Violet freute sich auf den Lammrücken, den Maître Dryden auf die Karte gesetzt hatte. Noch mehr freute sie sich aber auf Lionel. Seit der verpatzten Verabredung hatten sie keine Gelegenheit für ein weiteres Treffen gehabt. Es tat ihr leid, was an jenem Abend passiert war. Violet nahm in ihrer Nische im Golden Pavillon Platz, die abgeschieden genug lag, damit sie nicht beim Essen gestört wurde, aber doch entsprechend präsent, dass die Hotelgäste sahen, Miss Mason speiste in ihrem eigenen Haus.
Lionel war ein aufmerksamer, integrer Mann, ein liebevoller Mensch und ein zärtlicher Liebhaber. Sie konnte sich glücklich schätzen, mit ihm zusammen zu sein. Nur manchmal sagte eine Stimme tief in ihrem Inneren, dass etwas zwischen ihnen nicht stimmte. Sie war überzeugt, dass es an ihr lag. Was Beziehungen betraf, war Violets Biographie eine Folge von Niederlagen. John, der Hausmechaniker, mit dem sie ein tiefes Gefühl verband, hatte sich das Leben genommen. Der Zweifel nagte an ihr, dass sie Mitschuld daran trug. Max Hammersmith, der Intellektuelle, der ihr das Tor zum Journalismus aufstieß, hatte Violet zwar geliebt, aber eine andere geheiratet. Schuld daran war Violets dummer Stolz gewesen: Sie wollte Max seine berufliche Unterstützung nicht mit Liebe zurückzahlen müssen. Nach mehreren Affären mit ihm, nachdem Violet den Journalismus an den Nagel gehängt und das Savoy übernommen hatte, kündigte Max an, sich endlich von seiner Frau zu trennen und mit Violet ein neues Leben zu beginnen. Am selben Tag wurde er durch die Explosion einer deutschen Fliegerbombe getötet.
Violet war mittlerweile fast vierzig. Sie wünschte sich, endlich zur Ruhe zu kommen und gestand sich ein, diese Ruhe an Lionels Seite noch nicht gefunden zu haben.
Sie schlug eine Mappe auf. In zwei Tagen sollte sie eine Eröffnungsrede halten und wollte sich vor dem Lunch noch Notizen machen. Den Stift in der Hand, beobachtete sie, wie die Herzogin von Londonderry und ihr Sohn ein paar Tische weiter Platz nahmen. Tyrone wählte den Wein auf der Karte, die beiden lachten. Violet konnte kein Anzeichen dessen erkennen, was Lady Edith neulich behauptet hatte, nämlich dass Tyrone sich in der Öffentlichkeit seiner Mutter angeblich schämte. Sie hatten wohl vorreserviert, was zu Spitzenzeiten, wenn die Küche mit den vielen À‑la-carte-Bestellungen kämpfte, sinnvoll war. Die Duchess bekam ihren Lammrücken noch vor Violet.
Tyrone hatte eine andere Wahl getroffen. Der Kellner servierte ihm eine Art Auflauf. Stand heute eine Quiche auf der Menükarte? Violet sah nach, konnte aber nichts Überbackenes entdecken.
Der junge Lord begann zu essen. In den nächsten Sekunden wurde Violet Zeuge einer faszinierenden Verwandlung. Überraschung, Hingabe, Lust, Begeisterung, all das entdeckte sie in den Zügen des jungen Mannes. War ihr Sir Tyrone bis jetzt respektvoll und zurückhaltend erschienen, öffnete er sich in diesen Minuten auf unvorhersehbare Weise. Nach den ersten Bissen wurden seine Augen groß, größer, er hielt inne, kaute, schmeckte, und gab seinem Genuss durch angehobene Brauen und zitternde Nasenflügel Ausdruck.
Seine Mutter fragte ihn, was los sei. Tyrone wies auf den Teller. Amüsiert wandte Lady Edith sich ihrem Lamm zu. Tyrone begann schneller und schneller zu essen, warf den Kopf zurück, kaute in höchster Konzentration, lächelte, trank einen Schluck Wasser, tupfte den Mund mit der Serviette ab und aß mit einer Hingabe weiter, als wäre es das letzte Gericht seines Lebens. Er war lange vor der Duchess fertig. Mit verhangenen Augen spürte er der Geschmackssensation eine Weile nach.
Violet wollte nun doch wissen, welches Gericht Sir Tyrone begeistert hatte. Sie war drauf und dran, den Kellner zu sich zu bitten, doch der Lord kam ihr zuvor. Er winkte dem Oberkellner, der sich vor ihm verbeugte. Sir Tyrone äußerte eine Bitte, die der andere sich sofort anschickte zu erfüllen.
Violet lehnte sich zurück. Keine Zeile hatte sie noch an ihrer Rede geschrieben. Nach wenigen Minuten kehrte der Kellner mit einem Mitglied der Küchenmannschaft zurück, es war July Gilbert. Sie hatte keine Zeit gehabt, sich umzuziehen. Mit fleckiger Schürze, weißer Mütze und Schweiß auf der Stirn trat sie vor den Gast. Als der Herzogssohn aufstand und July die Hand reichte, musste sie die ihre erst an der Schürze abwischen. Ein Ausdruck der Begeisterung spiegelte sich in seinem Gesicht, während er ihr sein Lob aussprach, die Freude über einen Genuss, den er der jungen Köchin wortreich mitteilte.
Da July für die Legumerie zuständig war, war Sir Tyrone offenbar ein vegetarisches Gericht serviert worden. July hatte offenbar all seine Erwartungen übertroffen. Violet freute sich an der kleinen Szene, es begeisterte sie, wenn jemand durch Hingabe in seinem Beruf andere glücklich machte.
July war rot geworden, sie knickste vor dem jungen Mann. Andere Gäste drehten sich um. Als sie den Speisesaal verließ, erhob sich ein kleiner Applaus. Die ungewohnte Aufmerksamkeit ihrer Person gegenüber war July peinlich, die letzten Schritte rannte sie fast. Während Tyrone Platz nahm, sah ihn seine Mutter staunend, herzlich, nachdenklich an. Lady Edith gefiel, was ihr Junge gerade getan hatte.
Umsonst setzte Violet den Stift auf das Papier. Von zwei Seiten näherten sich Personen, die es in der Hand hatten, sie von ihrem Vorhaben abzubringen. Von links kam der Kellner mit dem Lammrücken, rechts näherte sich Lionel. Violet entdeckte eine sonderbare Düsternis an ihm.
»Hallo, mein Lieber«, begrüßte sie ihn. »Was machst du denn für ein Gesicht?«
* * *
Der frühe Nachmittag war nicht Lionels bevorzugte Stunde, um mit Violet zu schlafen. Er schätzte eher die Absichtslosigkeit des späten Abends, wenn nichts mehr zu tun war und er seine Gedanken abschalten konnte. Dann hielt die Erotik bei ihm Einzug. Dabei war Lionel kein Ausbund an Phantasie, und das fand Violet schade. Sie hätte es manchmal genossen, mit ihm in einem freien Gästezimmer zu verschwinden und dort, sozusagen als anonymer Hotelgast, Liebe zu machen. Mit Max hatte sie das getan, es war schön und abenteuerlich gewesen.
Der Grund für solche Träumereien lag in Violets Sehnsucht, das Leben manchmal aus einer anderen Perspektive zu betrachten und Wege abseits der ewig gleichen Pfade zu gehen. Die ungezählten Stunden, Tage und Jahre, in denen sie nichts weiter war als Hoteldirektorin und Mutter, lasteten manchmal auf ihr. Das Leben tickte einfach so dahin. Sie war zufrieden an dem Platz, wo sie stand, doch mitunter wünschte sie sich eine kleine Hintertür in das Land of might have been, jenes verheißungsvolle Land der anderen Möglichkeiten. Hegte nicht jeder mitunter Phantasien, wie sein Leben verlaufen wäre, hätte er nicht diese und jene Entscheidung getroffen?
Lionel schien solche Auswege des Geistes, Fluchtwege des Herzens nicht zu kennen. Er lebte, wie man als Ex‑Lieutenant und Mathematikprofessor zu leben hatte, korrekt und bescheiden. Und weil die Liebe zu einem gesunden Gefühlshaushalt dazugehörte, liebte er Violet. Er hatte Spaß am Sex mit ihr, kehrte danach aber sofort wieder in die Haut des korrekten Lionel zurück.
Violet hatte nicht immer so über ihn gedacht. Während der Kriegsjahre schätzte sie Lionels nüchternen realistischen Charakter. Der Irrsinn einer Welt in Waffen, die Angst einer Schwangeren, Gebärenden, einer Mutter, die nicht wusste, ob ihr Kind überleben würde, hatte Violet fast zerrissen. Damals war Lionel der Anker gewesen, der ihr schwankendes Schiff hinderte, auf hoher See zu zerschellen.
Nun war der Krieg vorbei, die Nation, die Welt atmete auf. Man wollte wieder fröhlich, sorglos und ausgelassen sein. In diesem Punkt konnte Lionel nicht mithalten. Er blieb, der er war, und das machte Violets Herz manchmal schwer. Umso einmaliger fand sie, was gerade passiert war. Sie lagen im Bett unter dem Kuppeldach und hatten miteinander geschlafen. Es war fünfzehn Uhr, das bedeutete, sie hatten anderthalb Stunden ununterbrochen Liebe miteinander gemacht. Lionel hatte sich gebärdet wie ein Urwaldmensch, enthemmt, wie sie ihn noch nie erlebt hatte. Er war laut geworden, was ihm sonst nie unterlief, doch vorhin war der Gesang seiner Ekstase bis in die Kuppel gestiegen. Violet war froh, dass Maxine erst nach vier Uhr aus dem Kindergarten geholt wurde und auch sonst niemand die Suite betreten hatte.
Sie war erschöpft, befriedigt, nur vollkommen glücklich war sie nicht. Ein Mann wie Lionel tat niemals etwas ohne Motiv. Wenn sich der Mathematikprofessor in einen brüllenden Faun verwandelte, gab es dafür einen Grund. Beim Mittagessen hatte er ihr keine Erklärung für seine mürrische Laune gegeben. Einsilbig bis an die Grenze der Unhöflichkeit war er gewesen, bis sie vorgeschlagen hatte, bei seiner Laune sollten sie nach dem Essen besser auseinandergehen. Das hatte seinen männlichen Widerspruchsgeist geweckt. Lionel wollte sich nicht aus dem Savoy hinauskomplimentieren lassen.
»Gehen wir hinauf?«, fragte er.
»Damit du mich weiter anschweigst und ich die ganze Unterhaltung allein stemmen muss?«
»Ich war in Gedanken, verzeih. Der Schulkram, mein Sisyphos-Job, meine gelangweilten Schüler, das hat mir heute zu schaffen gemacht. Lass uns hochgehen. Ich war ein Stinkstiefel. Ich mache es wieder gut.«
An seinem Lächeln erkannte sie, dass der freundliche Lionel über den Miesepeter wieder die Oberhand gewann. Violet ging voraus. Im Fahrstuhl küsste er ihr Ohrläppchen. Im Korridor streichelte er ihren Nacken. Kaum in der Suite angekommen, küsste er sie leidenschaftlich, zog sie aus, er liebte sie, er ließ sich lieben, wieder und wieder.
Nun war Lionel eingeschlafen. Er atmete mächtig, manchmal war auch ein kurzes Schnarchen dabei. Violet betrachtete ihn im Bett sitzend. Es war schön und unverhofft gewesen, so spontan, wie sie es sich wünschte. Doch irgendetwas gefiel ihr nicht daran. Wenn sie nur wüsste, was es sein könnte. Vorsichtig schob sie die Decke zurück und glitt aus dem Bett.
Ein Mathematiklehrer konnte es sich vielleicht leisten, den Nachmittag zu verschlafen, Violet hatte dieses Privileg nicht. Sie nahm ihre Kleider, schlüpfte ins Bad und zog sich an.