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Alice stand vor Charlies Zimmer. Ihr lag das Tut mir leid schon auf den Lippen, sie musste es nur noch aussprechen. Natürlich erwartete sie nicht, dass eine einfache Entschuldigung alles wieder in Ordnung brachte. Der Schaden, den sie angerichtet hatte, war einfach zu groß. Wie hatte sie sich nur so mit ihrer Schwester streiten können, so heftig, so kaltblütig, ohne auch nur im Geringsten nachzugeben? Wenn sich jemand ein Fehlverhalten eingestehen musste, dann sie.

Kurz bevor sie auf Charlie losgegangen war, hatte sie von ihrer Mutter erfahren, dass Phil – der Mann, der sie großgezogen hatte, seit sie ein Baby gewesen war – nicht ihr Vater war. Stattdessen war Richard ihr Vater – der Mann, den Maggie kürzlich geheiratet hatte und den Alice weder mochte noch verstand, und dem sie vor allem nicht vertraute. Damit war Camilla, ihre tote Stiefschwester, die sie nie kennengelernt hatte, in Wirklichkeit ihre tote Halbschwester. Drei Schläge in rascher Folge und jeder einzelne hatte sie schwer getroffen.

Trotzdem. Das war keine Entschuldigung.

Sie schämte sich tief für die Worte, die sie Charlie an den Kopf geworfen hatte. Und in einem Anfall von Panik wurde ihr klar, dass sie Charlie nicht gegenübertreten konnte. Nicht jetzt, noch nicht. Sie musste erst etwas Zeit verstreichen lassen, damit sich die Wogen wieder glätten konnten.

Alice wollte gerade den Türknauf loslassen und sich davonschleichen, um sich irgendwo im Haus zu verkriechen, als sie Geräusche aus Maggies und Richards Schlafzimmer hörte. Rasch änderte sie ihren Plan, drehte den Knauf und schlüpfte durch die Tür.

Charlie lag wie ein Seestern mit ausgestreckten Armen und Beinen auf dem Bett, die Decke war an das Fußende gestrampelt. Sie trug ein knappes T-Shirt und ein noch knapperes Höschen, ihr Lidschatten war verschmiert und ein Arm hing über den Rand der Matratze. Ein Bikini und eine abgeschnittene Jeans lagen am Boden verstreut.

Alice ging zu ihrer Schwester und setzte sich an die Bettkante. Charlie murmelte im Schlaf und rollte sich vom Bauch auf die Seite. Dabei rutschte ihr T-Shirt hoch und enthüllte das Engelsflügeltattoo auf ihrer Hüfte. Oder besser gesagt das Pflaster, mit dem das Tattoo überklebt war.

Als Alice dieses Pflaster das letzte Mal gesehen hatte, hatte es sich von ihr weg- und nicht zu ihr hinbewegt.

Gestern. Am späten Vormittag. Alice hatte ihre Mutter gerade im Garten stehen lassen, war um das Haus herumgerannt und die Treppe zur Veranda hinaufgeeilt. Sie war völlig aufgewühlt und durcheinander gewesen. Wie hatte ihre Mutter es nur fertiggebracht, sie so lange zu belügen – sie alle zu belügen – in einer so wichtigen Angelegenheit? Diese verzweifelte Frage ging Alice in einer Endlosschleife durch den Kopf. Wie konnte sie nur? Immer und immer wieder spulte sie die Worte ab, bis sie ineinander verschwammen, zu einem leeren Rauschen wurden und bedeutungslos in ihrem Inneren widerhallten. Wiekonntesienurwiekonntesienur …

Oben auf der Treppe wäre Alice fast mit Charlie zusammengestoßen. Sie war noch nie zuvor so froh darüber gewesen, jemanden zu sehen. Charlie, mit ihrer offenherzigen, direkten Art, die viel zu ungeduldig war, als dass sie sich die Mühe gemacht hätte, jemanden hinters Licht zu führen. Und zu ehrlich.

Aber die Freude hatte nicht lang gehalten. Sie war augenblicklich verschwunden, als Alice merkte, dass Charlie seltsam nervös wirkte, was deutlich an ihrem unruhigen Blick und den zappeligen Händen zu erkennen war. Und Alice wusste genau, was los war. Charlie verheimlichte etwas. Oder besser jemanden – Jude, genauso verrucht und selbstzerstörerisch wie reich und gut aussehend.

Als Alice klar geworden war, dass Charlie sie bezüglich ihrer Beziehung zu Jude belogen hatte, sich davongeschlichen hatte, um sich mit ihm zu treffen – sich genau in dieser Minute wieder seinetwegen davonschleichen wollte –, war die ganze Wut über ihre Mutter, die sie bis jetzt unter Kontrolle gehalten hatte, plötzlich aus ihr herausgebrochen.

»Du bist erbärmlich«, hatte sie zu ihrer Schwester gesagt und es sofort bereut. Nie würde sie Charlies Gesichtsausdruck vergessen – fassungslos, mit vor Überraschung und Schmerz offenem Mund. Sie würde auch nicht vergessen, was Charlie darauf erwidert hatte, was sie ihr vorgeworfen hatte – dass sie in der Vergangenheit lebte, eine Eigenbrötlerin und Spinnerin sei und, was sie am meisten verletzt hatte, dass sie eifersüchtig sei. Und Alice hatte sich nicht verteidigen können, weil sie ihr Verhalten nicht erklären konnte. Wenn sie ihr die Wahrheit gesagt hätte, wäre Charlie am Boden zerstört gewesen. Charlie wollte so sehr ein Teil dieser neuen Familie sein, der Flood-Familie. Es hätte sie zugrunde gerichtet, zu erfahren, dass sie die einzige echte Flaherty unter ihnen war.

Charlie war vor Alice weggerannt, direkt zu Jude und Cybill – Judes Cousine, die mal abweisend und kühl war und dann wieder so innig und herzlich, wie man es nur sein konnte. Zusammen hatten die drei sich unten am Privatstrand getroffen, um Sonne und Gin zu tanken. Der Anblick war für Alice wie ein Schlag in die Magengrube gewesen. Mit Charlie in der Mitte waren sie davongegangen. Zuerst hatte Jude von der einen Seite den Arm um Charlies schlanke Taille gelegt, dann Cybill von der anderen. Die überkreuzten Arme hatten das Pflaster verdeckt, unter dem Charlies Tattoo verborgen war.

Jetzt bewegte sich Charlie wieder neben ihr – wahrscheinlich träumte sie – und rollte sich von der Seite auf den Rücken, ihr Arm fiel in Alices Schoß.

Während sie auf die blasse Unterseite des sonnengebräunten Arms blickte, auf die zarten blauen Venen, spürte Alice erneut einen Schlag in die Magengrube. Ihr wurde zum zweiten Mal an diesem Morgen bewusst, dass sie für diese Bühne nicht geschaffen war. Sie erkannte ihr Leben kaum wieder: Das Umfeld, die Umstände, die Akteure hatten gewechselt, fast alles, was sie für wahr gehalten hatte, hatte sich als falsch erwiesen. Sogar ihre Gesichtszüge schienen sich verändert zu haben, waren weniger ihren eigenen, als denen der Floods ähnlich. Charlie war die einzige Konstante. Und plötzlich begriff Alice, dass es nur eins gab, was noch schlimmer für sie wäre, als Charlie zu verletzen – von Charlie zurückgewiesen zu werden.

Während der letzten drei Wochen, seit sie aus der gemieteten, baufälligen Doppelhaushälfte in Cambridge, in der sie ihr ganzes bisheriges Leben verbracht hatten, in diese piekfeine Villa in der piekfeinsten Stadt Connecticuts umgezogen waren, war die Beziehung zu ihrer Schwester angespannt gewesen. Alice befürchtete, dass das starke Band zwischen ihnen nur noch aus ein paar dünnen Fäden bestand. Was, wenn Charlie von dem fehlenden Kapitel in ihrer Familienvergangenheit erfuhr und das Band dadurch endgültig zerriss? Wenn Charlie beschloss, dass sie genug hatte und sich abwandte, hätte Alice niemanden mehr.

Vorsichtig hob Alice Charlies Arm und legte ihn auf das Kissen. Dann schlich sie auf Zehenspitzen zur Tür. Sie wollte gerade nach dem Türknauf greifen, als Charlie mit verschlafener Stimme murmelte: »Allie?«

Alice blieb stehen und drehte sich um. Zuerst machte ihr Herz einen hoffnungsvollen Sprung, weil Charlie froh wirkte, sie zu sehen. Doch dann blitzte die Erinnerung an den Streit in Charlies perlgrauen Augen auf und ihr hübsches, vom Schlaf zerknittertes Gesicht verfinsterte sich.

Alice zwang sich zu einem Lächeln. »Guten Morgen, Charlie«, sagte sie.

Charlie warf ihr einen bitteren Blick zu. »Du bringst mir hoffentlich das Frühstück auf einem Silbertablett, denn das wäre der einzige Grund, warum du hier sein darfst.«

»Wie wäre es mit einer Entschuldigung auf dem Silbertablett?«

Statt einer Antwort drehte sich Charlie auf die Seite.

»Komm schon«, sagte Alice. »Willst du keine Entschuldigung?«

»Nicht wirklich.«

Alice seufzte. »Egal, du bekommst sie trotzdem. Es tut mir leid. Wegen gestern. Was ich gesagt habe.«

»Na klar.«

»Es tut mir wirklich leid. Sehr sogar.«

Charlie drehte sich wieder um. »Ach ja?« Ihre Stimme klang zweifelnd.

»Ehrlich.« Alice lehnte sich vor und umarmte ihre Schwester. Zuerst versteifte sich Charlie in ihren Armen, aber allmählich entkrampfte sich ihr Körper und sie erwiderte die Umarmung.

»Es tut mir auch leid«, sagte Charlie. Sie lehnte sich etwas zurück, damit sie Alice ansehen konnte. Ihre Augen glänzten. »Oh Allie, du würdest Jude mögen, wenn du ihm nur eine Chance geben würdest. Er ist anders, als du denkst. Er ist anders, als alle denken.«

Alice senkte den Blick und schüttelte den Kopf. »Nein, es tut mir nicht leid, was ich über Jude gesagt habe, sondern was ich über dich gesagt habe.«

»Und ich dachte tatsächlich, du wolltest nett sein.« Charlie klang enttäuscht.

»Ich bin doch nett.« Alice lächelte Charlie zaghaft an, doch Charlie starrte nur mit versteinerter Miene zurück.

»Ich glaube einfach nicht, dass Jude ein guter Mensch ist. Das ist alles«, sagte Alice leise.

»Ach ja? Das ist alles? Und gibt es irgendeinen Grund, warum du das glaubst?«

Alice hatte tatsächlich einen Grund. Tommy, Camillas Ex-Freund und aktuell Alices (wenn auch nicht offizieller) Freund, hatte ihr erzählt, dass Camilla ihn mit Jude betrogen hatte, bevor sie sich vor fast einem Jahr in ihrem Wagen von der Greeves Bridge gestürzt hatte. Nachdem sie und Tommy Schluss gemacht hatten, war sie weiter mit Jude zusammen gewesen. Sie war verzweifelt gewesen, weil ihre Mutter an Brustkrebs gestorben war, rutschte immer weiter in einen Sumpf aus Drogen ab und gab sich einem ausschweifenden, verdorbenen Lebensstil hin. Tommy gab Jude die Schuld an Camillas Absturz, denn er hätte sie dazu angestiftet und die ganze Zeit dabei unterstützt. Aber Alice konnte diese Informationen nicht mit Charlie teilen, weil Tommy sie gebeten hatte, alles für sich zu behalten. Also zuckte sie nur mit den Schultern. »Nenn es Intuition.«

»Weißt du, wie ich es nenne? Blödsinn! Du bist so durchschaubar, Allie.«

»Was willst du damit sagen?«

»Zuerst war Richard der Böse. Und jetzt ist es Jude.«

Alice zuckte zusammen. Eine Zeit lang hatte sie tatsächlich ihrem Stiefvater die Schuld an allem gegeben, was in ihrem Leben schieflief. Und Charlie wusste nicht einmal, wie weit Alices Misstrauen gegenüber Richard gegangen war. Es war noch nicht lange her, da hatte sie ihn verdächtigt, ein falsches Spiel mit seiner ersten Frau Martha getrieben zu haben. Sie hatte geglaubt, dass er bei ihrem Tod durch den Krebs irgendwie nachgeholfen hatte. Wie genau hatte sie sich das vorgestellt? Indem er Marthas Medikamente manipuliert hatte? Indem er ihren Infusionsschlauch herausgezogen hatte? Indem er ein Kissen auf ihr Gesicht gedrückt hatte? Das klang plötzlich alles so absurd, konstruiert und an den Haaren herbeigezogen. Wie eine dieser britischen Krimiserien, die sie sich manchmal mit ihrer Mutter im Fernsehen ansah. Wie ein Fall, den der pummelige Kerl mit dem Schnurrbart und dem Pepe-das-Stinktier-Akzent lösen muss. Alice hatte ihren Verdacht sogar Maggie anvertraut und wäre dafür fast ausgelacht worden. »Ach, Schätzchen«, hatte Maggie gesagt und ungläubig gekichert, »Richard kann noch nicht mal eine Spinne in der Toilette runterspülen.«

»Charlie«, begann Alice, »ich wollte nicht …«

Aber Charlie hob nur abwehrend die Hand. »Ich glaube, wir brauchen etwas Abstand voneinander. Und ich meine nicht, dass ich dich ignorieren werde oder mit Schweigen strafe oder so etwas Kindisches. Wir sollten uns einfach eine Weile aus dem Weg gehen, okay? Du machst dein Ding und ich meins.«

An Charlies Tonfall und dem ernsten Gesichtsausdruck erkannte Alice, dass die Entscheidung ihrer Schwester feststand und es zwecklos war, weiter darüber zu diskutieren. Sie drückte Charlies Hand und erhob sich vom Bett.

Als sie das Zimmer ihrer Schwester verließ, kam ihr unwillkürlich ihre andere Schwester in den Sinn. Ihr gingen dieselben Gedanken durch den Kopf wie gestern, als sie zugesehen hatte, wie Charlie mit Jude und Cybill am Strand verschwand: dass Camilla – eine Selbstmörderin, eine Tote, ein Geist! – sie hereingelegt hatte.

Camilla hatte gewollt, dass Alice sich mit Charlie stritt, hatte gewollt, dass sich Alice und Charlie entfremdeten, hatte gewollt, dass Alice niemanden mehr hatte außer Camilla.

Und Alice hatte ihr direkt in die Hände gespielt.

Als Alice in den Flur trat, stand sie plötzlich ihrer Mutter gegenüber. Sie war noch im Nachthemd, ein älteres Teil aus ihrer Zeit in Cambridge, das Alice schon lange nicht mehr an ihr gesehen hatte. Es war aus dünner, im Laufe der Jahre schon ziemlich verschlissener Baumwolle, mit kleinen gelben und pinken Blüten bedruckt, und hatte nichts mit diesen hauchfeinen, kurzen, sexy Filmluder-Negligés gemeinsam, die sie trug, seit sie und Richard das Bett teilten.

Maggies Blick war auf die nun geschlossene Tür zu Charlies Zimmer gerichtet. Nicht zum ersten Mal bemerkte Alice, wie ähnlich ihre Mutter und ihre Schwester sich waren: graue Augen, das Haar so dunkel, geschmeidig und glänzend, dass man sich praktisch darin spiegeln konnte, nicht zu groß, eine athletische Figur mit reichlich Kurven, wie Männer es mochten.

Maggies Augen wirkten müde und besorgt, und Alice wurde sofort von Mitgefühl ergriffen. Schnell wandte sie den Blick ab, damit das Gefühl nicht noch stärker wurde.

Ihre Mutter verdiente ihr Mitgefühl nicht, ermahnte sie sich. Ihre Mutter verdiente das Gegenteil. Als sie sich wieder gefangen und innerlich gewappnet hatte, sah sie Maggie wieder an. »Schlechte Nacht?«, fragte sie und verzog die Lippen zu einem spöttischen Grinsen.

Maggie schien verwirrt. »Was?«

»Du hast Augenringe, Mom. Du solltest Richard bitten, es etwas ruhiger angehen zu lassen. Du bist kein Teenager mehr. Du kannst nicht jede Nacht durchmachen. Nicht, ohne dass Spuren zurückbleiben.«

Alice war bestürzt, dass sie so mit ihrer Mutter sprach. Das hatte sie noch nie gewagt und sie hoffte fast, dass Maggie sie zur Räson brachte – sie anschrie, ohrfeigte, irgendetwas –, aber Maggie rührte sich nicht. Sie sah nur verletzt aus. Sie hatte ihre ganze moralische Autorität eingebüßt, als sie Alice die Wahrheit über ihre Beziehung zu Richard gesagt hatte: eine Affäre, die vor achtzehn Jahren begonnen hatte, vor zwei Jahren fortgesetzt worden war und nicht nur einen Verrat an Alices und Charlies Dad – eigentlich nur Charlies Dad –, sondern auch an Camillas Mutter bedeutete, die auch noch während dieser Zeit gestorben war. Ethisch gesehen hatte Maggie keine guten Karten. Sie wusste es und Alice wusste es.

Unten wurde eine Tür geöffnet und wieder geschlossen. Das war bestimmt Luz, ihre Köchin, oder Fernanda, das Dienstmädchen. Maggie zog Alice in einen kleinen Winkel hinter dem Treppenaufgang und damit außer Hörweite. »Hast du es ihr erzählt?«, fragte sie ängstlich.

Mit ihr meinte sie Charlie. Nach der kleinen Szene gestern hatte Maggie Alice gebeten, Charlie nichts von Richard zu erzählen, weil sie das selbst übernehmen wollte. Alice hatte ihre Bitte abgelehnt, weil sie es ihrer Schwester hatte sagen wollen. Jetzt sah es so aus, als würde sich Maggies Wunsch doch noch erfüllen, denn wie sich herausgestellt hatte, war Alice für die Drecksarbeit zu feige. Aber das würde sie natürlich nicht zugeben.

»Hast du es ihm erzählt?«, konterte Alice. »Weiß Richard, dass ich weiß, dass er mein …« Sie brach ab, denn sie war nicht in der Lage, das Wort Vater in Verbindung mit Richard auszusprechen.

Maggie schüttelte den Kopf.

Alice spürte eine Anspannung, der sie sich bislang nicht bewusst gewesen war. »Wirst du es ihm sagen?«, fragte sie.

»Erst wenn ich mit Charlie gesprochen habe.«

»Rede mit Charlie, wann du willst. Von mir erfahren die beiden nichts.«

Maggie atmete erleichtert auf. »Danke«, sagte sie.

Alice ärgerte sich, dass sie Maggie einen Gefallen getan hatte und dass Maggie glaubte, es wäre ihre Absicht gewesen. »Ich wollte dir keinen Gefallen tun, glaub mir. Es war nur nicht der richtige Zeitpunkt.«

»Trotzdem danke.«

»Ach ja? Dein Geheimnis ist jetzt auch meins. Du hast mich vom Opfer deiner Lügen zur Mitwisserin gemacht. Also sollte ich dir danken.«

»Alice, Liebling, ich wünschte du könntest weniger …«

»Weniger was?«

»Weniger wütend sein.«

»Ich glaube nicht, dass sich das in nächster Zeit ändern wird«, sagte Alice, aber das stimmte nicht. Es änderte sich bereits. Es berührte Alice zutiefst, wie müde Maggie aussah mit den dunklen geschwollenen Augenrändern und den tiefen Linien um ihre Mundwinkel, und wie nervös sie war. Am liebsten hätte sie ihrer Mutter den Arm um die Schulter gelegt und ihre Wange an ihr Nachthemd geschmiegt, das von unzähligen Wäschen ganz weich geworden war und nach Waschmittel duftete. Sie wäre gern nett zu ihr gewesen. Doch sie konnte nicht. Maggies Verrat war zu groß. Alice musste sie bestrafen. Nett ist nur ein anderes Wort für schwach, sagte sie zu sich selbst. Aber indem sie Maggie bestrafte, bestrafte sie in Wahrheit auch sich selbst.

Maggies Blick wanderte wieder zu Charlies Zimmertür.

»Worauf wartest du noch?«, fragte Alice. »Wolltest du es ihr nicht unbedingt erzählen? Jetzt hast du deine Chance.«

»Ich denke, ich werde noch ein bisschen warten. Ich brauche noch etwas Zeit, um mir zu überlegen, wie ich es ihr am besten sage. Macht dir das was aus?«

Alice zuckte mit den Schultern. »Du hast uns unser ganzes Leben lang angelogen. Was sind da schon ein paar Tage?« Sie schob sich an Maggie vorbei. »Ich ziehe mich vor dem Frühstück noch um. Wir sehen uns unten. Und keine Sorge, ich bin sicher, dass ich deine Fähigkeiten im Schauspielern und Lügen geerbt habe. Niemand wird erfahren, dass etwas nicht stimmt. Versprochen.«

Alice lief absichtlich langsam den Flur hinunter. Sie wusste, dass Maggie ihr hinterherschaute. Doch als sie in ihrem Zimmer war, schloss sie die Tür so schnell wie möglich hinter sich, damit sie Maggies verletztes und bestürztes Gesicht nicht sehen musste.

Sie sah es trotzdem – wenn auch nur einen flüchtigen Augenblick lang – und der Anblick versetzte ihr einen so heftigen Stich, dass es ihr fast den Atem nahm.