Vicky
W
arum hatte ich noch einmal beschlossen, das zu machen? Wieso hatte mich denn niemand davon abgehalten, als ich den Termin ausmachte?
Christian ergriff eine kalte Hand von mir, drückte sie zärtlich und küsste meine Haut.
»Du bist unglaublich, Viktoria Richter. Es war die klügste Entscheidung von mir, dich zu küssen.«
Argwöhnisch sah ich ihn an. »Falls es dir entgangen ist, habe ich dich geküsst. Diese Lorbeeren musst du schon mir überlassen.«
»Du bist nervös«, stellte er fest.
»Natürlich bin ich nervös. Wie könnte ich nicht? Ich springe gleich aus einem Flugzeug. Mein Leben hängt am seidenen Faden, falls es dir entgangen ist.«
»Nicht so dramatisch.« Christian küsste meine Nasenspitze. »Ich wollte später eh mit dir noch über uns sprechen.«
»Du hast immer das Bedürfnis zu reden. Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt. Ich muss mich konzentrieren, mich sammeln.«
Er verstummte und sah mich nachdenklich an.
Schuld keimte in mir auf. Ich hätte ihn nicht auf diese Weise anfahren dürfen. »Christian, es tut mir leid. Viel zu lange habe ich auf den Moment hingefiebert.«
»Ich weiß. Ich liebe dich.«
»Ich liebe dich auch«, erwiderte ich.
Dennoch erkannte ich Enttäuschung in Christians Mimik.
Vorsichtig berührte ich seinen Oberarm. »Was ist los?«
Zaghaft schüttelte er den Kopf. »Spring aus dem Flugzeug. Vielleicht wirst du dann wieder normal.«
»Idiot«, beschimpfte ich ihn halb scherzhaft.
»Selber«, erwiderte er, ehe er mich an sich zog und mir unmissverständlich zu verstehen gab, dass er mich dennoch liebte.
Als er sich löste und sich von mir abwandte, wusste ich nicht, ob meine Knie wegen ihm oder dem bevorstehenden Sprung schlotterten.
Aber der Grund war gleichgültig.
Ich sonnte mich im Gefühl der Aufregung, genoss die leichte Angst und das Wissen, dass ich beides bezwang. Denn ich lebte mein Leben, traf selbst alle Entscheidungen und war glücklicher als jemals zuvor.
»Christian«, rief ich. Er drehte sich um und sah mich fragend an. »Wenn sich der Fallschirm nicht öffnet, baust du unser Haus aber zu Ende, oder?«
»Spring endlich, dann habe ich Ruhe«, erwiderte er. Allerdings zwinkerte er mir zu und ich wusste, dass er ebenso aufgeregt war. Es war die Art, wie wir uns zu Hause noch geliebt und in den Armen gehalten hatten. Es fühlte sich wie ein Abschied an. Nur der Grund war mir nicht klar. Wenn Christian oder ich die geringsten Zweifel verspürt hätten, dass dieser Sprung übermäßig gefährlich wäre, säßen wir bei einem To-go-Mittagessen in unserem Rohbau. Wir würden lachen, reden und uns lieben – körperlich, emotional ja sowieso.
Mit einem letzten Blick sah ich zu dem besten Mann aller Zeiten, ehe ich das Flugzeug betrat und mich an den für mich vorgesehenen Platz sinken ließ. Als sich die Maschine in Bewegung setzte, befürchtete ich, dass ich vom Sitzplatz gleiten und ohnmächtig umfallen würde.
Ständig sagte ich mir, dass es nicht schlimm war und dass ich Christian bald wieder in die Arme schließen würde. Dann lachten wir gemeinsam über die Aufregung. Er war das größte Glück und jeden Tag spürte ich unsere Liebe kräftiger. Natürlich hielt ich mich daran, dass ich mein Leben nicht auf andere aufbaute, zumindest nicht komplett. Für eine Beziehung gehörte es dazu, dass man sich aufeinander zu bewegte und nebeneinander her lief. Wenn jeder sein eigenes Ding durchzog, ohne Kompromisse und Rücksichtnahme, wäre es eben auch nicht meine tatsächliche Vorstellung einer Partnerschaft.
Zwar wohnten wir bisher noch nicht offiziell zusammen, aber wir hatten seit über einem Jahr keine Nacht mehr ohne den anderen verbracht. Entweder hatten wir bei ihm oder in meiner Wohnung geschlafen. Ich hatte so lange auf seine Nähe verzichten müssen, dass ich seinen warmen Körper nachts nicht mehr missen wollte.
Christian war meine Zukunft.
Er förderte die Träume und gab mir Raum, sie zu verwirklichen. Er war einfach alles, was ich mir jemals gewünscht hatte.
»Vicky, bist du so weit?« Die Frage meines Tandem-Masters holte mich zurück ins Flugzeug. Ich nickte und schüttelte kurz darauf den Kopf. Vielleicht hätte ich die Verwirklichung des Wunsches nicht umsetzen sollen. Es war noch nicht zu spät, es jetzt abzubrechen. »Schau nicht so. Wir rocken das, okay? Komm einfach zu mir, ich klinke mich bei dir ein und dann sehen wir weiter.«
»Ich weiß nicht, ob ich das schaffe«, erwiderte ich mit dünner Stimme.
»Klar. Ich bin bei dir.« Ja, aber er war nicht Christian. Warum eigentlich nicht? Wieso stand nicht mein Traummann bei mir im Flugzeug und bestärkte mich? Zum Teufel! Wozu musste ich das allein durchstehen? Wem wollte ich etwas beweisen? Mir sicherlich nicht. Ich wusste, dass ich mutig war. Also, was sollte das?
Doch insgeheim musste ich mir eingestehen, wenn ich jetzt der Angst nachgab, wäre ich noch immer so entschlossen wie vor einem Jahr.
Dem war nicht so.
Die Trennung von Robert hatte mich auf eine schreckliche Art stärker gemacht. Ich war furchtloser und selbstbewusster. Und Christian hatte mir geholfen, das zu erkennen. Er hatte so viel Energie und Zeit da hineininvestiert, irgendwie fühlte ich mich ihm und ein bisschen meinem alten Ich gegenüber verpflichtet. Auch wenn es völliger Blödsinn war. Niemandem musste
ich etwas beweisen. Ich wollte
es.
Entschlossen nickte ich und mein Tandem-Master schnallte uns aneinander.
»Bist du bereit?«, fragte er.
»Ja«, sagte ich selbstbewusst.
Er öffnete die Tür und ließ mir keine Zeit, mich an die Höhe oder den Gedanken zu gewöhnen, dass ich nun gleich aus einem Flugzeug sprang.
Es dauerte nur einen Wimpernschlag, bis wir tatsächlich durch die Luft flogen und mein Magen machte einen Satz, gleichzeitig rauschte so viel Euphorie durch mich, dass ich kaum klar denken konnte.
Diese Aussicht war atemberaubend und das Gefühl, durch die Freiheit zu fliegen, war unbeschreiblich.
In mir stürmten sämtliche Moleküle durcheinander.
Nichts war mehr an gewohnter Stelle.
Mein Leben stand kopf.
Und es fühlte sich verdammt gut an.
Als der Fallschirm unseren Fall dämpfte und wir durch die Lüfte glitten, zeigte mein Tandem-Master auf eine Stelle. Dort war eine riesige weiße Fläche mit irgendwelchen Schriftzügen.
Ich wollte viel lieber den Ausblick genießen, schaute wieder zum Horizont.
Abermals deutete er auf die Position. Seine Vehemenz brachte mich dazu, dorthin zu schauen.
Ich kniff die Augen zusammen und spürte plötzlich, wie mir der Atem stockte.
In großen Buchstaben stand dort auf einem riesigen Tuch: Fips, willst du mich heiraten?
An den Vibrationen erkannte ich, dass mein Tandempartner lachte.
Der Freudenschrei schoss aus mir heraus, ohne dass ich es verhindern konnte. Ich wollte nur noch zu Christian.
Sobald ich wieder Erde unter den Füßen spürte, wankte ich. Durch meinen Körper jagte Adrenalin und berauschte mich zusätzlich. Wobei ich unsicher war, ob es wie erhofft am Sprung lag oder vielmehr die unverhoffte Frage der Auslöser für den Hormoncocktail war.
Ohne mich vom Flugbegleiter zu verabschieden, rannte ich zu der Liebe meines Lebens.
Er sah mir entgegen, lächelte beinahe schüchtern und mein Herz sprang abermals aus unbeschreiblicher Höhe.
Er liebte mich!
Er wollte mich!
Mich!
Ich lachte, als ich ihm in die Arme stürzte. »Ich liebe dich, Christian.«
»Das ist gut. Ich dich nämlich auch. Du bist alles für mich, Fips.«
»Du gehörst eingewiesen. Wieso lässt du mich erst aus einem Flugzeug springen?«
»Ich hatte gehofft, dass der Adrenalinkick dich zum Jasagen
verleitet.«
»Zu dir sage ich immer Ja.«
Er drückte mich so fest an sich und küsste mich schwindelig. Bei ihm wusste ich nie, was als Nächstes kam. Diese Ungewissheit genoss ich mit jeder Faser. Denn eine Tatsache war die gesamte Zeit dabei unumstößlich: Christian erdete mich und schenkte mir gleichzeitig Flügel.
ENDE