Vicky
E
s waren beinahe zwei Wochen vergangen und heute war der erste Tag, an dem ich mich wieder ins Büro wagte. Obwohl mich die Mitarbeiter mieden und Telefonate nicht zu mir durchstellten, genoss ich es, etwas anderes zu sehen. Ich wollte mich ablenken, nicht ständig an Robert denken und an all die Dinge, die ich jetzt organisieren musste. Anwalt, neue Wohnung oder wenigstens sollte ich in ein Hotel ziehen. Ich wusste, dass Christian mir niemals Vorwürfe machte, dennoch konnte ich seine Gastfreundschaft nicht weiterhin ausnutzen. Er schlief jede Nacht auf dem Sofa und ich hatte keinen Raum, um zu trauern.
Entschlossen lief ich zu seinem Büro, blieb im Türrahmen stehen, als ich sah, dass er telefonierte. Mit einer Geste bat er mich, Platz zu nehmen, und ich schloss hinter mir die Tür. Was ich mit ihm zu besprechen hatte, brauchte niemand mitbekommen.
Er beendete das Gespräch und sah mich grinsend an. »Und? Ist dir schon alles zu viel?«
»Im Gegenteil. Ich genieße es, obwohl ich nur die Light-Version bekomme. Danke dafür.«
»Ich weiß nicht, wovon du sprichst.« Christian lehnte sich zurück und musterte mich.
Schwer seufzend schlug ich die Beine übereinander, strich den Rock glatt und sah ihm in die Augen. »Ich ziehe ins Hotel, bis ich eine Wohnung finde.« Missbilligend zogen sich seine Augenbrauen zusammen. »Ich schaue mich in den kommenden Tagen nach einer Bleibe um. Es wäre schön, wenn du mir bei der Suche helfen könntest. Dafür beanspruche ich deine Zeit genug. Du nächtigst auf der Couch und ich in deinem Bett. Das geht auf Dauer nicht so weiter. Ich kann dir nicht den Schlaf rauben und dir zusätzlich noch die komplette Arbeit unseres Unternehmens aufbürden, wenn ich dich auch in deiner Freizeit völlig einnehme.«
»Lass uns einen Kompromiss schließen. Ich helfe dir, dein eigenes Reich zu finden und einzurichten. Aber du gehst nicht in ein Hotel, das erscheint mir falsch.«
»Auf dem Sofa bekommst du nur eine verkrampfte Muskulatur.«
»Damit komme ich schon zurecht, mach dir darum keine Sorgen.«
»Wenn ich nicht in ein Hotel soll, dann lass mich wenigstens im Wohnzimmer pennen.«
Er rümpfte die Nase. »Das wird ziemlich eng auf der Couch.«
Ich lachte auf. »Du schläfst natürlich im Bett.«
»Abwarten«, wiegelte er jeden weiteren Einwand ab. »Heute Abend bringe ich übrigens thailändisches Essen mit.«
Ich hob überrascht die Augenbrauen.
»Dabei schauen wir uns Actionfilme an. Ich habe bereits drei rausgesucht, zwischen denen du wählen kannst.«
Verwirrt schüttelte ich den Kopf. »Wieso?«
»Erstens macht es Spaß und zweitens ist es Teil deiner Aufgabe.«
»Was meinst du?«
»Diese Woche finden wir heraus, welche Filme du magst und welches Essen du bevorzugst.«
»Christian, ich leide nicht an Amnesie.«
Er lachte auf. »Das ist mir durchaus bewusst.«
»Was soll das dann?«
»Letztens sagtest du mir, dass du nicht mehr weißt, wer du eigentlich bist. Ich habe dir versprochen, dass wir das gemeinsam herausfinden. Und das ist der erste Teil davon.«
»Aber dass ich Thai-Curry mag, weiß ich bereits. Was hat das jetzt damit zu tun?«
»Vertrau mir. In den nächsten Wochen bekommst du Aufgaben, die du beantworten oder tun musst.«
»Ganz sicher mache ich nichts, was ich nicht möchte.«
»Denkst du wirklich, dass ich dir so etwas vorschreibe? Natürlich hast du immer die Wahl. Sieh es doch einfach als Chance, Zeit mit dir selbst zu verbringen und dich mit dir zu beschäftigen. Zum Bonus bekommst du auch noch das großzügige Geschenk meiner Anwesenheit.« Er sah mich selbstgefällig an.
»Christian …« Er hob einen Finger und sah ermahnend in meine Richtung, sodass ich verstummte.
»Sag jetzt nicht, dass du meine Zeit schon zu sehr beanspruchst. Das will ich echt nicht hören.«
»Du bist kindisch.«
»Und du blöd.«
Wir funkelten uns einen Moment lang an, ehe wir gleichzeitig loslachten.
»Okay, heute also Thai und Actionfilme.«
Christian nickte wie ein Elternteil, das erleichtert feststellte, dass das störrische Kind Einsicht zeigte. »Genau. Morgen gibt es Komödien und Italienisch. Mittwoch Dramen und Kroatisch.«
»Bekomme ich eine Karte?«
»Was? Nein. Ich bestelle eine Auswahl, damit du deine Entscheidungen nicht aufgrund alter Gewohnheiten fällst.«
»Wirfst du mir gerade durch die Blume vor, dass ich ein Gewohnheitstier bin?«
»Ein Vorwurf war es nicht, lediglich eine Feststellung.«
Ich starrte ihn fassungslos an. »Ist das auch ein Teil deiner merkwürdigen Methode?«
»Wie meinst du das?«
»Na, mir meine Eigenschaften einfach unter die Nase zu reiben.«
»Nicht wirklich. Ich weiß, wer und wie du bist. Ich möchte dir nur helfen, dich wieder selbst zu finden.«
Seine Worte schmerzten, obwohl er sie sanft und fürsorglich aussprach. Mich verletzte auch nicht, wie er es sagte, vielmehr was es war.
»Woher willst du wissen, wie ich wirklich bin, wenn ich es vergessen habe?«, bohrte ich weiter, nachdem ich die Tatsache selbst erkannte.
Er lachte leise. »Da ich manchmal das Gefühl bekomme, dich besser als mich selbst zu kennen.«
Wir sahen uns einen Moment in die Augen und Dankbarkeit wärmte mein Herz. »Ach so ist das. Du veranstaltest die ganzen Tests, weil du mehr über dich erfahren möchtest.«
Er starrte mich einen Moment an und für einen Wimpernschlag hatte ich den Eindruck, dass er enttäuscht wäre. Allerdings versteckte er diese Regung schnell hinter einer zerknirscht dreinblickenden Mimik. »Ertappt. Also, heute und jeden weiteren Abend bei mir?«
»Gerne«, bestätigte ich flüsternd, nickte ihm mit dankbarem Blick zu, ehe ich aus dem Büro flüchtete.
Wieder an meinem eigenen Schreibtisch angekommen, startete ich im Internet die Suche nach einem geeigneten Anwalt. Die Entscheidung traf ich aus einem Impuls heraus, ohne zu recherchieren, ob es die Richtige war. Einen Termin bekam ich Ende der Woche. Mit zitternden Händen und geschlossenen Augen beendete ich das Telefonat.
Der nächste Punkt auf meiner Liste war die Suche nach einer neuen Bleibe.
Man sollte denken, dass ich als Architektin brauchbare Makler kannte, allerdings fiel mir keiner ein. Aber was sollte ich ihm oder ihr überhaupt sagen? Was wollte ich? Wohnung oder bevorzugte ich ein Haus? Vorort oder Innenstadt? Miete oder konnte ich direkt wieder etwas kaufen? Und wo lag mein Preisrahmen?
All die Überlegungen lähmten mich und trafen mich ebenso unvermittelt wie der Schmerz, der sie begleitete. Aber ich wollte mich nicht mehr auf diese Art hilflos fühlen, ich ging Probleme an und fand Lösungen, wie bei dem Entwurf für Herrn Schuber. Auch wenn es schmerzte, es half nicht, die Augen vor Schwierigkeiten zu verschließen.
Ich zog einen Block aus der Schublade und erstellte eine Pro- und Contraliste für Haus und Wohnung. Außerdem checkte ich meine finanziellen Verhältnisse, ohne die Immobilie zu berücksichtigen, in der sich all mein Hab und Gut befand.
Erst als ich mich überzeugt hatte, dass ich ein eigenes Reich mit Garten bevorzugte, das mir eine gewisse Freiheit und Altersvorsorge bot, suchte ich im Netz nach geeigneten Objekten. Jetzt deutlich zuversichtlicher, das Passende zu finden. Mit einem Lächeln schrieb ich mehrere Makler an, um sie um Exposés zu bitten.
»Ich fahre nun und hole unser Essen. Also versetz mich nicht«, riss Christian mich aus der Suche.
»Ich werde kommen und Entscheidungen treffen.«
»Das wollte ich hören.« Er zwinkerte mir zu, stieß sich vom Türrahmen ab und ließ mich allein.
Zum ersten Mal seit Tagen fühlte ich mich nicht mehr passiv. Schließlich konnte ich wieder handeln und das beschwingte mich so sehr, dass ich zum Telefon griff und Roberts Kontakt aufrief.
»Viktoria, endlich meldest du dich«, begrüßte er mich.
»Hallo Robert. Ich wollte dir nur Bescheid geben, dass ich Ende der Woche einen Termin bei meinem Anwalt habe. Allerdings bezweifle ich, dass eine Scheidung zügig vonstattengeht.« Er seufzte und vermittelte mir damit, dass es meine Schuld war. Zumindest interpretierte ich sein Verhalten auf diese Weise. »Hör zu, es gibt eben …«, ich verstummte, als ich registrierte, dass ich begann, mich zu rechtfertigen. »Diese Woche möchte ich gerne noch weitere Klamotten von mir abholen. Dabei bevorzuge ich es, wenn du mich allein lässt.«
»Das kannst du vergessen. Nachher nimmst du mehr mit, als dir zusteht.« Er lachte und Schmerz rauschte um mein Herz, schnürte es zusammen und raubte mir alle Vernunft.
»Dann verrate mir mal, was mir deiner Meinung nach zusteht.« Den Vorwurf in der Stimme konnte ich nicht unterdrücken. Die Verbitterung schwang mit. Ein solches Verhalten mochte ich nicht.
»Wir wissen beide, wer dieses Haus finanziert hat.« Enttäuschung und Wut bahnte sich ihren Weg durch meine Adern.
»Das regeln unsere Anwälte. Jedoch brauche ich weitere Kleidung, Kosmetika und auch mein Notizbuch aus dem Arbeitszimmer.«
»Ich möchte den Jaguar zurückbekommen, den ich dir geschenkt habe.«
Eilig schluckte ich die Galle herunter. »Den stelle ich in der Garage gerne für dich ab. Kann ich sonst noch etwas für dich tun? Jetzt wo du in unserem Haus wohnst und deine Geschenke zurückforderst?« Meine Stimme tropfte vor Sarkasmus.
»Den Ring meiner Mutter.«
Ich nickte mit geschlossenen Augen und fragte mich, wie ich diesen Mann jemals lieben konnte. War er schon immer schonungslos egoistisch gewesen? Warum bemerkte ich es erst jetzt? Wieso erkannte man das wahre Gesicht eines Menschen meistens, wenn es zu spät war?
»Natürlich. Den lass ich dir auch da.«
»Wann wirst du kommen?«
»In zwei Tagen am Nachmittag«, schlug ich in der Hoffnung vor, dass Robert in der Praxis mit Terminen eingebunden war.
»In Ordnung. Ich warte auf dich«, erwiderte er und ich schloss die Augen. Auch das noch …
»Bis dann«, sagte ich, ehe ich auflegte und den Kopf auf die Tischplatte sinken ließ. Dennoch verbot ich mir, abermals in Tränen auszubrechen. Heute nicht mehr, vielleicht morgen wieder …
Mit diesem Gedanken fuhr ich den Rechner herunter und machte mich auf den Weg zu meinem DVD-Abend.
Christian
»Wir müssen wirklich an deiner Stäbchen-Technik arbeiten«, sagte ich kopfschüttelnd und deutete auf Vickys merkwürdige Handstellung.
»Meine Hand ist vom Thai-Essen Anfang der Woche verkrampft. Wie lange ist das jetzt her? Vier Tage? Und wieso tut das dann noch immer weh? Warum haben sie nicht auch einfach Messer und Gabeln?«
»Und was ist der wahre Grund für deine Bockigkeit?«, fragte ich nach.
»Weil der Film doof ist.«
Ich lachte auf. »Alles klar. Das ist jetzt der zweite Film mit grenzwertigem Humor, den wir früher als sonst beenden. Wir können also festhalten, dass dir diese Richtung nicht gefällt.«
»Ehrlich, da waren mir die Horrorfilme noch lieber.«
»Du hast dich die gesamte Zeit hinter Kissen versteckt.« Ich nahm die Fernbedienung und stoppte den Film.
»Nur bei den schlimmen Szenen«, erwiderte sie mit vorwurfsvollem Blick und ich biss vom Nigiri mit Lachs ab, um nicht loszuprusten.
»Was noch?«, hakte ich kauend nach.
»Warum ich schlechte Laune habe?«
Ich brummte zustimmend und hob abwartend die Augenbrauen.
Vicky seufzte schwer und betrachtete ihre Hände, die sie massierte. Irritiert folgte ich ihrem Blick und bemerkte die Stelle, die sie immer wieder befühlte.
»Wo ist der Ring?«
»Den habe ich Robert zurückgegeben.«
Ich verschränkte die Arme vor der Brust. »Wieso?«
»Es war der Ring seiner Mutter und den brauche ich nicht mehr.«
»Also warst du bei ihm?«
»Ja.«
»Daher die schlechte Laune.«
Sie kratzte sich an der Stirn. »Tut mir leid. Ich hatte gehofft, dass ich es leichter wegstecke.«
»Entschuldige dich nicht dafür. Veränderung bringt Stimmungsschwankungen mit sich. Wir müssen verarbeiten und unser Gehirn neu programmieren.«
»Aha, hast du im Nebenfach Medizin studiert?«
Mit gespieltem Entsetzen boxte ich Vicky auf den Oberarm und stellte erleichtert fest, dass sie mit einem Lächeln darüber strich, als schmerzte es.
»Was noch?«
»Den Jaguar habe ich auch da gelassen.«
Irritiert betrachtete ich Vicky, bis mir auffiel, weshalb ihre Antwort nicht passte. »Du hast ihm dein Auto gegeben?«
Sie seufzte. »Ja, und das fiel mir schwerer, als den Ring zurückzulassen.«
Ich lachte. »Dann besorg dir ein neues.«
»Das mache ich. Auf die Schnelle habe ich mir einen Mietwagen organisiert.«
Obwohl sich das finanziell nicht rechnete, war es in der momentanen Situation wahrscheinlich am sinnvollsten.
»Halten wir einfach fest, dass der Neuanfang durchstartet. Also zurück zu unserer Mission. Was hat dir noch bei den Filmen gefallen?«
»Wo waren wir? Ach, die Horrorfilme waren weniger schlimm, als ich sie in Erinnerung hatte.«
Ich schmunzelte, weil es auf mich vielmehr gewirkt hatte, als schliefe sie die nächsten Nächte nicht mehr durch. Zumindest hatte sie die Lider hinter den Sofakissen so fest zusammengepresst und hatte sich mindestens einmal sogar die Ohren zugehalten. Daher war ich von einem ganz anderen Urteil ausgegangen.
»Sonst liegt viel am Streifen selbst. Allerdings mag ich keinen allzu flachen Humor. Und Stummfilme oder Filme mit Untertitel sind auch nicht mein Fall.«
»Ach und wenn Jason Statham oder Chris Hemsworth mitspielen, ist dir der Inhalt egal. Dann bekommst du nämlich dieses Glitzern in den Augen.«
»Als ob du bei einem netten Dekolleté die Augen schließt.« Ich grinste sie frech an und Vicky tat es mir gleich. »Allerdings sind romantische Filme und Dramen gerade nicht mein Fall. Sie berühren mich irgendwie anders – tiefer als sonst.«
»Jetzt kannst du wahrscheinlich mehr nachvollziehen, wie es sich anfühlt«, versuchte ich ihr, ihr eigenes Verhalten zu erklären. »Und beim Essen?«
»Überraschenderweise habe ich wirklich neue Dinge probiert. Ich bin davon ausgegangen, dass es nichts Besseres als mein geliebtes Thai-Curry gibt.« Sie hob einen Mundwinkel. »Du hast mir ja keine Option gelassen, auf Gewohnheiten auszuweichen.«
»Das war auch Absicht.«
»Das ist mir durchaus bewusst.«
»Manchmal muss man dich aus deinen Komfortzonen hervorlocken.«
»Und ich dachte, dass Robert mich da schon rausgeschubst hätte.«
»Willst du mir jetzt eigentlich mal erzählen, was der Rechtsanwalt gesagt hat?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Nicht viel. Wir können zwar einiges vorbereiten, aber das Trennungsjahr müssen wir wohl abwarten.«
»Das tut mir leid.«
»Das überstehe ich. Ach, das wollte ich dir noch zeigen.« Sie legte die Stäbchen auf den Tisch und erhob sich. »Anfang der Woche habe ich einige Exposés angefordert.«
Überrascht hob ich die Augenbrauen und bei dem Gedanken, dass Vicky auszog, fühlte ich mich unbehaglich. »Okay, das klingt nach einem Schritt in die richtige Richtung.«
»Ja, ich habe mir gesagt, dass es weitergehen muss. Du kannst nicht ewig auf dem Sofa schlafen.«
»Es macht mir nichts aus.«
»Wir sind erwachsen, ich heule mir nicht mehr die Augen aus. Du darfst wirklich neben mir liegen. Oder schnarchst du?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Noch hat sich niemand beschwert.«
»Bist du denn jemals lange genug geblieben, damit man dir diese Tatsache hätte vortragen können?«
»Nein.«
»Dann kann sich keiner beschweren.«
»Wie dem auch sei. Es macht mir trotzdem nichts aus, wenn ich hier schlafe.« Ich klopfte neben mich auf die Sitzfläche. Allein die Vorstellung, ganz dicht bei Vicky zu liegen, wenige Zentimeter von ihrem Körper getrennt, brachte mich durcheinander. Daran durfte ich nicht denken. Nicht, solange sie in meiner Nähe war.
»Aber mir. Hier, schau dir die mal an.« Vicky reichte mir mehrere Blätter.
Ich schaute auf das Deckblatt und sah sie überrascht an. »Ein Einfamilienhaus?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Mir ist klar geworden, dass ich mein Leben nicht einfach aufgeben sollte.«
»Aber direkt ein Haus?«
»Warum nicht? Ich habe mit Robert auch in einem gelebt. Damit erhalte ich wieder Platz, mir ein Arbeitszimmer einzurichten.«
»Das kannst du ebenso in einer Wohnung.«
»Ich wollte schon immer Kinder bekommen.« Ihr Einwand irritierte mich, weshalb ich sie abwartend ansah. »Robert hat stets gesagt, dass er keine möchte, und ich habe das nicht hinterfragt. Jetzt bin ich froh. Stell dir mal vor, die Wippende-Busen-Fee wäre die Stiefmutter von meinem Kind.«
Ich lachte auf. »Das will ich lieber nicht.«
»Im Nachhinein wundert es mich ein kleines bisschen, dass Robert keine spitzen Ohren aufgesetzt hatte. Dann wäre das kopulierende Feenpaar in die Abgründe aller Erinnerungen vorgedrungen.«
»Und jetzt nicht?«, erkundigte ich mich lachend.
»Ich hoffe einfach darauf, dass die Zeit es regelt.« Vickys Lächeln verblasste und legte den Blick auf den Schmerz frei. Diesen Anblick konnte ich kaum ertragen. Kurz dachte ich, ich spürte ihn selbst. Eilig wedelte ich mit den Blättern.
»Dann zeig mir mal, wie du es dir vorgestellt hast.«
»Mir gefallen der Umriss und die Möglichkeit, die jedes Objekt mit sich bringt. Ich bin gespannt, welches dir besonders zusagt.«
Ich betrachtete den ersten Grundriss genauer und verengte die Augen.
»Du denkst, dass es zu groß ist«, sprach sie meine Gedanken aus.
»Definitiv. Zumindest zum jetzigen Zeitpunkt.«
»Aber wenn ich einen neuen Partner finde, geht vielleicht alles ganz schnell.«
»Manche Männer mögen es nicht, dass Frauen das Geld haben und die komplette Zukunft durchplanen.«
»Hallo? Du kennst mich. Es ist nur logisch, mehr nicht. Außerdem möchte ich keinen Kerl an meiner Seite, der sich von finanzieller Unabhängigkeit abschrecken lässt. Ich verdiene nun einmal gut, damit muss er klarkommen. Wäre es für dich ein Problem, wenn deine Partnerin besser verdient als du?«
Ich verschluckte mich. »Was?«
»Hättest du ein Problem damit? Stell dir vor, wir wären ein Paar und ich verdiene erheblich mehr als du. Stört dich etwas an der Vorstellung?«
Die Annahme gefiel mir und ich grinste breit. »Im Gegenteil. Ich ließe dich arbeiten und würde mich zurücklehnen, um unser Geld zu vermehren.«
»Siehst du. Wenn es dir gleichgültig ist, dann gibt es auch andere Männer, die mit diesem Umstand klarkämen.« Die Vorstellung wiederum missfiel mir total und das Grinsen verschwand. »Kommst du mit zu den Besichtigungsterminen?«
Ich blinzelte mehrfach und riss mich zusammen. Es freute mich, dass Vicky meine Meinung bei ihrem neuen Zuhause hören wollte. Jedoch traf ich keine Entscheidung für einen potenziellen Partner. Für sie, ja. Immer. Für Robert 2.0 bestimmt nicht. »Klar, keine Frage.«
»Du kennst dich mit den Bausubstanzen am besten aus.«
Ich räusperte mich, damit ich die Enttäuschung nicht aussprach. Fips brauchte Zeit, um sich selbst zu finden, und sollte nicht auf meine Befindlichkeiten Rücksicht nehmen. Sie hatte unheimlich viel um die Ohren, da wollte ich ihr nicht auch zusetzen.
»Blättere weiter«, forderte sie und rückte näher zu mir. Ich lehnte mich zurück, blätterte und Vicky tippte auf das Papier.
»Die Fotos musst du dir anschauen.«
Ihre Finger flogen über ihr Smartphone, als ich den Umriss studierte. Die Räume und Fenster waren eindeutig kleiner geschnitten. Somit schloss ich einen Neubau aus. Wenn Vicky mir unbedingt die Bilder zeigen wollte, war es vermutlich wunderschön angelegt. Das Display des Telefons schob sich in mein Blickfeld und ich griff danach. Überrascht hob ich die Augenbrauen und wischte durch die Fotos, ehe ich Vicky ungläubig anschaute.
»Das gefällt dir?«
Sie nickte. »Es ist der Hammer.«
»Okay, dann brauche ich wahrscheinlich die anderen Umrisse gar nicht mehr studieren, oder? Deine Entscheidung liegt bei diesem hier.«
»Ja, aber das bedeutet ja nicht, dass ich es kaufe. Morgen wäre der Besichtigungstermin bei dem ersten Objekt. Mittwoch der von dem hier.«
Ich nickte, das konnte ich einrichten. »Die Häuser sind sehr unterschiedlich. Hast du von dem vorigen auch Fotos?«
»Nein, es wird noch gebaut.« Ich verzog den Mund. »Ja, ich weiß, dann hätte ich es selbst entwerfen können. Aber das dauert mir zu lange. Außerdem hast du doch das Schmuckstück gesehen.«
»Ja, ich frage mich jedoch, ob es das ist, was du langfristig möchtest. Sieh über den Tellerrand hinweg. Das Haus ist schön, allerdings in die Jahre gekommen.«
»Der Garten …«
»Pflanzen wachsen schnell, aber aus kleinen Fenstern große zu machen, kostet Geld und Zeit. Außerdem zerstört es den Flair des Objektes.«
»Dir gefällt es nicht?« Vicky klang enttäuscht und ich ergriff ihre Hand.
»Erstens muss es dir gefallen, nicht mir. Und direkt ein Kaufobjekt? Vielleicht findest du ein Mietshaus.«
Bereits an ihrer Mimik konnte ich ablesen, dass ihr meine Worte nicht gefielen.
»Wie gesagt: Es ist deine Entscheidung. Aber du wolltest meine Meinung hören.«
»Irgendwie befürchte ich, dass mir die Zeit wegläuft.«
»Für was?«, fragte ich und überspielte damit den Stich in der Herzregion.
Sie schwieg, mied Blickkontakt und kaute auf ihrer Wange herum – wie ständig in den letzten Tagen. Ein verlässliches Zeichen, dass ihr das Thema unangenehm war. Um Vicky genug Gedankenspielraum einzuräumen, nahm ich die Stäbchen wieder auf und fischte mir eine Portion des Algensalates. Gerade als ich den Mund voll hatte, atmete Vicky tief ein, als schöpfe sie Mut.
»Ich befürchte, dass mir momentan mein gesamtes Leben entgleitet. Robert, unser gemeinsames Haus, das ich erstellt und in das ich so viel Herzblut gesteckt habe. Plötzlich ist alles nicht mehr da.«
»Ich bleibe immer an deiner Seite«, flüsterte ich und riss mich zusammen, als ich ihren forschenden Blick wahrnahm. Das merkwürdige Gefühl, das in mir tobte, war nicht für sie bestimmt.
»Du weißt genau, was ich damit meine. Du bist mir wichtig, dennoch ist es etwas anderes. Wir sind kein Paar und wir planen zwar eine gemeinsame Zukunft, aber nicht auf diese Weise. Du bist schon gar nicht ein Familienmensch, liebst die Freiheiten und lebst alles in einem Rausch, der mir viel zu schnell geht.«
Bei ihren Worten stockten meine Gedanken. »Verurteilst du gerade mein Leben?«
»Nein, im Gegenteil.«
Ich biss die Zähne zusammen, ehe ich mich zwang, zu entspannen. »Und was denkst du wirklich über mich?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich bewundere dich dafür, dass du dein Ding durchziehst. Dir ist es schon immer gleichgültig gewesen, was andere von dir halten. Du steigst mit allen möglichen Frauen in die Kiste und suchst so die Bestätigung, die du brauchst. Sie geben sie dir – wie auch nicht? Du siehst gut aus und gelegentlich kannst du dich sogar richtig nett verhalten. Aber an manchen Tagen frage ich mich, warum du dich so gegen dein Glück sträubst? Wieso schaust du dich nicht einmal nach etwas Festen um? Du wärst ein großartiger Vater und wahrscheinlich ein noch besserer Ehemann.«
Vicky fand mich gut aussehend? Wärme breitete sich in mir aus und ich musste mich beherrschen, um dieser Anmerkung keinerlei Beachtung zu schenken. Dafür bliebe auch Zeit, wenn sie nicht in meiner Nähe wäre. »Woher willst du wissen, wie ich mich als Vater und Göttergatte verhalte?«
Ein Schmunzeln stahl sich auf ihr Gesicht und sie hob die Hände. »Sieh dich um. Nicht ohne Grund lag ich mit gebrochenem Herzen in deinem Bett und habe dich damit auf die Couch verbannt – wo du noch immer schläfst und mein schlechtes Gewissen jede Nacht weiter wächst.«
»Du bist meine beste Freundin. Natürlich bin ich für dich da, wenn du traurig bist.«
Sie seufzte. »Trotzdem brauchst du nicht ständig um mich herumschwirren. Mir geht es besser und ich kann wirklich in ein Hotel ziehen.«
Irritiert von ihren Worten stutzte ich. »Was willst du damit sagen?«
»Ich packe gleich meinen Koffer und suche mir ein Zimmer.«
Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass ich mich im falschen Film befand. »Nein, du bleibst hier.«
»Christian, du brauchst auch Abstand von mir. Denkst du, mir ist nicht aufgefallen, dass du die letzten Wochen ständig nach Hause gekommen bist, ohne …«
Ich zog beide Augenbrauen in die Höhe. »Ohne?«
Vicky zuckte mit den Schultern und musterte die mit Pappkartons befüllte Tischplatte. »Du kannst ausgehen, weißt du? Ich verstehe es.«
Enttäuschung durchflutete mich, fraß sich durch meinen Körper. Wie ferngesteuert schnellte ich vom Sofa hoch. »Du verstehst gar nichts.« Ich wischte mir über den Kopf und räumte die Zeugnisse unseres Sushi-Experimentes zusammen.
»Was habe ich falsch gesagt?«
»Nichts.« Ich stampfte an die Küchenzeile, trennte den Müll auf die einzelnen Eimer auf, ehe ich ins Badezimmer stürmte. Ruppig zog ich mich aus und betrat die Dusche. Eilig seifte ich mich ein und drehte den Regler auf kalt. Ich genoss den Schmerz, der sich in mir ausbreitete, weil ich mich somit mit anderen Überlegungen nicht auseinandersetzen musste. Sobald ich mich abgetrocknet hatte, fiel mir der Fehler auf. Genervt von zu viel Unkonzentriertheit wickelte ich mir das Handtuch um die Hüften und suchte im Kleiderschrank nach frischer Kleidung. Ich zog Jeans und ein Shirt heraus.
»Christian, bitte, rede mit mir.« Vicky klang flehend und ich drehte mich zu ihr um. Sie lehnte mit verschränkten Armen im Türrahmen. Ihre Mimik konnte ich nicht deuten und es machte mich nur noch wütender, dass sie mich auf Abstand hielt.
»Was willst du hören? Dass mir das verwunschene Haus gefällt? Dass du es nehmen solltest, damit ich mal wieder eine Braut aufreißen kann? Ist es das?«
Ihre Augen weiteten sich, aber ich wandte mich ab und lief ins Bad, um mich anzuziehen. Als ich zurück ins Schlafzimmer kam, saß Vicky auf dem Bett.
»Weißt du was, ich ziehe jetzt los und suche mir ein williges Weibchen, mit dem ich diese Nacht verbringe.«
»Geh nicht.« Ihre Stimme brach bei ihrer Bitte.
»Nenn mir einen Grund, warum ich nicht verschwinden sollte.«
Sie bewegte ihre Finger ineinander und schwieg beharrlich. Ich schnaubte abfällig und lief zur Wohnungstür. Ich nahm die Lederjacke von der Garderobe, zog sie über. In dem Moment, als ich die Türklinke in der Hand hielt, kam mir ein Gedanke, weshalb ich zurück zum Schlafzimmer lief. Vickys Schultern bebten, aber ich konnte kein Geräusch von ihr hören. Dieser Anblick ließ etwas in mir zerspringen. All meine Wut verpuffte von der einen auf die nächste Sekunde.
Mit großen Schritten lief ich zu ihr, sank neben sie und zog sie in die Arme. Ich schloss die Augen und streichelte immer wieder über ihren Rücken.
»Komm schon, Vicky, wein nicht.«
Sie schluchzte und ich war mir unsicher, ob unser Streit tatsächlich die Ursache war. Ja, wir hatten gestritten, aber das war kein Grund, in Tränen auszubrechen. Das passierte, wenn man viel Zeit zusammen verbrachte, und meine beste Freundin war bisher nie der weinerliche Frauentyp gewesen.
»Was ist los?«, erkundigte ich mich leise.
Sie zog die Nase hoch und ich musste unwillkürlich lächeln. »Ich weiß es nicht. Gerade kann ich den Gedanken nicht ertragen, dass du böse auf mich bist. Du bist die einzige Konstante, mein Fels. Was habe ich Falsches gesagt, dass du wütend auf mich bist?«
Ich seufzte. »Ich habe überreagiert. Ich möchte einfach nicht, dass du in ein anonymes Hotel ziehst. Das ist nicht heilsam. Erlaube mir, mich um dich zu kümmern und dich aufzufangen.«
Sie schluchzte abermals. »Okay.«
Überrascht zog ich die Augenbrauen zusammen. »Nur okay?«
»Ich bleibe, aber nur, wenn du wieder in deinem Bett schläfst.«
Ohne es verhindern zu können, stockte mir der Atem. Ich spürte, dass Vicky gespannt an meiner Brust verharrte, und ich löste mich von ihr. »Möchtest du mich zu dir ins Bett locken?«, erkundigte ich mich und versuchte damit, die merkwürdige Stimmung zwischen uns zu überspielen – falls ich sie mir nicht sowieso einbildete.
»Also, du sollst einfach in deinem Bett schlafen. Dabei kann ich natürlich auch gerne auf das Sofa umziehen. Aber eigentlich hatte ich angenommen, dass wir das hinbekommen. Schließlich wäre es nicht das erste Mal.«
»Zum einen ist seither einiges geschehen und zum anderen waren wir damals immer besoffen.«
»Ich nicht.«
»Was?«
»Ich war nüchtern, damals.«
Nachdenklich runzelte ich die Stirn. »War das nicht nach diversen Partys?«
»Ja und du hattest viel zu viel Puschkin
getrunken.«
Angewidert verzog ich den Mund, ehe mir ein Gedanke kam und ich über die Lippen leckte. »Also hast du damals meine Lage schamlos ausgenutzt und dich neben mich ins Bett geschlichen?«
»Was? Nein. Ich …« Sie seufzte und mein Grinsen nahm einen siegessicheren Ausdruck an. »Es stimmt. Zu jener Zeit hätte ich alles dafür getan, dass du mehr in mir siehst als nur deine beste Freundin.« Das Lächeln fiel in sich zusammen und mein Herz setzte aus.
»Was sagst du da?«, hakte ich entsetzt nach.
»Wie du schon sagtest, seither ist viel Zeit vergangen.« Sie klopfte mir auf die Brust und verschwand in den Nebenraum.