DREI

Auf dem Court, während eines Spiels, ist man irgendwie allein. So ist das auch gedacht. Man soll seine eigene Taktik finden. Man muss die richtigen Schläge finden, um sich seinen Raum zu erkämpfen. Man muss das T dominieren. Niemand kann dir helfen. Niemand kann sich an deiner Stelle konzentrieren oder an deiner Stelle die Niederlage fürchten. Aber manchmal ist einem, als wäre das Gegenteil der Fall, als wäre man auf dem Court ganz und gar nicht allein.

Mona hatte sich nie für das Spiel interessiert. Sie war missmutig und irgendwie steif, und ihr fehlte es an Entspanntheit und Rhythmus in den Bewegungen. Khush schlug gut. Sie bewegte sich gut. Aber sie brauchte immer lange, um sich zu erholen, von der Erschöpfung, von Tiefpunkten, an die man während des Spiels gelangt. Ich war die Einzige, die sich verbesserte.

Zweimal setzte Pa sich mit Khush auf die Bank, während Mona und ich Wasser holten. Wir hörten ihn sagen, dass ich eine ernst zu nehmende Konkurrentin brauchte, um voranzukommen. Er sagte das im gleichen Ton, in dem er einem Fremden erzählt hätte, dass er besseres Wetter erwarte.

Beide Male schaute Khush, der die Haare im verschwitzten Gesicht klebten, in den Court und sagte: »Ich tue mein Bestes.«

Dann, an einem Montag, brach Pa unser Abendtraining vorzeitig ab und befahl mir, im Sportstudio zu bleiben. Er werde meine Schwestern nach Hause bringen, und danach habe er in der Stadt etwas zu erledigen. Er sagte, ich solle warten, bis Ged aus der Bar herunterkomme, und gegen ihn spielen. Er sagte, er werde mich später abholen, aber er schien es nicht eilig zu haben, sich auf den Weg zu machen. Immer wieder schaute er zur Galerie hinüber. Ich hörte Geds Mutter oben leise vor sich hin summen, während Pa sich langsam den Mantel zuknöpfte.

Ich wusste nicht, ob ich Ged um ein Spiel bitten sollte oder ob Pa schon alles mit ihm abgesprochen hatte. Als Ged herunterkam, stand ich gerade am Wasserspender und füllte einen Pappbecher.

Er sagte: »Hi«, und ging zum Schwarzen Brett, wo er den Aushang für eine neue Liga studierte, die irgendjemand immer wieder vergebens aufzustellen versuchte. Neben dem Zettel war mit blauer Klebemasse ein Kugelschreiber kopfüber befestigt.

Ged musste nicht nur seiner Mutter beim Gläserspülen helfen, neuerdings war er auch für die Courts verantwortlich, das heißt, er musste sie sauber halten und dafür sorgen, dass der Wasserspender immer gefüllt war. Je nachdem, wie geschickt er sich anstellte, würde er außerdem im Sommer die Wände neu streichen können. Dieser Job war Geds Idee gewesen, und da der Manager Geds Mutter mochte, hatte er sich einverstanden erklärt. Er bezahlte Ged in bar. Ich dachte manchmal, Ged hätte den Job auch ohne Bezahlung gemacht, so glücklich und zufrieden wirkte er immer, wenn alles schön sauber war. Auch jetzt schien er glücklich und zufrieden, als er, seinen Rucksack in der einen Hand, seinen Schläger in der anderen, die Liste studierte. Falls der Kuli inzwischen ausgetrocknet war, dachte ich, würde ich ihm den Bleistift aus meinem Rucksack leihen.

»Es läuft über.«

Mein Pappbecher lief über, und Wasser tropfte auf den Boden und meinen Schuh. Ich nahm den Daumen vom Wasserhahn und machte einen Schritt zurück.

Ged hatte Papierhandtücher im Rucksack. Er legte seinen Schläger auf die Bank und kam zu mir.

»Ich kann das machen«, sagte ich.

»Schon in Ordnung.«

Er hockte sich hin und wischte das Wasser vom Boden auf.

»Hast du vor, in der Liga mitzuspielen?«, fragte ich.

Ged drückte ein letztes Stück Küchenrolle auf den Boden vor dem Wasserspender, dann sammelte er die nassen Blätter ein und stand auf. Ich hatte ihn noch nie gegen jemanden spielen sehen, aber ich wusste nicht, ob er niemanden hatte, gegen den er spielen konnte, oder ob er einfach keine Lust dazu hatte. Ged öffnete den Mülleimer neben dem Wasserspender und stopfte die Papiertücher hinein.

»Ich weiß nicht«, sagte er.

Da ich den Eindruck hatte, dass er gehen wollte, sagte ich hastig: »Hast du Lust zu spielen?« Ich lief rot an. »Also mit mir, meine ich.«

Ged betrachtete den Wasserspender. Er überlegte, wie er sich ausdrücken sollte.

»Wenn du möchtest«, sagte er vorsichtig. »Wir müssen aber nicht.«

Pa hatte also mit ihm gesprochen.

»Es ist deine Entscheidung«, sagte ich.

Er schwieg.

»Warum spielst du?«, fragte er schließlich.

Seit den Weihnachtsferien stotterte er nicht mehr, aber irgendwo lauerte das Stottern noch. Es brachte ihn dazu, langsam zu sprechen, immer. Wenn man anfing, mit Ged zu reden, hatte man sofort das Gefühl, mitten in einem Gespräch zu sein. Ich betrachtete das Wasser in meinem Pappbecher. Es kam Ged nicht in den Sinn, dass das eine komische Frage war. Er wollte es einfach wissen, also hatte er gefragt, und ich wollte versuchen, ihm seine Frage zu beantworten. Ich dachte an Pa und daran, wie es war, wenn ich spielte und Pa zuschaute, und wie es war, wenn ich Pa vergaß und mich nur noch auf den Ball und die Bewegung konzentrierte, und wie ich mich fühlte, wenn ich nicht spielte. Ged stand da und wartete, bis ich meine Gedanken geordnet hatte. Ich dachte: Ein Spiel kann einem endlos erscheinen. Und ich sagte: »Ich weiß es nicht.«

Mit Ged auf dem Court hatte ich das Gefühl, wir würden etwas herstellen, nur nichts, was wir sehen oder anfassen konnten. Ich schlug gut. Ich sah den Ball. Er war so groß wie ein Tennisball; ich konnte nicht anders, als gut zu schlagen. Ich wechselte die Richtung und holte aus, und auf einmal pulsierte mein ganzer Körper von den Zehen bis zu den Fingerspitzen. Ich bewegte mich leicht und mühelos. Es lag nur an Ged. Er trieb mich nicht direkt an, aber ich spürte, dass er total auf mich konzentriert war. Seine Wahrnehmung schloss alles ein, die Wände, die rote Aufschlaglinie und die Glaswand hinter uns, den Korridor und das gesamte Sportzentrum: das leere Schwimmbad, die leere Bar, die Fenster, die auf die Spielfelder hinausgingen. Es war, als würde seine Wahrnehmung sich mit meiner mischen. Dann schlug ich einen Volley Drop, der Ged dazu brachte, innezuhalten und mich anzusehen, als würde er mich nicht kennen, und sein Blick ließ mich ebenfalls innehalten.

Wir setzten uns auf die Bank draußen vor dem Court. Mein T-Shirt war verschwitzt und spannte über der Brust, und das machte mich ein bisschen verlegen. Ich fragte Ged, ob es für ihn langweilig sei, gegen mich zu spielen.

»Was glaubst du denn?«, fragte er zurück.

Ich betrachtete den Schläger, den er in beiden Händen hielt.

»Es ist nicht langweilig«, sagte er.

Wir blieben lange dort sitzen. Wir redeten. Ich erzählte Ged von einer Höhle, von der ich gehört hatte. An den Höhlenwänden befanden sich Zeichnungen, hauptsächlich von Händen, Hunderten von Händen. Ich hatte es in unserem Küchenradio gehört. Experten hatten aus der Größe der Handabdrücke geschlossen, dass es sich um Hände von zehnjährigen Jungen handelte, aber ich fragte mich, woher sie wissen wollten, ob es Jungen oder Mädchen gewesen waren. Ged wollte wissen, ob die Zeichnungen alle zur selben Zeit entstanden seien. Was sonst?, dachte ich. Dann dachte ich, vielleicht hat ja jede Generation ein Kind in den entlegensten Teil der Höhle geführt und seine Hand an die Wand drücken lassen. Wir taten so, als lauschten wir auf die Schritte über uns und auf das ferne Kreischen der Kinder im Schwimmbad.

Ged packte seine Sachen zusammen und erhob sich von der Bank.

»Bis morgen«, sagte er.

Ich schaute ihn an. »Bis dann«, sagte ich.

Er machte sich auf den Weg.

Er ging nach oben, um seiner Mutter in der Bar zu helfen. Ich wollte nichts sagen, eigentlich gar kein Geräusch machen, aber als ich aufstand, krachte mein Schläger gegen die Bank, und ich hörte mich rufen: »Wollen wir morgen noch mal spielen?« Ged drehte sich um und sah mich genauso an wie vorhin, als ich ihn zum ersten Mal gefragt hatte, und da begriff ich, dass Pa auch für den kommenden Tag ein Spiel verabredet hatte. Aber diesmal sagte Ged: »Das würde mich freuen.«

Ein sauberer Schlag kann die Zeit stillstehen lassen. Manchmal kann er sich anfühlen wie der einzige Frieden, den es gibt.

In dem Winter spielten Ged und ich dreimal gegeneinander und im Frühling darauf fast jeden Tag. Während jener Monate wurden meine Gedanken sehr klar. Ich stand noch früher auf, nicht, um allein zu sein, sondern weil ich die ganze Nacht darauf gewartet hatte, dass der Tag anfing.

Wenn im Sportzentrum in der Western Lane die Männer von Vauxhall die Courts besetzt hatten und alle Türen offen standen und die Bäume draußen voller weißer Blüten waren, stand ich ganz still neben Ged, und auch er war still. Vielleicht ist das ja nur ein Mal vorgekommen, aber wenn ich mich daran erinnere, wie wir da standen, ist mir, als wäre das meine ganze Kindheit hindurch immer wieder passiert. Ich hörte auf, an Ma zu denken. Die Welt schien groß und erleuchtet von einem Geheimnis, das sich mir bald erschließen würde.

Eines Sonntags waren Ged und ich gerade dabei, uns warmzumachen, und Pa schaute uns zu, als plötzlich die Tür aufging und zwei Pakistani ungefähr in Pas Alter hereinkamen, beide in weißem T-Shirt und weißen Shorts. Ich kannte die Männer vom Sehen. Sie waren nett, und sie spielten regelmäßig, und Pa hatte sich mit ihnen angefreundet. Einer hatte eine große Sporttasche mit der Aufschrift Dunlop dabei. Aus der Tasche ragte der Griff eines weißen Schlägers.

Der Mann hieß Maqsud. Als Maqsud anfing, ins Sportzentrum zu kommen, waren Pa und er einander aus dem Weg gegangen. Es war Maqsud gewesen, der den ersten Schritt gemacht hatte. Er hatte Pa in der Bar auf einen Drink eingeladen, und Pa hatte, bevor er die Einladung akzeptierte, ein paar Worte gesagt. Nichtssagende Floskeln eigentlich, aber genug, um Maqsud wissen zu lassen, dass wir (Pa hatte auf uns gezeigt, um klarzustellen, dass er uns alle vier meinte) Jains waren. Zu Hause hatte Mona Pa deswegen angegriffen. »Wenn wir alle Brüder sind, was für eine Rolle spielt es dann, dass wir Jains sind?«, fragte sie. »Es ist wichtig«, hatte Pa geantwortet und mit seinem Papierkram weitergemacht.

Maqsud begrüßte Pa, während sein Freund zum nächsten Court ging. Ged und ich schlugen Volleys.

»Ist das das Mädchen?«, hörten wir Maqsud Pa fragen. Er hatte eine freundliche, raue Stimme.

Ged und ich beendeten unser Aufwärmtraining und begannen ein Spiel, wohl wissend, dass Maqsud uns beobachtete. Wir spielten schnell und wohlplatziert. Als ich einmal den Ball aus einer Ecke holte, winkte Maqsud mich zu sich. Ich ließ den Ball fallen, schubste ihn mit meinem Schläger zu Ged und ging zur Rückwand.

»Im Winter gibt es ein Turnier«, sagte Maqsud. Durch die Glaswand klang es gedämpft und vertraulich, aber doch laut genug, um Ged einzubeziehen. »Durham und Cleveland. Ihr solltet beide teilnehmen.«

An Durham kamen wir immer auf der langen Fahrt nach Edinburgh vorbei. Es gab dort ein Schloss, das nachts orangefarben angestrahlt wurde. Ich wünschte, Maqsud würde ein bisschen mehr erzählen. Seine Stimme klang hart und weich zugleich, und das hatte etwas Hypnotisierendes. Dann ging Pa zur Bank, um etwas in seinem Notizheft nachzusehen, und Maqsud sprach nur mit mir.

»Dein Vater glaubt an dich«, sagte er. »Denn du bist hier auf dem Court zäh wie ein Junge. Weißt du das?«

Ich betrachtete meinen Schläger und schob mit zitternden Fingern die Saiten zurecht. Als Geds Schläger gegen die Wand krachte, zuckte ich zusammen, denn es fühlte sich so an, als hätte er nach etwas geschlagen, das sich direkt vor mir befand. Ich fühlte mich Ged und Pa und diesem Mann sehr verbunden. Maqsud wartete darauf, dass ich etwas sagte. Ich fuhr mit der Hand über meinen Schläger, darauf bedacht, dass meine Finger nicht zitterten.

»Nicht so zäh wie jeder Junge«, hörte ich mich sagen.

Einen Moment lang herrschte Stille, dann lachte Maqsud. Ich blickte auf und Pa auch. Pa wirkte überrascht und erfreut.

»Durham und Cleveland«, sagte Maqsud, dann gesellte er sich zu seinem Freund auf dem Court nebenan.

Von dem Tag an lauschten Ged und ich beim Training stets, ob wir irgendwo in den Fluren Maqsuds Stimme hörten. Die Worte Durham und Cleveland gewannen für uns zunehmend an Bedeutung. Wir stellten uns eine dunkle, schneebedeckte Landschaft vor, gläserne, in der Wintersonne glitzernde Courts. Oder wir stellten uns vor, dass es dort ganz normal aussah, mit viel grauem Beton.

»Durham und Cleveland«, sagte manchmal einer von uns aus heiterem Himmel, und dann setzten wir uns eine Weile hin.

Ich stand immer früher auf. An Wochenenden und Feiertagen, wenn es draußen noch stockdunkel war. Ich breitete acht Scheiben Brot auf dem Küchentisch aus und schmierte mir Sandwiches, die ich in meine Lunchbox quetschte. Dann radelte ich im Dunkeln in die Western Lane. Wenn ich mein Fahrrad anschloss, war der Himmel schon ein bisschen hell, aber Gras und Bäume hatten noch keine Farbe. Bis das Sportzentrum öffnete, machte ich draußen auf der Laufbahn ein paar Sprints, dann ging ich hinein und setzte mich auf eine Bank vor den Courts, die man erst ab 7:30 Uhr benutzen durfte. Eines Morgens stand der Manager im Flur und sah mir beim Training zu, später sprach er mich an und sagte, ich könne jederzeit in einem freien Court trainieren, egal zu welcher Uhrzeit.

Pa und Maqsud redeten über Durham und Cleveland, und dann redete Pa mit mir. Er sagte, Geds Mutter habe eingewilligt, Ged am Turnier teilnehmen zu lassen. Er sagte, das Turnier wäre gut für mich, aber es gebe eine Teilnahmegebühr und unsere Familie müsse sich an den Benzinkosten für die Fahrt beteiligen, außerdem an den Kosten für die Unterkunft, falls einer von uns den ersten Tag überstand. Ich wusste nicht, was er mir damit sagen wollte. Durfte ich teilnehmen oder nicht?

»Können wir uns das nicht leisten?«, fragte ich.

»So teuer ist es nicht«, sagte Pa.

Ich betrachtete seine Hände auf dem Lenkrad. Er schien darauf zu warten, dass ich weiterredete.

Er warf mir einen Blick zu, dann schaute er wieder auf die Straße.

»Die Entscheidung liegt bei dir«, sagte er.

Ich versuchte, seinen Gesichtsausdruck zu deuten.

»Ich will hin«, sagte ich.

Pa lächelte. »Das dachte ich mir.«

Manchmal, wenn ich allein im Sportzentrum war, schlug ich die ganze Zeit nur Longlines in die hintere Ecke des Courts. Egal was ich übte, es machte mir alles Spaß. Meine Vorhand war schon richtig gut, also konzentrierte ich mich auf die Rückhand. Anfangs musste ich sehr darauf achten, dem Ball nicht zu nahe zu kommen, aber nach ein paar Tagen schlug ich gut, ohne darüber nachdenken zu müssen. Dann war ich kurz verunsichert. Ich wusste nicht, wie lange ich bei dem, was ich mir selbst beigebracht hatte, bleiben konnte, oder ob ich überhaupt etwas Brauchbares gelernt hatte.

Pa kam häufig am späten Vormittag und blieb dann den ganzen Tag. Wenn er zur Arbeit musste, gab er mir Trainingsaufgaben und kam wieder, sobald er konnte. Häufig ging er auf die Galerie, dann hörte ich ihn mit Geds Mutter reden, die manchmal aus der Bar kam, um ihn zu begrüßen.

Pa legte in seinem Notizheft eine Spalte für Ged an. Wenn Ged und ich abends Longlines übten, gab Pa die Anweisungen. Wenn wir ein Match spielten, sah er uns manchmal zu. Hin und wieder standen Pa und Geds Mutter unter der Sicherheitsbeleuchtung draußen vor der Doppeltür, die zum Parkhaus führte, und rauchten eine Zigarette. Wir spielten weiter, wenn die beiden nach draußen gingen. Wenn mein Blick zur Tür wanderte, hielt Ged inne, sah mich an und fragte leise: »Bist du so weit?«, so als würde er mich von irgendwo zurückholen, damit wir weiterspielen konnten.