Ich weiß nicht, ob Sie schon mal in der Mitte eines Squash-Courts – auf dem T – gestanden und den Geräuschen aus dem Court nebenan gelauscht haben. Wie ein Ball schnell und hart geschlagen wird. Es ist ein kurzer, trockener Ton wie bei einem Pistolenschuss, mit einem unmittelbar folgenden Echo. Das Echo ist das Geräusch, wenn der Ball auf die Wand trifft, und es ist lauter als der Schlag. Diese Geräusche höre ich, wenn ich an das Jahr nach dem Tod unserer Mutter denke, als unser Vater uns zwei, drei, vier Stunden am Tag in der Western Lane trainieren ließ. Es muss während eines Abendtrainings nach der Schule gewesen sein, als es mir zum ersten Mal aufgefallen ist. Meine Beine waren schwer, ich konnte nicht mehr, ich stand auf dem T, ließ den Schläger hängen und starrte auf die Seitenwand und die verwaschenen Spuren der zahllosen Bälle, die von ihr abgeprallt waren. Ich war am Aufschlag, und mein Vater würde mit einem Longline zurückspielen, und ich würde mit einem Volley antworten, mein Vater wieder mit einem Longline und ich mit einem Volley, immer auf die rote Aufschlaglinie an der Stirnwand. Mein Vater stand ganz hinten und wartete. Sein Schweigen sagte mir, dass er sich nicht als Erster bewegen würde, und ich konnte entweder Serve und Volley spielen oder ihn enttäuschen. Die Flecken an der Wand verschwammen vor meinen Augen, und ich dachte, ich falle gleich hin. Da fing es an. Ein gleichförmiger, melancholischer Rhythmus im Court nebenan, der Schlag und sein Echo, immer und immer wieder, wie eine Art Erlösung. Nebenan trainierte jemand seine Schlagtechnik. Und ich wusste auch, wer das war. Ich stand da und lauschte, und das Geräusch drang in mich ein, in meine Nerven und Knochen, und mit dem Gefühl, erlöst worden zu sein, hob ich meinen Schläger und schlug auf.
Wir waren drei Schwestern. Als meine Ma starb, war ich elf, Khush war dreizehn, Mona fünfzehn. Seit wir einen Schläger in der Hand halten konnten, spielten wir zweimal pro Woche Squash und Badminton, aber das war nichts im Vergleich zu dem Drill, der später kam. Mona meinte, die Sprints, das Ghosting und das dreistündige Training hätten angefangen, nachdem unsere Tante Ranjan Pa erklärt hatte, wir Mädchen bräuchten Bewegung und Disziplin, während Pa still dasaß und sich von ihr sagen ließ, was er zu tun hatte.
Es war Herbstanfang. Nach einer für die Jahreszeit ungewöhnlichen Trockenheit war es jetzt warm und schwül. Drückende Luft, und in den Straßen hing der Geruch von verfaulendem Essen. In dieser Hitze, wenige Tage nach Mas Beerdigung, waren wir vierhundert Kilometer bis Edinburgh gefahren, um mit einem Abendessen im Haus unserer Tante unsere Trauerzeit zu beenden. Und da hat Tante Ranjan Pa gesagt, wir seien zu wild.
Wir standen mit Pa in ihrer Küche, als sie es sagte. Mona wusch in der Spüle Kartoffeln. Mit gesenktem Kopf stand sie da, die Ärmel bis zu den Ellbogen hochgekrempelt, denn sie hat nicht einfach nur die Erde von den Kartoffeln gespült, sie hat sie richtig geschrubbt. Ihr Pferdeschwanz schwang hin und her. Khush schälte langsam Kartoffeln und schaute dabei aus dem Fenster. Ich saß am Tisch und pulte Granatäpfel. Tante Ranjan hatte mit Khush geschimpft, weil sie in der Küche das Haar offen trug, und dann hatte sie sich zu mir umgedreht, die weiße Tischdecke zurückgeschlagen und Zeitungspapier ausgelegt, damit keine Saftspritzer auf ihren neuen, sehr schön dunkel gewachsten Tisch kamen.
Von da, wo ich saß, erspähte ich die Gulab Jamun, die Tante Ranjan am frühen Morgen zubereitet hatte. Die goldbraunen, saftigen Milchbällchen, die schon mit Zuckersirup vollgesogen waren, türmten sich in einer Glasschüssel am Ende der Anrichte.
Tante Ranjan bemerkte meinen Blick.
»Gopi«, sagte sie.
Ich erstarrte und errötete, als ich meinen Namen hörte.
Tante Ranjan stand auf. Sie stellte sich so hin, dass ich die süßen Bällchen nicht mehr sehen konnte. Ich weiß nicht, warum, aber es schien mir wichtig, meine Blickrichtung nicht zu ändern, so zu tun, als hätte ich schon die ganze Zeit nur ins Leere geschaut.
»Wild«, sagte Tante Ranjan zum zweiten Mal und fixierte mich. »Und es ist kein Geheimnis.«
Dann wandte sie sich Pa zu, und er saß tatsächlich einfach nur da, blickte ins Leere und schwieg.
Tante Ranjan wartete.
»Also, ich habe meine Meinung kundgetan«, erklärte sie schließlich. »Jetzt kommt es auf dich an.«
Pa hob den Blick und schaute Tante Ranjan einen Moment lang an, und in seinem Blick lag eine Kühle, die wir gewohnt waren, Tante Ranjan aber nicht. Ihre Wangen röteten sich. Der Dampfgarer auf dem Gasherd gab ein dünnes, hohes Pfeifen von sich, und plötzlich war es in der Küche ganz warm vom vielen Dampf, und es roch nach verkochten Linsen. Tante Ranjan nahm ein sauberes Küchentuch von einer Stuhllehne und betupfte sich damit die Stirn.
»Ich habe Charu darauf hingewiesen«, sagte sie. »Ich gebe ihr keine Schuld, Bruder, aber ich versichere dir, es ist noch nicht zu spät für die Mädchen.«
Es war ganz still in der Küche. Dann trat meine Schwester Mona an den Herd, nahm den Dampfgarer von der Flamme und knallte ihn auf die Granit-Arbeitsplatte. Die Schüssel mit den Gulab Jamun am Ende der Anrichte bebte, und Mona, die vom Kartoffelschrubben verdreckten Hände auf dem Dampfgarer, stand da und sah Pa herausfordernd an.
Tante Ranjan drehte den Wasserhahn zu und ging zu Mona.
»So nicht, Kind«, sagte sie.
Da kam unser Onkel herein, als betrete er die Küche anderer Leute. Vielleicht war er eigentlich auf dem Weg in seinen Garten, doch er schaute erst Mona, dann Pa an, blieb einen Moment lang mitten im Raum stehen und setzte sich dann zwischen Pa und mich. Wir mochten Onkel Pavan. Er war Pas jüngerer Bruder, er war dick und lieb und mochte es, draußen zu rauchen und über die Vergangenheit nachzudenken.
Onkel Pavan war vierzig. Pa war fast fünfundvierzig. Aber alle redeten davon, wie schön die Brüder geworden seien, so als wären sie gerade erst erwachsen geworden. Seit Mas Tod folgten die Blicke unserer Tanten Pa vom Esstisch zur Spüle und von dort in den Garten. Er tat ihnen leid, aber sie versuchten auch, sich einen Reim auf etwas zu machen, und wir wussten, dass dieses Etwas mit der Leere zu tun hatte, die sich vor ihm aufgetan hatte.
Es war noch nicht Mittag, und Onkel Pavan war es schon zu heiß. Sein Gesicht glühte, es hatte sich tiefrosa gefärbt. Er legte eine Hand auf den Tisch, klopfte mit allen vier Fingern gleichzeitig auf die Tischdecke, dann legte er die Hand auf den Oberschenkel. Er brauchte eine Zigarette. Er warf Pa einen Blick zu und verschränkte, bereit zu reden, die Hände auf dem Schoß. Khush hatte Onkel Pavan ein Glas Wasser eingeschenkt, und als sie sah, dass er so weit war, stellte sie es vor ihn auf den Tisch und setzte sich, um sich anzuhören, was er zu sagen hatte. Onkel Pavan sah sie dankbar an und begann.
»Es war mitten in der Hitzewelle«, sagte er und beugte sich zu Pa hinüber. »Erinnerst du dich? Der Abend, als du Bapuji gesagt hast, dass du heiraten würdest. Du warst lange unterwegs, und Pa hatte darauf bestanden, dass wir alle aufblieben und auf dich warteten. Wir mussten mit Eis gefüllte Kisten vor die Ventilatoren stellen und konnten uns vor Hitze nicht rühren. Als du endlich nach Hause kamst, hat Bapuji dich reingerufen und dich vor allen gefragt, was dir einfiele. Du hast keine Sekunde gezögert. Du hast in der Tür gestanden und es gesagt, als wäre es das Natürlichste auf der Welt. Ich heirate. Einfach so. Das war großartig. Ich werde Bapujis Blick nie vergessen. Es war so … ich … Charu … sie war … sie …«
Onkel Pavan schien irgendwas im Hals stecken geblieben zu sein, und es war offensichtlich, dass Pa hoffte, er würde weiterreden, aber er konnte nicht.
»Es bringt nichts, auf etwas herumzureiten«, sagte Tante Ranjan. Sie legte Onkel Pavan eine Hand auf die Schulter. »Komm, Pavan. Hol noch zwei Stühle aus der Garage, damit wir alle sitzen können.«
Als wir uns endlich zum Essen niederließen, war es vier. Die Luft war dick und schwer, und jede Bewegung schien verlangsamt. Tante Ranjan, Onkel Pavan, Pa und ich warteten auf unseren Plätzen, während meine Schwestern das Essen auftrugen. Wir hatten alle einen großen silbernen Teller vor uns, auf den meine Schwestern jeweils eine kleine silberne Schale Dal, einen ganzen Laddu, Kartoffelcurry, Reis, ein Puri, Zwiebel-Tomaten-Salat und eine kleine silberne Schale mit drei Gulab Jamuns platzierten. Immer wieder schob Khush sich die Haare, die ihr an Stirn und Wangen klebten, aus dem Gesicht. Als ich sah, dass ihre Haare fast in dem Sirup hingen, von dem sie noch etwas mehr auf meine Jamuns löffelte, wandte ich mich ab.
Die Tür zum Garten stand offen. Es war vollkommen windstill. Tante Ranjan erzählte von ihren Geschwistern in Tansania, die zu viele Kinder hatten. Sie aß sehr bedächtig, nahm in großen Abständen immer nur kleine Bissen in den Mund, und wir versuchten es ihr nachzutun. Als ich alles bis auf die drei Gulab Jamuns aufgegessen hatte, betrachtete sie meine kleine Schale, in der die Jamuns im Sirup schwammen. Ich legte meinen Löffel weg.
»Bruder«, sagte sie und wandte sich an Pa. Am liebsten hätte ich sie angeschrien, dass Pa nicht ihr Bruder war, dass er Onkel Pavans Bruder war. »Bruder«, sagte sie, »auf dich kommen schwere Zeiten zu.«
Onkel Pavan rückte seinen Stuhl näher an den Tisch. »Ranjan«, murmelte er.
»Nein«, sagte Tante Ranjan. »Er weiß, was ich meine.«
Sie schaute Pa an und begann, auf Gujarati zu sprechen, leise und konzentriert. Sie sagte, dass Onkel Pavan und sie keine Kinder hätten und dass sie Pa liebten und dass sie uns liebten wie ihr eigen Fleisch und Blut. Sie sagte, Pa würde es leichter haben, wenn er ihnen eine von uns überließe. Du kannst dich nicht um drei Kinder kümmern, sagte sie. Drei sind zu viel. Und als Pa schwieg, verstand sie das als Aufforderung, fortzufahren. Sie sagte, so etwas sei gang und gäbe. Niemand hätte etwas dabei gefunden, wenn du es getan hättest, als die Mutter der Mädchen noch lebte. Dann sagte sie, ihre eigene Schwester sei fast dreitausend Kilometer von Mombasa nach Bombay geflogen, um bei ihrer Tante zu leben, da sei sie sogar noch jünger gewesen als ich, und in unserem Fall gehe es nur um ein paar Autostunden.
Pa schaute auf seinen Teller. Ihm war klar, dass wir verstanden hatten, was Tante Ranjan gesagt hatte. Deswegen schaute er uns nicht an. Wir dachten, dass er ihre Worte einen Moment lang so stehen lassen wollte, damit sie selbst begriff, dass sie etwas falsch verstanden hatte, dass er dann aufstehen und in den Garten gehen und uns befehlen würde, unsere Sachen zu packen, weil wir aufbrechen würden. Aber er stand nicht auf, und er sagte nichts, und am Ende waren wir froh darüber, denn was auch immer Tante Ranjan in seinem Gesicht sah, machte ihr mehr Angst als alles, was er hätte sagen können. Ihr Gesicht wurde grau und verlor seine Strenge. Als sie ihr Glas nahm, um einen Schluck von ihrem Chaas zu trinken, zeigten ihre Mundwinkel nach unten.
In dem Moment brach Onkel Pavan das Schweigen. Er sprach langsam und mit fester Stimme. Der Frühling sei in diesem Jahr früh gekommen. Wir hätten mal die Blüten an der Kastanie sehen sollen. Wie Weihnachtslichter. Und dann die Kirschblüten: Eine Woche lang sei der ganze Rasen weiß gewesen. Wir aßen, und Onkel Pavan redete, und nach und nach fiel alles in einen Rhythmus, der sich normal anfühlte. Vom Garten her wehte eine sanfte Brise herein. Onkel Pavan wischte sich die Hände an einem Tuch ab, stand auf und holte die Schüssel mit den Gulab Jamuns, um uns einen Nachschlag zu geben.
»Ach«, seufzte Tante Ranjan, als wir unsere Löffel nahmen, und blickte auf ihren Teller. »Was für ein Tag.« Sie weinte. Mit einem Zipfel ihres Saris betupfte sie sich die Augen. Dann wandte sie sich Khush zu und lächelte sie mit tränennassen Augen an.
»Ich habe dich gesehen«, sagte sie ganz leise, wie um Khush ganz für sich zu haben. »Auf dem Parkplatz, hinterher.«
Sie redete von Mas Beerdigung, davon, wie Khush lautlos geweint hatte, als wir nebeneinanderstanden, um unsere Verwandten zu begrüßen, die nach und nach herauskamen. Tante Ranjan schaute Khush so traurig an, dass wir alles vergaßen. Khush legte eine Hand zwischen ihrem und Tante Ranjans Teller auf den Tisch. Neben mir scharrte Monas Stuhl so laut über den Boden, dass ich nach meinem Chaas-Glas griff, aber das Glas war hoch und kippte um, und die ganze Buttermilch verteilte sich auf der Tischdecke.
»Gopi«, murmelte Tante Ranjan. Wieder errötete ich, als mein Name fiel, aber Tante Ranjan schalt mich nicht. Ihre Miene war beherrscht, als sie aufstand, als sie hinter mich trat, als sie die Tischdecke zurückschlug, als sie sah, dass die Buttermilch auf ihren Tisch durchgesickert war. Ich blieb stumm sitzen, während sie den Tisch abwischte und alles wieder ordentlich hinstellte.
In Edinburgh hatten wir alle ein eigenes Zimmer, aber Khush und ich trugen immer unsere Decken in Monas Zimmer und schliefen dort auf dem Boden. Wir stellten unsere Turnschuhe in die Balkontür, damit sie nicht zuging, denn meistens war draußen etwas los. Wir lauschten, bis wir müde waren, und dann träumten wir. An jenem Abend war es zu heiß zum Schlafen. Wir waren unruhig und schwitzten in unseren Shorts und Hemdchen. Wir warfen die Decken von uns und waren nichts als verschwitzte Gliedmaßen, Arme und Beine, in alle Richtungen gestreckt auf der Suche nach etwas Abkühlung. Khush rappelte sich auf und ging auf den Balkon. Ich folgte ihr. Draußen legte Khush sich auf den Boden, lehnte Kopf und Schultern an den Türrahmen, streckte einen dünnen Arm auf dem gefliesten Boden aus, und ich legte mich genauso auf der anderen Seite hin. Nach einer Weile setzten wir uns auf, stützten das Kinn auf die Knie und lugten durch das weiße Balkongeländer in den Garten. Da es zu heiß war für Leggins oder lange Ärmel, stank ich nach Citronella und wurde trotzdem von Mücken gestochen. Wir wussten, dass Pa auch gestochen wurde. Er und Onkel Pavan unterhielten sich draußen. Sie saßen direkt unter dem Balkon, tranken Whisky und rauchten. Zu Hause trank und rauchte Pa nie, aber wenn er mit Onkel Pavan zusammen war, genoss er es. Wir sahen den blauen Rauch von Onkel Pavans Zigaretten und hörten die Stimmen der beiden und das Klimpern ihrer Gläser. Wir hörten alles, sogar das Quietschen von Pas Stuhl, wenn er sich vorbeugte, um sein Glas abzustellen oder sich am Knöchel zu kratzen. Und wenn wir hinunterschauten, sahen wir alles, was die beiden sahen: Onkel Pavans Rosenlaube und seine Bäume und die Steinbank und hier und da ein Stück Eisenbahnschiene, das im Dunkeln schimmerte.
Uns interessierte nicht, worüber sie redeten. Kindheitserinnerungen aus der Zeit, als ihr jüngerer Bruder noch gelebt hatte. Wie sie zu dritt Tennis und Squash gespielt hatten. Wie glücklich und abenteuerlustig sie gewesen waren. Wie Pa alle in Staunen versetzt hatte, wenn er, so ein lieber, stiller Junge, auf dem Court so hart ranging. Und wie Pa später, als Ma auf der Bildfläche erschien – siebzehn, strahlend, selbstbewusst –, nicht wusste, was er tun sollte, wie ihn etwas berührte, für das er keine Worte fand. Meistens redete Onkel Pavan, und Pa stimmte ihm in fast allem zu. Uns war das egal. Wir wollten nur oben auf dem Balkon sitzen und lauschen. Auch nachdem Pa und Onkel Pavan reingegangen waren, blieben wir noch sitzen. Es wurde schon hell, der Himmel färbte sich blassblau, die Luft hatte sich abgekühlt, und alles draußen schien in Reichweite zu rücken. Khushs Haar war offen und fiel ihr in sanften Wellen über den Rücken und schimmerte selbst in dem fahlen Licht. Wir gingen erst hinein, als ich anfing zu zittern. Wir zogen die doppelflügelige Tür hinter uns zu und kletterten zu Mona ins Bett. Mona murrte, weil wir sie weckten, rückte jedoch zur Seite, sodass wir mit unter ihre Decke passten. Wir erzählten ihr alles, was wir gehört hatten. Also Khush erzählte es ihr. Immer wenn etwas passierte, selbst wenn alle dabei gewesen waren, war Khush diejenige, die hinterher darüber berichtete. Sie wartete, bis alle schwiegen, dann legte sie los. Sie war eine gute Erzählerin. Sie erinnerte sich an Sachen, die uns nicht mal aufgefallen waren.
Viel später sollte Khush behaupten, in jener Nacht hätte alles angefangen, an dem Abend, als Pa laut überlegte, was er mit uns anfangen sollte. Mit Tante Ranjan hatte es nichts zu tun. Es war wegen Onkel Pavans Erinnerungen an die Vergangenheit. Aber ich glaube, Pa hat uns selbst gesagt, was in ihm vorgegangen war. Eines Morgens saßen wir alle zusammen auf der Bank vor dem Squash-Court, und da hat er gesagt: »Ich möchte euch für etwas begeistern, das ihr euer Leben lang machen könnt.«
Am nächsten Morgen standen Apfelsinensaft und Pfannkuchen mit Zitrone und Zucker für uns bereit. Tante Ranjan sagte nichts dazu, dass Pa und Onkel Pavan die halbe Nacht draußen gesessen und getrunken und geraucht hatten. Sie servierte ihnen Kaffee und hielt sich in ihrer Nähe, damit sie ihnen nachschenken konnte. Pa war freundlich zu ihr. Als Onkel Pavan später in der Einfahrt den Kofferraum schloss, in dem sich unser Gepäck befand, bat Tante Ranjan Pa, über ihren Vorschlag nachzudenken, und er versprach, das zu tun. Sie sagte, Onkel Pavan und sie würden uns im nächsten Jahr besuchen. Bis dahin werden wir wissen, wie die Dinge stehen, sagte sie.
Kaum waren wir aus Edinburgh zurück, begann Pa mit dem Drill. Unter der Woche brachte er uns vor der Schule mit dem Auto in die Western Lane, und nach der Schule nahmen wir den Bus. Musste er am Wochenende arbeiten, fuhren wir mit dem Fahrrad hin und er kam nach Feierabend dazu. Anfangs brauchten wir immer wieder mal einen Tag Pause, weil uns alles wehtat: Arme, Beine, Schultern. Einfach alles. Pa meinte, wir würden uns daran gewöhnen, und so war es auch. Nach einer Weile konnten wir uns kaum noch daran erinnern, wie es war, nur ein- oder zweimal die Woche zu spielen, so als wäre es nur zum Vergnügen.
Die Courts in der Western Lane waren oft frei. Die Männer, die bei Vauxhall arbeiteten, kamen in der Regel samstags, und die meisten droschen wie wild drauf los, rannten hinter dem Ball her und schlugen ihn möglichst hart. Meine Schwestern und ich saßen in Sweatshirt und Trainingshose vor den Courts auf einer Bank und warteten, bis die Männer fertig waren und wir mit unserem Training weitermachen konnten. Außer den Männern von Vauxhall kamen noch ein paar andere Spieler, und außerdem kam Ged.
Ged war dreizehn und still, und eigentlich hieß er Gethen. Er verbrachte viel Zeit in der Western Lane, weil seine Mutter oben in der Bar arbeitete und er nicht wusste, wo er sonst hingehen sollte. Seit dem Sommer war Ged in die Höhe geschossen und ziemlich linkisch, außer beim Squash. Auf dem Court war er total locker. Er hatte so eine Art, sich zu bewegen, aber es war nicht nur das. Er trainierte allein, und manchmal schaute ich ihm von der Galerie aus zu. Als wir einmal beide am Ende der Galerie standen und das Treiben im Schwimmbad beobachteten, hab ich ihn gefragt, ob es ihm etwas ausmache, dass ich ihm zuschaute, und er hat sich kurz zu mir umgedreht und dann wieder zum Schwimmbad runtergeschaut und nein gesagt.
Die meisten Leute kamen nur zum Schwimmen in die Western Lane, am tiefen Ende des Beckens gab es ein Sprungbrett, aber wir kamen zum Squash. Pa zahlte einen Mitgliedsbeitrag, der es uns erlaubte, die Courts zwischen sieben Uhr morgens und zehn Uhr abends jederzeit zu benutzen, wir mussten nur rechtzeitig reservieren. Dass die Farbe von den Wänden abblätterte, der Boden abgezogen werden musste und die Klimaanlage nur selten funktionierte, war Pa egal: Die Courts in der Western Lane hatten gläserne Rückwände.
Und es gab die Bar. Pa ging manchmal nach oben, im selben Anzug, den er zur Arbeit und zum Sportstudio und überallhin trug, und obwohl er nichts trank und nicht sehr gesprächig war, unterhielten sich die Leute mit ihm. Sie mochten ihn. Manche fanden heraus, dass er Elektriker und selbstständig war, und anfangs bekam er dadurch mehr Aufträge, weil die Leute ihn zu sich nach Hause bestellten, aber nach einer Weile sagte er auf solche Anfragen gern, er werde bald kommen, er habe nur gerade viel um die Ohren, und dann verabschiedete er sich und brachte für jede von uns von der Bar eine Flasche Cola mit, und während wir tranken, betrachtete er seine eigene Colaflasche und erzählte uns von Jahangir Khan, einem Spieler aus Pakistan, der noch als Junge zur Nummer eins der Weltrangliste aufgestiegen war. Eigentlich hatte nicht Jahangir, sagte Pa, sondern sein älterer Bruder Torsam Weltmeister werden sollen. Aber der Bruder war gestorben, als Jahangir fünfzehn war, und da hatte Jahangir angefangen, mit seinem Vetter Rahmat in Wembley zu trainieren. Rahmat hatte sich um Jahangir gekümmert und ihn angespornt. Er fuhr mit Jahangir in die Berge, auf den Khyber Pass, um ihn daran zu erinnern, woher er kam und wer er war. Als er zwei Jahre nach dem Tod seines Bruders die Weltmeisterschaft gewann, war Jahangir immer noch ein Junge. Über fünf Jahre, in denen er fünfhundertfünfundfünfzig Spiele bestritt, blieb er ungeschlagen. Fünfhundertfünfundfünfzig Spiele, ohne einmal zu verlieren, sagte Pa, und wir betrachteten Pas Colaflasche, während wir aus unserer tranken.
An einen Samstag erinnere ich mich besonders gut. Wir waren nach dem Gujarati-Unterricht zur Western Lane geradelt. Die Männer von Vauxhall waren nicht da. Ged trainierte in einem Court, und als er uns bemerkte, winkte er uns kurz und machte weiter. Wir setzten uns auf die Bank und betrachteten unseren Court, der leer war. Ich weiß nicht, was wir uns dachten. Ich nehme an, wir waren einfach erledigt nach der langen Woche. Alle Türen standen offen, und die Geräusche aus dem Schwimmbad hallten von den Wänden wider, und oben hörten wir Geds Mutter staubsaugen. Sie ließ den Staubsauger laufen, während sie Tische hin und her schob. Pa kam auch, aber da wir ihn nicht gleich hörten, sah er uns untätig vor dem leeren Court sitzen. Er stellte seine Tasche auf die Bank.
Wir nahmen unsere Schläger und betraten den Court, und Pa stand in seinem Anzug auf der anderen Seite der Stirnwand. Er zog sich nicht um. Er gab uns keine Anweisungen. Das weiße Notizheft, in das er normalerweise alle Einzelheiten unserer Trainingseinheiten eintrug, lag ungeöffnet auf der Bank hinter ihm. Wir begriffen, dass er uns das Training selbst gestalten lassen wollte, also machten wir ein paar Sprints und übten unsere Longlines. Während eine von uns trainierte, standen die anderen zwei am Rand. Nachdem Mona erst Khush und dann mir mehrere Minuten lang zugesehen hatte, wie wir versuchten, eng an der Wand zu schlagen, legte sie ihren Schläger auf den Boden, zog einen Schuh aus und platzierte ihn für uns als Zielpunkt zwischen Aufschlagfeld und Rückwand auf unserer Vorhandseite. Wir überanstrengten uns nicht. Wir übten immer und immer wieder denselben Schlag, rückten Monas Schuh ein bisschen nach vorn oder nach hinten, und weiter ging es. Genauso hätte Pa uns auch angeleitet, aber als wir es jetzt allein machten, wurde uns die Zeit lang, und wir fanden es anstrengend.
Als Khush zum fünften oder sechsten Mal longline schlug und der Ball im Aufschlagfeld landete, ging ich zu Mona nach vorn. Weil Khush so klein und zierlich war, hätte man meinen können, sie sei nicht in der Lage, einen Ball zu schlagen, aber das konnte sie sehr wohl. Sie war einfach nur müde. Ihre Beine waren müde. Mona schaute Pa unverwandt an, und nach einer Weile tat ich das auch. Und dann, als Khush einen Ball aufhob und beim Aufrichten zu Pa hinüberschaute, sahen wir ihn alle drei an.
Pas Gesicht, sein ganzer Körper, alles an ihm war so ausdruckslos, dass es uns verlegen machte. Er hatte gar nicht mitbekommen, dass wir aufgehört hatten zu trainieren, und wir spürten, dass wir ihn in einem ganz intimen Moment erlebten. Wir sahen ihn unverwandt an. Ich weiß nicht, was mich dazu veranlasste, in seine Richtung zu gehen, und auch nicht, was ich eigentlich wollte. Ich spürte, wie Khush meinen Schläger mit ihrem berührte. Sie gab mir den Ball und stellte sich neben Mona.
In meiner Brust breitete sich etwas aus, das sich anfühlte wie Eis.
Ich dachte an Schnee, an Weiß überall um mich herum. Ich nahm meine Haltung ein und schlug den Ball. Ich dachte nicht ans Schlagen. Ich dachte an den Jungen Jahangir Khan, der in den Bergen Nordpakistans durch den Schnee lief, und an jemanden, der irgendwo in der eiskalten Landschaft stand und ihn beobachtete. Selbst aus der Ferne war zu erkennen, wie das Wasser im Atem des Jungen blitzschnell in der Luft gefror, so als gehörte es noch zu ihm. Mein Schläger sauste durch die Luft, und ich spürte Pas Blick auf mir. Ich schlug gut. Meine Bewegung war fließend. Ich atmete leicht, machte die Schultern rund und schlug den Ball mit guter Länge.
Nach nicht einmal einer Minute sagte Mona: »Das reicht.«
Sie stand, nur an einem Fuß einen Schuh, am Rand des Courts und schaute Pa an.
Weder erwiderte Pa ihren Blick, noch wandte er sich ab, also machten wir unsere Dehnübungen, gingen vom Court und setzten uns auf die Bank. Pa blieb, wo er war.
»Wir haben keine Handtücher dabei«, sagte Mona.
Pa reagierte nicht. Sie sagte es noch einmal.
Da fing Pa an, leise zum leeren Court hin zu sprechen. Zuerst redete er über Jahangir Khans Familie – seinen Vater Roshan Khan, seine Onkel Hashim und Azam Khan, die abwechselnd zwölfmal die Weltmeisterschaft gewonnen hatten, seinen Onkel Nasrullah Khan, seinen Bruder Torsam, seinen Vetter und Trainer Rahmat. Die ganze Dynastie zählte er auf. Irgendwann müssen wir aufgehört haben zuzuhören, denn auf einmal redete er nicht mehr über die Khans, sondern über einen australischen Spieler namens Geoff Hunt, der mit fünfzehn seinen eigenen Bruder besiegt und die Landesmeisterschaft gewonnen hatte und danach fast zehn Jahre lang ungeschlagen blieb. Eine ganze Generation Pakistani war nicht in der Lage, Hunt zu schlagen, sagte Pa. Er war einfach zu gut. Die Pakistani konnten noch so gut sein, es nützte ihnen nichts, wenn sie gar nicht erst an den Ball kamen. Und dann kam Jahangir, sah, gegen wen er antreten musste, trainierte hart und besiegte Hunt.
»Weil man etwas Bestimmtes braucht.« Pas Stimme klang so seltsam, so fremd, dass ich mich konzentrieren musste, um ihn zu verstehen. »Man muss sich einer Sache voll und ganz verschreiben«, sagte er.
Mona schaute Pa an.
»Wir sind nicht die Khans«, murmelte sie.
Pa kam zur Bank und bückte sich, um sein Notizheft in seiner Tasche zu verstauen.
»Wir sind Brüder«, sagte er. »Inder und Pakistani.«
Mona antwortete nicht. Ihr Gesichtsausdruck war auch ohne Worte feindselig genug, und Pa sah es. Es war nicht wegen irgendetwas, das er getan hätte. Es war, weil er uns zu nichts gezwungen hatte. Es war, weil wir freiwillig eine Stunde auf dem Court verbracht hatten und es am nächsten Tag wieder tun würden.
Abends zu Hause überlegte ich manchmal laut, ob Ged wohl die ganze Zeit in der Western Lane war, ob er bis zum frühen Morgen dortblieb, bis der letzte Gast die Bar verließ und wir längst schliefen?
»Mach dir keinen Kopf«, sagte Khush dann.
Wir standen über das Waschbecken gebeugt und putzten uns die Zähne. Khush schob erst mir und dann sich selbst die Haare aus dem Gesicht. Am Morgen von Mas Beerdigung hatten wir mir einen Bob geschnitten, und das Haar war zu kurz und widerspenstig, um hinter den Ohren zu halten.
Wir hoben den Kopf und betrachteten einander im Spiegel. Khush hatte ein hübsches Gesicht. Herzförmig und offen. Bei ihr lag alles dicht an der Oberfläche. So ähnlich wie bei Onkel Pavan. Wenn sie gerührt war, füllten sich ihre Augen mit Tränen. War ihr heiß, begann sie sofort zu schwitzen. Die Leute sagten, ich sei Ma am ähnlichsten, weil ich ihre Gesten und ihre Mimik hatte. Ich glaube, das war es, was Khush im Spiegel in meinem Gesicht suchte. Aber wenn man zwei Menschen sehr nahesteht, ist es schwer, die Ähnlichkeit zwischen ihnen zu sehen.
»Es wird alles gut«, sagte sie.
»Ich weiß«, sagte ich, dann spuckten wir ins Becken und drehten den Wasserhahn zu.
Im Oktober hatten wir Herbstferien. Bis dahin war Mona fast immer sauer auf Pa, aber wenn sie nicht sauer war, bestand sie darauf, ihn bei seinen Besuchen zu begleiten. Pa machte fast jeden Sonntagnachmittag einen Besuch. Das hatten Ma und er immer getan, als Ma noch lebte. Er mochte es, wenn wir ihn begleiteten, aber er hat uns nie dazu gezwungen.
Besuche zu machen bedeutete, ein halbe oder eine ganze Stunde bei einem Onkel oder einer Tante oder einem entfernten Vetter herumzusitzen und dann beim nächsten und wieder beim nächsten. Oder wenn ein Verwandter krank war und im Krankenhaus lag, wurde der besucht. Als Ma noch lebte, war es so, wenn eine Tante oder eine ältere Kusine herausgefunden hatte, dass Mona mit einer Gruppe von Freunden, zu der auch Jungs gehörten, in der Stadt gesehen worden war oder dass Khush und ich mit Schürfwunden und blauen Flecken oder Löchern in der Schuluniform nach Hause gekommen waren, wurden wir kopfschüttelnd angesehen und ermahnt, an Ma zu denken, so als säße sie nicht direkt neben uns.
Je nachdem, zu wem wir gingen, schaffte Pa es, an einem Nachmittag drei oder vier Besuche zu erledigen. Er meinte, man müsse mit den Menschen in Verbindung bleiben und wir sollten uns ein bisschen Mühe geben. Wir beobachteten sein Gesicht und sahen, dass er nicht mit dem Herzen dabei war. Also sagten wir, wir würden diese Leute ja nicht mal kennen. Und er sagte, wenn man jemanden kennenlernen wolle, müsse man sich anstrengen. Wir würden uns schon untereinander genug anstrengen, antworteten wir und blieben zu Hause.
Am ersten Feriensonntag ging Mona mit Pa, und Khush und ich gingen zum Fort hinter unserem Haus. Das Fort bestand aus drei Ziegelwänden um einen Betonboden herum. Die Seitenwände waren hoch und stufenförmig angelegt. Jemand, der größer war als wir, würde vermutlich, wenn er mit den Füßen guten Halt fand, auf die untere Stufe klettern können und dann weiter bis ganz oben. Es wunderte uns, dass keins der anderen Kinder aus der Gegend hierherkam. Wir waren die Einzigen. Niemand spuckte uns auf den Kopf oder schickte uns nach Hause. Niemand verscheuchte uns von dort. Niemand kam auch nur in unsere Nähe. Im Sommer verbrachten wir täglich Stunden im Fort, schlugen Tennisbälle gegen die mittlere Wand oder saßen einfach nur herum.
Als Ma noch lebte, hatten wir uns alle zusammen im Fernsehen Wimbledon angeschaut und Erdbeeren mit Zucker gegessen, und wenn meine Schwestern und ich aus dem Fort zurückkamen, spielten wir, wir wären John McEnroe. Khush konnte ihn am besten nachmachen. Sie bekam seine Art zu reden und seinen Gang perfekt hin. Wir liebten und bewunderten ihn, aber es irritierte uns, dass Ma und Pa das auch taten. Wir waren noch Kinder, aber selbst uns fiel auf, dass er sich benahm wie ein verzogener Rotzbengel. Pa meinte, John McEnroe würde es selbst vielleicht gar nicht merken, aber seine Nörgelei und seine Wutanfälle sorgten dafür, dass er Aufmerksamkeit bekäme und Zeit gewänne, und in dieser Zeit schaffte er es, die ganze Welt gegen sich aufzubringen, sodass ihm nichts anderes übrig bliebe, als zu kämpfen. Es wunderte mich immer wieder, wie John McEnroe mit hängenden Schultern vom Stuhl des Schiedsrichters wegging, der ganze Körper ein Ausdruck der Niedergeschlagenheit, und wie er dann den Schläger heben und so spielen konnte, wie er spielte. Ich hatte immer das Gefühl, dass sein Körper seinen Geist irgendwie austrickste.
Vor der offenen Seite des Forts befand sich ein grasbewachsener Hügel so hoch wie unser Haus. Rechts davon stand ein fünfstöckiger Wohnblock mit rot-gelber Fassade, und auf den Wegen davor flitzten Kinder auf Fahrrädern und Skateboards umher. Gegenüber verlief die Hauptstraße mit der Bushaltestelle und der Unterführung, die wir mieden.
Ich hatte Khushs Tennisschläger und ließ die ganze Zeit einen Ball darauf hüpfen. Wir versuchten, an nichts zu denken. Als Pa sich am Morgen mit Mona zum Gehen fertig machte, hatte er seine Autoschlüssel aus der Jackentasche genommen und war dann mitten in der Küche stehen geblieben. Er hatte uns eine nach der anderen angesehen – Mona neben ihm, feingemacht und bereit zum Aufbruch, Khush an einem Ende des leeren Tischs, ich am anderen –, und in diesen wenigen Sekunden begriffen wir, dass ihm seine Situation klar vor Augen stand. Hätte er in dem Moment etwas gesagt, dann wäre es so etwas gewesen wie: Ich habe das alles nicht gewollt. Er sah all die langen Tage vor sich, mit uns und ohne Ma. Den Ball auf dem Schläger oder auf dem Boden hüpfen zu lassen, gehörte zu unserem Training. Lasst den Ball nicht aus den Augen, sagte Pa immer. Mir machte es Spaß, und ich hätte vielleicht nicht so schnell aufgehört, aber Khush fand es irgendwann langweilig, mir zuzusehen. Ich legte den Schläger weg, und wir setzten uns auf den Boden, lehnten uns, warm eingewickelt in Jacke und Schal, an die Wand des Forts, schauten zum Hügel hinaus und redeten darüber, was wir in den Ferien machen würden. Pa musste arbeiten, was bedeutete, dass wir, sobald wir unsere Pflichten erledigt hatten, den Morgen über faulenzen konnten, bis es an der Zeit war, in die Western Lane zu gehen, und danach konnten wir machen, was wir wollten. Weil wir samstags nicht zum Gujarati-Unterricht mussten, würden wir vormittags trainieren, und wenn Pa nicht zu müde war, machten wir vielleicht hinterher einen Ausflug. Unsere Verwandten aus Tansania, die uns eigentlich hatten besuchen wollen, waren nicht gekommen, wegen Ma. Sie dachten, ohne Ma würde es für Pa zu viel. Wenn sie gekommen wären, dann wären wir mit ihnen in den Safaripark in Woburn gefahren. Immer wenn wir Besuch aus Indien oder Afrika hatten, beluden wir den Kofferraum mit Currys und Zwiebelsalat und Parathas in Plastikdosen und fuhren mit unseren Gästen die M1 hoch, um ihnen die Löwen zu zeigen. Khush tat immer so, als würde sie sich zu Tode langweilen, aber in Wirklichkeit hatte sie genauso viel Spaß wie wir anderen. Wir waren begeistert von den Tieren. Wir fanden es großartig, in dem riesigen Park herumzukurven. Es amüsierte uns, wie viel Mühe unsere Verwandten sich gaben, sich Ma und Pa und uns gegenüber beeindruckt zu zeigen. Aber da unsere Verwandten diesmal nicht kamen, würden wir stattdessen in die Dunstable Downs oder zur Tree Cathedral in Whipsnade fahren.
Die Sonne schien ins Fort und wärmte uns das Gesicht.
Ich versuchte mal wieder zu ergründen, was Tante Ranjan wohl mit wild meinte. Normalerweise zählten wir alles auf, was uns dazu einfiel. Als Mädchen Shorts tragen. Im Haus rumrennen. Überhaupt rennen. Sich so mit dem Arm im offenen Autofenster abstützen, dass der Ellbogen rausragt. Aber Khush machte nicht mit. Sie saß einfach da und ließ mich reden. Ich verstummte. Wir schauten zum Hügel.
Khush sagte: »Tante Ranjan hat Angst vor uns, weil sie nicht rausfinden kann, was wir denken.«
Ich hätte Khush gern gefragt, was mit ihr los war. Neuerdings war sie dauernd in Gedanken versunken, sie hatte aufgehört, Radio zu hören und zu lesen und so. Aber das Merkwürdigste war, dass sie nachts aufstand und im Dunkeln auf den Treppenabsatz vor unserem Zimmer ging. Mona und ich lagen dann still da und lauschten. Wir waren uns nicht sicher, aber es hörte sich so an, als versuchte Khush, zu Ma Kontakt aufzunehmen. Sie redete auf Gujarati. Das hörten wir, auch wenn wir nicht verstanden, was sie sagte. Mit Pa und unseren Tanten und Onkeln hatten wir immer nur Englisch gesprochen, aber nicht mit Ma, weil sie Englisch zwar verstand, das Englischsprechen ihr aber schwerfiel. Und unser Gujarati war nicht gut genug. Deswegen hatten wir Ma immer so genau zugehört und so aufmerksam zugesehen. Vielleicht hatten wir deswegen immer so an ihr herumgezerrt, uns an sie gedrückt, ihre körperliche Nähe gesucht. Seit wir aus Edinburgh zurück waren, stand Khush jede zweite oder dritte Nacht da draußen auf dem Treppenabsatz.
Jetzt hätte ich Khush gern gefragt, ob sie wirklich glaubte, dass Ma hörte, was sie da draußen auf der Treppe sagte. Aber es war gerade so schön, da in der Sonne zu sitzen, und deswegen behielt ich die Frage für mich.
Khush zog die Handschuhe aus und stopfte sie in ihre Jackentaschen.
»Ged ist in Ordnung, oder?«, fragte sie nach einer Weile.
»Was?«
Sie drehte sich zu mir um. Dann fragte sie schüchtern: »Magst du ihn?«
Ich schaute sie an, und plötzlich war ich sehr niedergeschlagen.
»Er ist in Ordnung«, sagte ich.
Die Sonne begann hinter dem Hügel unterzugehen, es kühlte sich ziemlich schnell ab. Der Hügel und der Wohnblock verloren alle Farbe, und es wurde ganz still. Im kalten, farblosen Halbdunkel sahen wir den Hund Fourth Avenue mit seinem seltsam schwankenden Gang aus dem Schatten hinter dem Hügel hervorkommen, die gelben Hundezähne gebleckt. Wir hatten ihn Fourth Avenue getauft, weil er immer aus dieser Richtung kam, obwohl er manchmal auch einfach da war und dann plötzlich wieder weg. Er war groß und dunkel. Er lief gemächlich in der Gegend herum, bewegte den großen verlausten Kopf langsam hin und her und ließ seine eklige rote Zunge raushängen. Er war gruselig, nicht von dieser Welt. Eine von uns hatte gerade etwas gesagt und verstummte. Wir warteten. Fourth Avenue kam um den Hügel herum und lief an der offenen Seite des Forts vorbei wie ein Ungeheuer, so als hätte er keinen festen Platz, so als gehörte alles hier ihm. Seine Schultern bewegten sich langsam, und als er direkt vor uns vorbeikam, so nah, dass er unser Herzklopfen hören musste, drehte er den Kopf und schaute Khush an, voll ins Gesicht – ein Auge gelb, das andere wässrig und dunkel wie sonst was –, dann wandte er sich ab und lief weiter.
Khush legte eine Hand auf meine, um mich zu beruhigen, aber ich hörte nicht auf zu zittern. So wie Fourth Avenue Khush angesehen hatte, hätte man meinen können, die beiden gehörten zusammen. Ich wollte nach Hause, aber wir mussten noch warten, denn Fourth Avenue würde um den ganzen Wohnblock herum traben und an unserer Haustür vorbei weiter in Richtung Schule.
»Er hat dich gesehen«, flüsterte ich.
Khush zog sich den Schal über den Mund.
»Jetzt können wir reingehen«, sagte sie durch die Wolle, als der Hund nicht mehr zu sehen war.
Wir gingen langsam hinter den Häusern unserer Straße vorbei. Zu Hause machte Khush den Kühlschrank auf und fragte, ob ich eine Cola wollte, aber ich sagte, eigentlich nicht, und ging in den Garten. Ich blieb draußen, bis Pa und Mona nach Hause kamen. Mona machte die Tür zum Garten auf, und ich dachte, sie würde mich ins Haus rufen, aber sie blieb einfach eine Weile dort stehen, dann verschwand sie in der Küche und ließ die Tür offen. Ich ging hinein. Mona redete nicht mit Pa. Sie lief unruhig hin und her, und als ich sie fragte, wo sie und Pa gewesen seien, sagte sie: »Nirgendwo«, und schaltete das Radio an. Khush war im Wohnzimmer und zappte von einem Fernsehsender zum nächsten. Um acht wurden Radio und Fernseher ganz laut und verstummten dann plötzlich. Die Stille, die folgte, war schrecklich. Khush kam in die Küche, um zu fragen, was wir gemacht hätten, aber als sie unsere Gesichter sah, sagte sie nichts. Stattdessen ging sie früh ins Bett. Es begann heftig zu regnen. Es war ein fürchterlicher Abend, bei allen lagen die Nerven blank, und ich wusste nicht, warum, und vielleicht wusste es keiner von uns.
Um zwei Uhr, als wir hätten schlafen sollen, waren wir alle hellwach. Mona und ich lagen still im Bett und versuchten – durch unsere Decken und durch den Lärm des Heizlüfters und des Regens und der Äste des Pflaumenbaums, die gegen unser Fenster schlugen –, Khush zu lauschen, die mal wieder auf dem Treppenabsatz stand und mit Ma redete. Sie sprach mit tiefer Stimme, es war eher ein Flüstern, und es klang ängstlich, und das machte auch uns Angst. Pas Zimmer war nebenan, und er musste sie auch hören. Wir wussten, wenn wir rausgingen, würden wir sie auf dem Absatz vorfinden, gegen das Geländer gelehnt, über das wir alle unsere Jacken gehängt hatten, und wenn wir sie holen gingen, würde sie wieder ins Zimmer kommen und sich ins Bett legen. Aber niemand ging sie holen. Sie stand da draußen, flüsterte und lauschte, und irgendwie schien es, als würde tatsächlich etwas durchdringen.
Um kurz vor sechs hörten wir sie ins Zimmer kommen. Khush fand ihren Weg zwischen den Betten und all unseren Sachen hindurch, wahrscheinlich hatte sie sich an die Dunkelheit gewöhnt. Sie stieß sich an keinem Bettpfosten und stolperte über keinen Schläger und keinen Rucksack. Sie schlüpfte unter ihre Decke und blieb still liegen, bis eine Stunde später alle um sie herumwuselten und sie auch aufstehen musste.
Ich überließ Khush meinen Platz in der Schlange vor dem Bad. Während meiner Wartezeit drückte ich mich an den Heizkörper in unserem Zimmer und suchte nach einer warmen Stelle. Seit mehr als einem Monat befand sich Luft in allen unseren Heizkörpern, sodass große Teile kalt blieben und es im Haus nie richtig warm wurde. Meine Schwestern und ich trugen langärmelige Kapuzenshirts und sagten Pa nichts. Früher hätte Pa das Problem sofort behoben, aber jetzt kümmerte er sich nicht darum. Mona kam und stellte sich neben mich. Wir suchten nicht nur Wärme. Wir wollten das Klopfen im Heizkörper spüren. Wir wussten, dass das nur die eingeschlossene Luft war. Aber wir wollten es spüren.
Als Khush aus dem Bad kam, ging ich hinein. Ich klappte den Klodeckel herunter, setzte mich darauf und wartete, dass der Boiler sich wieder füllte. Dabei dachte ich, dass eigentlich ich nachts auf dem Treppenabsatz stehen müsste. Und ich wusste, dass Mona dachte, sie müsste dort stehen.
Im Bad war es kälter als in unserem Zimmer. Stellenweise blätterte die hellblaue Wandfarbe ab, und über der Badewanne war eine Fliese lose. In dem Sommer, bevor ich in die Schule kam, hatten wir eine ganze Woche lang unsere Wände gestrichen und uns riesig auf die ersten Gäste gefreut, die das Ergebnis sehen würden. Sie kamen zu meinem siebten Geburtstag. Am Morgen meines Geburtstags saß ich genau wie jetzt auf dem Klodeckel, während Ma neben mir vor dem Spiegel stand und sich frisierte und Khush und Mona auf dem Badewannenrand hockten. Wir hatten die Tür zugemacht. Alles roch neu, und wir waren glücklich. Ma musste immer wieder mit der Handkante den Spiegel abwischen, weil er beschlug. Nachdem sie sich das Haar gebürstet und zu einem Knoten zusammengesteckt hatte, nahm sie ihr Sindur aus dem Schrank. Es war eine kleine, flache, kupferne Dose, und das Pulver war leuchtendrot. Zinnoberrot, sagte Khush. Ma tauchte einen Finger in das Pulver und färbte ihren Scheitel rot.
Kann ich das haben? flüsterte ich. Das wollte ich jedenfalls sagen, aber ich brachte nur heraus: Gibst du es mir?
Ma lachte und tätschelte mir die Wange. Nach deiner Hochzeit, sagte sie.
Als Ma nach unten ging, sagte Khush, ich solle sitzen bleiben. Dann nahm sie das Pulver noch einmal aus dem Schrank, tauchte einen Finger hinein, genau wie Ma es gemacht hatte, und färbte auch mir den Scheitel rot. Dann tätschelte sie mir die Wange, so wie Ma es gemacht hatte, und sagte: »Alles Gute zum Geburtstag.«
Und so bin ich nach unten gegangen. Tante Ranjan war da und Onkel Pavan und alle anderen. Ma musste sich zum Fenster drehen, um ihr Lächeln zu verbergen. Khush sah, dass es Ma gefiel, und fühlte sich bestätigt, obwohl Tante Ranjan sagte, das bringe Unglück. Khush lief nach oben, um Mas roten Hochzeitsschleier zu holen. Sie legte ihn mir über den Kopf und machte mich zu einer Braut. Pa hatte einen Hocker mitten ins Zimmer gestellt, auf dem mein Geburtstagskuchen stand, und Khush hieß mich siebenmal um den Hocker herumgehen, als wäre er ein Hochzeitsfeuer, und dann führte sie mich im Zimmer auf und ab, um mich den neuen Verwandten vorzustellen. Als sie mich schließlich zu Pa führte, betrachtete er mich in Mas Schleier, dann schaute er Ma an und musste sich ebenfalls abwenden, aber nicht, um etwas zu verbergen, sondern weil das Wohnzimmer zu klein war für seine Gefühle. Es war Khush, die sich daran erinnerte. Ich erinnerte mich nur, wie ich an meinem siebten Geburtstag im Wohnzimmer umhergegangen war und alles durch Mas roten Schleier gesehen hatte, aber als dann meine Tanten nach der Beerdigung Mas Sachen durchgingen und eine sich Mas Sindur nahm, hatte Khush mir die Geschichte erzählt.
Ich stand auf und schaute in den Spiegel. Fuhr mit einem Finger über meinen Scheitel, und als das Wasser heiß war, wusch ich mir das Gesicht. Ich ließ mir Zeit mit dem Duschen und Anziehen. Ich wollte sauber und hübsch aussehen, für alle Fälle.
Pa war schon zur Arbeit gegangen, und wir würden uns erst in zwei Stunden auf den Weg zur Western Lane machen müssen. Mona saß in unserem Zimmer am Schminktisch. Khushs Bett war schon gemacht, und ihre Nachtsachen lagen ordentlich gefaltet auf dem Kopfkissen. Als ich nach draußen ging, hockte sie auf der Türschwelle. Sie trug Pas Ulster-Mantel mit der großen Pelerine. Die Ärmel hatte sie hochgekrempelt, aber wenn sie aufstand, würde der Saum über den Boden schleifen, das war nicht zu übersehen. Die Wand gegenüber und der Boden und die Türschwelle waren mit Raureif überzogen.
»Was machst du hier?«
Sie blickte auf und lächelte. »Du siehst hübsch aus.«
Ich schabte mit der Stiefelkante etwas von dem Raureif von der Schwelle und setzte mich neben sie. »Danke.«
Ihre Finger waren blaugefroren, und als sie sah, dass ich auf ihre Hände schaute, schob sie sie schnell in die Manteltaschen.
»Khush«, fragte ich, »was hat sie zu dir gesagt?«
Ich dachte schon, sie würde nicht antworten, aber dann fragte sie: »Wer?«
»Ma.«
»Oh.« Sie stand auf, wobei sie den Saum von Pas Mantel anhob, indem sie ihre Hände in den Taschen hob. »Sie hat nichts gesagt.«
»Aber sie war doch auf dem Treppenabsatz, oder?«
Sie sah mich an. »So ist es nicht«, sagte sie.
»Wie ist es dann?«, fragte ich.
Und noch während ich die Frage aussprach, spürte ich, wie mir etwas, das ich kaum greifen konnte, entglitt, denn schließlich wusste ich, dass da nichts war. Khush stand einfach auf dem Treppenabsatz und versuchte irgendetwas.
»Ist okay«, sagte ich. »Du brauchst es mir nicht zu erzählen.«
Khush setzte sich wieder und schaute zu den Garagen gegenüber und in die schmale Gasse, die in die Arrow Close führte. Sie nahm die Hände aus den Manteltaschen, sie waren immer noch blaugefroren. Plötzlich wollte ich ihr das mit Ged erklären. Es hatte mich geärgert, dass sie mich nach ihm gefragt hatte, und das tat mir leid, aber eigentlich wusste ich immer noch nicht so richtig, was ich sagen sollte. Es hatte etwas damit zu tun, wie er einmal meinen Schläger repariert hatte. Oder mit seinem Stottern. Man musste still sein und warten, bis er seine Worte herausbrachte, und manchmal verstummte er mitten im Satz, nur ganz kurz, aber man spürte, wie er sich mühte, und in dieser Stille war es, als käme man ihm näher, obwohl man sich gar nicht von der Stelle rührte. Ich betrachtete Khushs Profil. Sie hätte gewusst, wie man das mit Ged ausdrücken könnte. Ich wollte wieder ins Haus. Khush rührte sich nicht. Sie hatte die Hände auf die Schwelle gelegt, ihre Finger waren so blau, dass mir die eigenen Finger wehtaten.