»Guten Abend, Mr Stewart, alias Antoine Descoyne, Meisterdieb und Fassadenkletterer.«

Weshalb begrüßte sie den Eindringling mit diesen Worten? Weil sie sonderbarerweise keine Furcht vor ihm verspürte. Nach dem ersten Schreck sah Violet seinem unkonventionellen Besuch ruhig entgegen.

»Ich muss mich für mein Eindringen entschuldigen«, sagte er. »Ich sah nur keinen anderen Weg, zu Ihnen zu gelangen.«

»Keinen anderen Weg als über die Fassade des Savoy?«

»Es hat mich einige Kraft gekostet.« Stewart nahm zwei weitere Stufen. »Ich bin nicht im Training, und bei Regen klettert es sich noch schwerer.«

»Was veranlasst Sie zu Ihrem Besuch?«

»Ich muss Sie unbedingt sprechen, Miss Mason.«

»Ich erwarte jemanden.«

»Wann?« Er erreichte den unteren Absatz.

»Jederzeit.«

»Könnten Sie das verschieben?«

»Wieso sollte ich?«

»Weil ich Ihnen einen Vorschlag machen möchte, der für das Savoy von Bedeutung ist.«

Sie trat neben den Nachttisch. »Ich brauche nur auf diese Klingel zu drücken, und gleich steht ein Angestellter im Zimmer.«

»Wie angenehm, dass Sie auf den Zimmerservice nicht so lange warten müssen wie Ihre Gäste.« Er sagte es mit todernstem Gesicht, doch sie entdeckte den Schalk in seinen Augen.

»Als Nächstes wird dann der Hoteldetektiv auftauchen, und ich wünsche niemandem, Bekanntschaft mit Mr Oppenheim zu machen.«

»Sie werden ihn nicht brauchen.«

Als Stewart näher kam, entdeckte sie, dass er klitschnass und schmutzig war. »Wie sehen Sie denn aus?«

»Wer das Savoy über die Regenrinne und den Blitzableiter betritt, bleibt nicht sauber.«

Angesichts seiner bedauernswerten Aufmachung seufzte sie. »Was tue ich jetzt mit Ihnen?« Violet ging ins Bad und kam mit einem Handtuch wieder.

»Danke, zu gütig.«

»Ich möchte nur vermeiden, dass Sie meinen Teppich volltropfen. Am besten ziehen Sie Ihre Schuhe aus.«

»Wenn ich mich barfuß in Ihrem Schlafzimmer aufhalte, könnte man von meinem Besuch einen falschen Eindruck bekommen.«

»Sie sind kein Besuch, Mr Stewart«, entgegnete sie kühl. »Sie sind ein Einbrecher. Sagen Sie, was Sie wollen, danach entscheide ich, ob ich Sie der Polizei übergebe.« Aus schmalen Augen sah sie ihn an. »Eigentlich sollte ich es tun.«

Er rubbelte sein Haar mit dem Handtuch. »Ich bin ein wenig beunruhigt, weil Sie gleich noch jemanden erwarten.«

»Das sollten Sie auch sein.«

Er gab ihr das Handtuch zurück. »Miss Mason, ich habe einen Plan, wie der Juwelendieb zu fassen ist und ich zugleich meine Unschuld beweisen kann.«

Mit dem Tuch vor der Brust stand sie da. »Ich höre.«

»Ist es möglich, Ihren Besuch zu bitten, später zu kommen?«

Der berüchtigte Juwelendieb wagte es, bei Violet einzudringen. Er ging davon aus, dass sie nicht die Polizei rief. Er machte ihren Teppich schmutzig und setzte seiner Unverfrorenheit die Krone auf, indem er verlangte, sie solle Lionel ausladen. Mehr und mehr machte Stewarts Betragen Violet wütend. Dabei ärgerte sie sich vor allem über sich selbst. Was war das nur mit Gary Stewart, dass sie ihm so viel durchgehen ließ?

»Meine Tochter schläft nebenan. Wenn sie aufwacht, kommt sie zu mir herüber.«

»Gönnen Sie mir nur ein paar Minuten, Miss Mason. Dann entscheiden Sie, ob Sie meinen Vorschlag annehmen oder nicht.«

Nachdenklich griff Violet zum Telefon.

»Wen rufen Sie an?«

Sie wählte die Hauszentrale. »Dorothy, geben Sie mir die Secondary Kensington School. Die Durchwahl von Lieutenant Burke, Sie wissen schon.«

Während Violet wartete, warf Stewart einen Blick in die Runde. Der japanische Paravent fing seine Aufmerksamkeit.

Sie hob den Kopf. »Lionel? Gut, dass ich dich noch erreiche. – Nein, du bist nicht zu spät dran.« Sie atmete tief durch. Sie hätte ihm jetzt die Wahrheit sagen können: Ein Mann war bei ihr eingedrungen. Der gesuchte Juwelendieb. Sie brauchte Hilfe. Eine Frau bat ihren Partner, ihr in einer schwierigen Situation beizustehen. Es wäre das Natürlichste von der Welt.

»Ich finde, es ist heute schon ein bisschen spät«, sagte sie stattdessen. »Daher dachte ich, wir verschieben es besser auf morgen.«

Die erste Lüge. Sie empfand diese Lüge so schlimm, so falsch, als hätte sie Lionel soeben betrogen. Dort stand Gary Stewart, ernst und erschöpft. Er zeigte keine Genugtuung, weil Violet ihrem Besucher absagte. Sie dagegen fühlte sich schrecklich dabei.

»Das ist lieb, dass du es so nett aufnimmst«, sagte sie ins Telefon. »Es tut mir leid. Morgen haben wir dann wieder unser gewohntes Dinner im Kuppelzimmer, einverstanden?«

Mit einer traurigen Geste senkte sie den Hörer und legte auf.

»Danke.« Gary Stewart stand vor ihr.

»Ich weiß nicht, was ich da tue. Ich brauche jetzt etwas zu trinken. Sie auch?«

»Mir ist tatsächlich ein wenig kalt.«

Violet musterte ihn prüfend. »Mein Paravent gefällt Ihnen, nicht wahr?«

»Ein schönes Stück.«

»Wenn gleich der Zimmerservice kommt, stellen Sie sich bitte dahinter.«

»Eine gute Idee. Ich sollte auch das schmutzige Handtuch mitnehmen.«

»Richtig.« Sie gab es ihm. »Scotch oder Bourbon?«, fragte Violet.

»Das überlasse ich Ihnen.«