sich leicht, während er sich bemühte, zu verstehen, was sie meinte. Als er es schließlich begriffen hatte, sagte er hastig: »Ob Mr Flood an Camillas Tod beteiligt war? Meine Güte, nein. Niemals. Er liebte Camilla mehr als alles andere. Ich weiß ja nicht mal mit Sicherheit, ob mein Dad ihr etwas angetan hat.«

»Es scheint mir aber eine ziemlich naheliegende Vermutung zu sein.«

Tommy seufzte tief. »Das sehe ich auch so. Aber wenn er …«, er brach ab und versuchte es erneut, »wenn mein Dad Camilla irgendetwas angetan hat, dann war Richard auf keinen Fall daran beteiligt.«

Alice war erleichtert, dass die Bosheit ihres biologischen Vaters offenbar eine Grenze hatte. Sie schwieg einen Moment, dann sagte sie: »Soll deshalb niemand erfahren, dass wir zusammen sind? Weil es dann auch dein Vater erfahren würde?«

»Ja«, presste Tommy mit einem kehligen Laut hervor.

»Also ist er die Bedrohung?«

Keine Antwort. Sie wandte sich Tommy zu, konnte aber sein Gesicht nicht sehen. Er hatte sich weggedreht und hielt den Kopf gesenkt.

»Tommy, ist das so? Ist er derjenige, vor dem du mich beschützen willst?«

Er hatte sich nach wie vor von ihr abgewandt.

»Tommy, sieh mich an. Bitte, Tommy.«

Endlich hob er den Kopf und den Blick. Seine Augen sahen schrecklich aus, das eine zugeschwollen und blauviolett verfärbt, das andere dunkel und voller Qualen. »Die Sache ist die«, sagte er kläglich, »ich kann dich nicht vor ihm beschützen. Ich kann mich nicht einmal selbst vor ihm beschützen. Deshalb habe ich auch nichts gesagt, als die Polizei gestern Nacht deinen Freund in Handschellen abgeführt hat. Deshalb bin ich feige davongeschlichen. Ich habe Angst vor ihm, davor, was er tun könnte.«

»Du musst mich nicht beschützen. Es gibt gar keinen Grund dafür. Er wird das mit uns nicht herausfinden.«

»Doch, das wird er.«

»Und wie? Es ist ja nicht so, als würde er sich mit Jugendlichen abgeben oder sich für ihren Tratsch und Klatsch interessieren. Und ich verspreche dir, ich werde nicht bei dir zu Hause herumhängen, deine Collegejacken tragen oder deine Mom nach Kinderfotos fragen.« Es hatte ein Scherz sein sollen, aber Tommy lachte nicht. Es schien fast so, als hätte er es nicht mal gehört.

»Alles, was ich liebe, versucht er zu zerstören. Ich kann nicht zulassen, dass er dir etwas antut. Nicht wie Camilla.«

Tommys Lippen bewegten sich weiter, aber die Worte, die er formte, kamen nicht bei Alice an. Das Blut rauschte so laut in ihren Ohren, dass sie nichts anderes mehr hören konnte. Er liebte sie. Das hatte er gesagt, das hatte er gemeint. Er liebte sie, wie sie ihn liebte. Sie spürte plötzlich einen inneren Frieden und das Rauschen in ihren Ohren ebbte ab, bis sie ihn wieder hören konnte.

»Mein Dad ist stärker als ich«, sagte Tommy gerade, »klüger als ich, widerstandsfähiger als ich. Er ist in allem besser. Und ich …« Er konnte nicht fortfahren, nur ein gequälter Ton kam aus seiner Kehle.

Sie hatte gedacht, sie sei ihm nicht wichtig genug gewesen. Aber im Grunde hatte er sie nur beschützen wollen, hatte immer sorgfältig darauf geachtet, was er sagte, um sie und sich selbst nicht in Gefahr zu bringen. Deshalb hatte er immer geschwiegen, den Schmerz ertragen und ihn sich nie anmerken lassen. Geradezu stoisch. Doch jetzt zeigte er Schwäche und Offenheit, und das bewegte sie zutiefst. Er hatte ihr sein Geheimnis anvertraut und wofür er sich schämte: Er war das Opfer seines Vaters. Mit einem Mal wurde sie von ihren Gefühlen überwältigt, fast genauso überwältigt wie er. »Tommy«, sagte sie, ihre Stimme klang brüchig. »Was Camilla passiert ist, war nicht deine Schuld. Du konntest es nicht wissen.«

Er beugte sich plötzlich vor, lehnte sich an sie und sagte zwischen zusammengebissenen Zähnen: »Ich hasse ihn.«

Sie legte ihre Arme um seine Schultern und zog ihn an sich.

Seine nächsten Worte waren unverständlich, gedämpft und leise, weil er das Gesicht in ihrem Nacken vergraben hatte. Sie konnte die Worte Es tut mir und leid und Camilla heraushören, aber sie war nicht sicher, ob sie zusammengehörten oder andere Satzteile verlorengegangen waren.

Aber das spielte keine Rolle. Sie streichelte sein Haar und drehte sich zu ihm, um ihn auf die Wange zu küssen. Im letzten Augenblick kam er ihr entgegen und ihre Lippen trafen sich. Sie öffnete überrascht den Mund – sie hatte ihn nur trösten wollen –, doch das zog ihn nur noch mehr zu ihr hin. Sie konnte kaum glauben, wie stark sein Verlangen war. Aber sie spürte es in seinem Kuss. Es war mehr als hungrig, es war verschlingend. Für einen Moment dachte sie daran, ihn zurückzustoßen. Das war zu viel, zu früh. Die Gefühle, sowohl seine als auch ihre, waren übermächtig und völlig auf den Kopf gestellt. Sie brauchte Zeit, um nachzudenken, um zu entscheiden, ob es das war, was sie wollte.

Und dann dachte sie: Ja. Ja, das ist es. Ja, ja, ja.

Sie ließ sich langsam auf die Bank sinken. Und er folgte ihr.