Es war nach Mitternacht, wie lange danach, konnte Alice nicht sagen. Sie hatte gerade eine Textnachricht an Nick geschickt und eine Zeit vorgeschlagen, zu der sie sich morgen treffen könnten, um eine Strategie zu entwerfen. Aber sie hatte vergessen, auf dem Display nach der momentanen Uhrzeit zu sehen, und war zu faul, es noch mal hervorzuziehen. Sie saß allein am Strand, nur ein paar Schritte von der Feuerstelle entfernt, die Stelle, die Tommy so mochte. Hierher kam er oft, wenn er nicht schlafen konnte, um in sein Notizbuch zu schreiben. Er sah auf die Greeves Bridge hinaus, marterte sich selbst mit dem Anblick von Camillas Grabstätte, spürte das schmerzhafte Vergnügen von Schuld, Scham und Reue, quälte sich selbst. Alice rief sich Nicks Worte über Camilla ins Gedächtnis. Dass sie gar nicht wusste, wie verzweifelt ihr Verhalten war, und wie sie in der Garage der van Strattens gekauert hatte, als sie glaubte, allein und unbeobachtet zu sein. Und Alice dachte über die Jungen nach, die in sie verliebt gewesen waren, sich um sie gesorgt und gespürt hatten, dass sie in Schwierigkeiten steckte, aber nichts tun konnten, um sie zu beschützen.
Bemerkenswerterweise war die Gedenkfeier erst vor einer Weile zu Ende gewesen. Nur Mrs Flood war nicht lange geblieben. Nach dem Gottesdienst war sie in ihrem Chauffeurwagen verschwunden und zurück Richtung Darien gefahren, während Alice sich am Tennisplatz mit Nick unterhalten hatte.
Maggie und Richard hatten den Club nicht viel später verlassen, waren aber nicht nach Hause, sondern ins Krankenhaus gefahren. (Maggie hatte Richard in der Küche gefunden – das herumeilende Personal schien keine freie Sekunde gefunden zu haben, um ihm zu helfen – und hatte seine Hand verarztet. Doch sie hörte nicht auf zu bluten, also brachte sie ihn in die Notaufnahme, damit die Wunde genäht werden konnte.)
Ohne die drei war die Stimmung im Clubhaus deutlich lockerer geworden. Die Leute lachten und redeten, erzählten Witze, aßen und tranken Alkohol, den Richard bezahlt hatte. Die Männer lösten ihre Krawatten, warfen die Jacketts achtlos über die Stuhllehnen und die Frauen zogen ihre High Heels aus.
Alice gönnte ihnen die allgemeine gute Laune, fand sie nicht respekt- oder geschmacklos. Die leicht verrückte Ausgelassenheit war eine vollkommen nachvollziehbare Reaktion auf den langen, dunklen Schatten, den der Tod über sie geworfen hatte, wenn auch nur während ein paar Minuten an einem herrlichen Sommertag. Aber Alice war nicht nach fröhlicher Ausgelassenheit zumute. Sie hatte sich auf die oberste Stufe der Treppe gesetzt, über die man zu den Gästezimmern in der ersten Etage kam, und durch die Stäbe des Geländers zugeschaut.
Von diesem günstigen Aussichtspunkt aus, etwas abseits und halb verborgen, hatte Alice das Treiben beobachtet. Tommy war durch den Gang gelaufen, auf die Terrasse, hatte sogar in die Damentoilette geschaut. Sie wusste, dass er nach ihr suchte, aber sie wollte nicht gefunden werden, deshalb lehnte sie sich etwas weiter zurück in den Schatten. Sie wollte ihm nicht aus dem Weg gehen. Nicht wirklich. Aber wenn sein Dad so heimtückisch war, wie Tommy glaubte, war es vielleicht besser, sich nur mit Tommy zu treffen, wenn Dr. van Stratten nicht in der Nähe war und sie sicher sein konnten, dass er sie nicht entdeckte. Abgesehen davon hatte die Begegnung mit Nick sie verunsichert, was Tommy betraf. Sie zweifelte plötzlich sowohl an Tommy als auch an sich selbst. Es war nur ein vorübergehendes Gefühl, da war sie sicher, aber sie wollte lieber abwarten, bis ihre Zweifel verflogen waren, bevor sie ihm wieder gegenübertrat. Nach einer Weile gab Tommy auf und ging in das Restaurant zurück.
Alice hatte von hier oben auch Charlie entdeckt. Sie war aus der Garderobe gekommen, das Haar unordentlich, hatte ihren Rock über die Hüften gezogen und glatt gestrichen. Jude tauchte dezente dreißig Sekunden später auf, seine Krawatte saß schief und das Hemd hing ihm aus der Hose. Als er das Restaurant betrat, stieß er mit Cybill zusammen, die gerade herauskam.
Morgen Früh musste Alice mit ihrer Schwester reden. Sie musste Charlie sagen, dass sie sich Maggie gegenüber am Riemen reißen sollte, die patzige kleine Zickennummer einen Gang runterschalten musste. Ansonsten würde sie ihre Deckung aufs Spiel setzen, ihre gemeinsame Deckung. Glücklicherweise schien sie sich mit Jude versöhnt zu haben, sodass sich ihre Laune zu Hause hoffentlich um einiges bessern würde und Alice sich nicht mehr andauernd für sie entschuldigen musste.
Alice hatte auch Dr. van Stratten im Visier. Er war ein gut aussehender Mann, keine Frage, groß und schlank, mit einer aufrechten Haltung. Und in seinem Gesicht, das Tommy sehr ähnlich war, spiegelte sich eine Stärke und Entschlossenheit, die Tommy fehlte. Doch Alice sah auch seine andere Seite. Die kalte Art, mit der er seine wehrlose Ehefrau behandelte, die abweisende Haltung gegenüber seinem sensiblen, nervösen Sohn, die Mischung aus Unterwürfigkeit und Verachtung, mit der er seine ehemaligen Patienten behandelte – viele von ihnen waren Gäste der Gedenkfeier –, als sie ihm ihr Beileid als Vater des ehemaligen Freundes der Verstorbenen aussprechen wollten. Und Alice spürte sein Bedürfnis, alles zu dominieren, jede Situation zu kontrollieren, jeden einzuschüchtern und zu tyrannisieren. Sie hätte ihn gern im Gespräch mit Richard beobachtet, um eine Ahnung davon zu bekommen, welche Dynamik zwischen ihnen herrschte, wie die Dinge zwischen ihnen standen, aber das war leider nicht möglich, nachdem Richard so früh gegangen war.
Trotzdem war Alice froh, dass Maggie und Richard zum Krankenhaus gefahren waren. Dort wurde seine Hand wenigstens wieder zusammengeflickt und er konnte so gut wie neu nach Hause zurückkehren. Sie wollte unbedingt, dass er gesund war und bei vollen Kräften, wenn sie ihn auffliegen ließ. Wenn sie ihn und Dr. van Stratten entlarvte, diese zwei mächtigen Männer, die Jagd auf schutzlose Frauen machten: Martha, die an einer tödlichen Krankheit litt; Camilla, die von ihrem perfektionistischen Vater dazu getrieben worden war, sich innerlich zu zerreißen, zwei Identitäten aufgebaut hatte, um zu überleben; Mrs van Stratten, die nur noch eine traumatisierte Hülle ihrer selbst war, das Opfer eines Tyrannen; und Maggie, die auf eine andere Art zu einer Hülle ihrer selbst geworden war, weil sie ihre eigene Identität für ihren neuen Ehemann völlig aufgab.
Die beiden Männer vergriffen sich auch an schutzlosen männlichen Personen. Zumindest an einer. Wenn Alice sich gegen Dr. van Stratten stellte, rächte sie sich auch für Tommy, der von seinen Schuldgefühlen verzehrt wurde, weil er seinen Vater auf Camillas Fährte geführt und dadurch ungewollt zum Gehilfen ihres Mörders geworden war.
Aber die Zeit der Jagd war vorbei. Die Schwachen und Hilflosen durften keine Beute mehr für sie sein. Bald würden sie am eigenen Leib erfahren, was es hieß, gejagt und zerstört zu werden, anstatt selbst zu zerstören. Bald würden sie zum Opfer einer bösartigen Macht, einer Macht, die sie vernichten, ihnen Angst einjagen, sie verletzen würde. Sie sollten leiden und schluchzen und um Gnade flehen. Bald würden sie sich selbst zum Opfer fallen.
Bis zum bitteren Ende.