Alice konnte das Blut aus fast einhundert Metern Entfernung riechen. Der Geruch hing süßlich, schwer und leicht faulig in der Luft. Über die grölende Menge hinweg hörte sie das Meer rauschen, hörte den harten Aufprall einer Faust, die ein Gesicht traf, Knochen, die auf Knochen prallten, ein Knie, das dumpf in die Magengegend oder die Rippen gerammt wurde, einen Körper, der in sich zusammensackte. In der Ferne heulte eine Polizeisirene auf, erst leise, dann immer lauter.
Es war unerträglich.
Noch nie zuvor hatte sich Alice so einsam gefühlt. Sie wusste, dass es seltsam war – mehr als seltsam, eigentlich fast krank –, einem toten Mädchen die Schuld an ihren Problemen zu geben, aber sie konnte nicht anders. Es war alles Camillas Schuld. Camilla, die nicht mehr lebte, aber trotzdem so allgegenwärtig und mächtig war. Camilla, die Beziehungen zerstören konnte, obwohl sie nicht mehr am Leben war. Einfach so, ohne jede Anstrengung. Ein Geist, der seine Opfer verhöhnte und verfolgte. Und in diesem Moment hörte Alice noch etwas: das hohe, silberhelle Klimpern. Es hätte das Windspiel über der Glasschiebetür sein können, das sich in der Meeresbrise bewegte. Aber Alice wusste, dass es nicht das Windspiel war. Es war Camilla, die aus dem Jenseits, aus der Tiefe des Grabes über sie lachte.
Alice kletterte die Düne hinauf, Angst durchströmte sie und trieb sie vorwärts. Niemand sollte erfahren, wo sie gewesen war oder mit wem. Doch je schneller sie versuchte voranzukommen, desto langsamer wurde sie. Ihre Absätze versanken im Sand, ihre Beine wurden schwer wie Blei. Wie in einem Albtraum taumelte sie seltsam schwerfällig weiter.
»Aufhören!«, wollte sie rufen, aber kein Wort kam ihr über die Lippen. Ihre Kehle war wie zugeschnürt.
Als sie endlich den oberen Rand der Düne erreicht hatte, sah sie statt einer ausgelassenen Party ein unvorstellbares Chaos vor sich: Abgefüllt mit Bier standen grölende Jungen und Mädchen im Kreis, rempelten sich an und stießen jedes Mal aufgeregte Schreie aus, wenn ein Schlag landete oder Blut floss. Sie wirkten wohlhabend, aber auch erbarmungs- und hemmungslos. Ihre Gesichter glänzten vom Schweiß, ihre Lippen waren mit Speichel benetzt, ihre perfekten Zähne blitzten. In ihrer Mitte: Tommy und Patrick.
Sie prügelten sich immer noch, aber ihre Schläge verloren langsam an Kraft, ihre Bewegungen wurden nachlässiger, immer schwerfälliger und willkürlicher. Selbst wenn sie sich scheinbar nach wie vor gegenseitig töten wollten, sah es nicht so aus, als wären sie noch in der körperlichen Verfassung dazu. Ihre Knöchel waren aufgesprungen und bluteten, ihre Beine zitterten, die Knie knickten fast ein. Ihre Hemden waren zerrissen – an Patricks fehlte ein Knopf, der rechte Ärmel hing nur noch an einem Faden. Und ihre Gesichter – sie waren fast bis zur Unkenntlichkeit entstellt.
Alice war entsetzt, als sie sah, wie die beiden sich gegenseitig zugerichtet hatten. Gleichzeitig war sie erleichtert. Obwohl sie selbst ursprünglich der Grund für das Blutvergießen gewesen war, war sie längst zur Nebensache geworden. Jetzt ging es nur noch darum, Männlichkeit zu beweisen. Oder, wie ihre Schwester Charlie es ausgedrückt hätte, zu zeigen, wer den größeren Schwanz hatte. So hatte auch niemand ihre Abwesenheit bemerkt. Vor der Prügelei waren die Jungs viel zu sehr damit beschäftigt gewesen, sich zu beschimpfen und zu schubsen. Und nach dem Kampf würden sie viel zu sehr damit beschäftigt sein, ihre Wunden zu lecken und sich ihre Schmerzen nicht anmerken zu lassen, als dass sie Fragen stellen würden. Sie war fein raus.
Alice wandte sich ab und hielt nach Charlie Ausschau. Plötzlich bebte die Luft von einer neuen Attacke. Die Menge explodierte und begann wieder zu grölen. Alice drehte sich zurück. Jude und Stan hatten sich neben Tommy und Patrick ebenfalls in eine Schlägerei gestürzt und wälzten sich im Sand.
Was ist nur in die Jungs gefahren?, fragte sie sich. War das Bier mit Testosteron versetzt? In diesem Moment traf ein besonders brutaler Kinnhaken von Stan Judes Kiefer, sodass Alice unwillkürlich zusammenzuckte und den Kopf einzog.
Da entdeckte sie Charlie, die ein paar Meter entfernt auf der anderen Seite der Menge stand, mit einem Buch in der Hand und vor Schreck weit aufgerissenen Augen.
»Charlie!«, wollte Alice rufen, aber ihre Stimme versagte erneut.
Sie drängte sich durch die tobende Masse, die sie von ihrer Schwester trennte. Als Alice sich endlich zu ihr durchgekämpft hatte, wäre ihr Charlies vom Küssen verwischter Lippenstift, der nur noch in den Mundwinkeln zu erkennen war, fast entgangen.
Aber nur fast.
Und für den verwischten Lippenstift waren weder Jude noch Stan verantwortlich, da war sich Alice sicher. Sie hatte die beiden Jungs und Charlie die ganze Nacht beobachtet, jede ihrer Bewegungen verfolgt. Und sie hatte Charlie nur ein einziges Mal aus den Augen verloren, Jude oder Stan währenddessen aber nicht.
Hm, dachte Alice, als die Polizei auftauchte, am Strand ausschwärmte und die Raufbolde auseinanderzerrte. Es sieht so aus, als wäre ich nicht die Einzige, die sich hinter dem Rücken des Freundes mit einem anderen Typen davonschleicht.
Seit sie nach Serenity Point gezogen waren, hatte Charlie gelernt, ihre Geheimnisse gut zu bewahren. Sehr gut sogar.
Aber nicht gut genug, als dass Alice sie nicht hätte aufdecken können.