Raschmadaramm!, brauste das Orchester unter Arturo Benedettis Leitung auf. Der Maestro hatte die große Besetzung auf das Podium geholt. Alle Schlagwerke, die Pauken, den Holzblock, sämtliche Kontrabässe, die Hörner in doppelter Besetzung, zwei Kontrafagotts, drei Tuben und nicht zuletzt das Euphonium. Mit dieser Orchesterstärke vermochte er den großen Klang zu erzeugen, den einzig möglichen Klang für den Ball im Savoy.
Raschmadaramm! Viele Menschen drehten sich schon im Tanz. Der Golden Pavillon verfügte normalerweise über keine Tanzfläche, doch für den Frühlingsball war alles möglich gemacht worden. Violet hatte den Saal innerhalb nur eines Tages aufwendig umgestalten lassen. Zum Dinner am Vorabend speisten die Gäste noch im Golden Pavillon, doch schon das Frühstück wurde ihnen in der Queen-Victoria-Hall serviert. Das galt auch für das Mittagessen. Als die Dinnertime das nächste Mal näher rückte, reihten sich Limousinen und Taxen auf dem Strand, um in die Einfahrt des Savoy einzubiegen.
Raschmadaramm!, rauschte es wieder auf. Kaum jemand hatte eine Ahnung, wer der Schöpfer der Melodie war. Arturo Benedetti hatte das Werk selbst komponiert. Er nannte es den Violet-Walzer, zu Ehren seiner Direktorin, die zugleich Benedettis heimliche Liebe war. Sein schwarzes neapolitanisches Haar hatte während der Zeit, die er in Violets Diensten stand, die Farbe eines Silberlöwen angenommen, aber immer noch verehrte er Miss Mason, was von Signora Benedetti liebevoll geduldet wurde.
Raschmadaramm! Wer dazu imstande war, drehte sich im Dreivierteltakt, die Geldmacher mit ihren Damen, die Einflussreichen mit ihren Mätressen, auch jene, die sich nur für einflussreich hielten. Die Künstler und die Kritiker waren erschienen. Unter den anwesenden Schauspielern fanden sich kommende Größen, aber auch solche, deren Stern am Verglühen war. Der Adel und die Regierung teilten sich die Seitenlogen. Premierminister Attlee nahm mit seinem kompletten Kabinett an dem Ball teil, Mitglieder beider Häuser gaben sich ein Stelldichein.
In der Loge, die dem Orchester am nächsten lag, hatten Lady Edith und ihr Sohn Platz genommen. Die Herzogin verstand von Musik herzlich wenig und hörte sie am liebsten aus der Ferne. Tyrone aber genoss die Atmosphäre in unmittelbarer Nähe der Kontrabässe. Selbstvergessen hielt er den linken Arm erhoben und kopierte pantomimisch die Fingersätze der Musiker an den Griffbrettern. Er liebte dieses Instrument, das alle anderen im Orchester an Größe übertraf. Der Bass wurde selten als Soloinstrument eingesetzt, daher unterschätzten ihn die meisten. Doch gerade deshalb war dem jungen Herzog dieses Instrument so lieb.
Was sich sonst im Saal tat, beeindruckte Tyrone wenig. Er übersah die Juwelen behangenen Ehefrauen ebenso wie ihre freizügig dekolletierten Töchter. Würdenträger flanierten an seiner Loge vorbei, elegante Triefaugen, schmalzlockige Tenöre, auch emigrierter europäischer Hochadel war darunter, außerdem das Geschmeiß reicher Emporkömmlinge, die bei solchen Anlässen nie fehlten.
Ein Mann fiel Tyrone nicht zum ersten Mal auf. Schon im Casino hatte er diesen Gentleman beobachtet. Mitte vierzig, kurz geschnittenes schwarzes Haar mit ergrauten Schläfen. Sein Frack saß wie angegossen, seine Haut war gebräunt. Entspannt schlenderte er zwischen den Gästen umher.
Gary Stewart mischte sich unter das Publikum. Nicht als Hotelgast machte er heute die Runde, sondern als ehemaliger Juwelendieb, der weniger die Frauen betrachtete, sondern ihren Schmuck. Stewart lief an dem endlos scheinenden Büfett vorbei, wo der Küchenchef und seine Helfer die Platten stets neu arrangierten.
Der Krieg lag erst ein Jahr zurück, die Versorgungslage ließ noch zu wünschen übrig. Maître Dryden war diesem Umstand mit Phantasie begegnet. Statt Riesengarnelen gab es Schwarzwurzeln im Teigmantel. Das Roastbeef wurde in so hauchdünne Scheiben geschnitten, dass man übersah, wie klein die Portionen waren. Dank einer überraschenden Schiffsladung aus der Karibik freute sich Dryden, garnierte Ananasspieße servieren zu können.
Stewart bewunderte die Kostüme des Fin de siècle, all das Geraffte und Gesteppte, die Spitzenzauberei, den Seidenschimmer. Er spähte hinter verführerisch hochgehaltene Fächer, erkannte trotz reich verzierter Masken die Augen mancher Dame und taxierte deren Geschmeide. Diamanten, Rubine und Smaragde stellten die häufigsten Edelsteine dar. Doch es gab auch feurige Hyazinthe, roten Beryll oder Geschmeide aus Opal und Bernstein.
Die elegante Herrenmode war seit Jahrzehnten so gut wie gleich geblieben; an den Gentlemen ließ sich das Motto des Balles also kaum ausmachen. Bis auf perlengeschmückte Krawattennadeln oder diamantene Frackknöpfe gab es an ihnen keinen Schmuck zu entdecken.
Gary Stewart erkannte Violet trotz ihrer Maske. Da sie für Begrüßungen, Vorstellungen und offizielle Worte ständig auf den Füßen sein musste, hatte sie ihre persönliche Loge an den Premierminister vergeben. Wegen dessen angegriffener Gesundheit hatte Violet den Eröffnungstanz nicht mit Mr Attlee getanzt, der Schatzkanzler war für ihn eingesprungen. Seitdem war sie in ihrem wunderschönen mitternachtsblauen Kleid nicht mehr zum Tanzen gekommen.
»Wenn ich Sie um diesen Walzer bitte, würden Sie mir die Ehre geben?«, fragte Stewart die Hoteldirektorin.
Lächelnd senkte sie ihren Fächer. »Finden Sie es eine gute Idee, so viel Aufmerksamkeit zu erregen?«
Er reichte ihr den Arm. »Ich finde, es ist eine glänzende Idee.«
»Einige im Saal halten Sie für einen Dieb.« Mit dem Fächer deutete Violet auf den Tisch einer einsamen Dame im Goldlamékleid, die sich deutschen Weißwein eingießen ließ. »Mrs Flack zum Beispiel. Sie ist fasziniert von Ihnen, zugleich überzeugt davon, dass Sie ihre Juwelen gestohlen haben.«
»Umso beruhigter wird Mrs Flack sein, wenn sie mich heute Abend vor allem tanzen sieht.« Stewart führte Violet aufs Parkett und begann sich mit ihr zu einer ausgelassenen Melodie zu drehen. Das erdschwere Getrampel der Übrigen störte ihn nicht. Er tanzte mir ihr, als wären sie allein.
»Ihr Fest ist ein großer Erfolg.« Sein Blick glitt durch den Saal. »Wie ich sehe, ist auch Scotland Yard vertreten.«
»Woran erkennen Sie das? Alle sind kostümiert.«
»An den billigen Schuhen und den Plattfüßen. Jeder Mann, der hier ohne Dame unterwegs ist, ist ein Polizist.«
»Meine Nerven könnten einen Cognac vertragen.«
Mit fröhlichem Schwung vollführte Stewart eine Drehung. »Darf ich Ihnen einen Cognac bestellen?«
»Ich muss einen klaren Kopf bewahren.« Sie lehnte sich zurück und sah ihn an. »Wie werden Sie vorgehen, Gary?«
»Die Juwelen befinden sich heute Nacht weder im Tresor noch auf den Zimmern. Hier im Saal sind bestimmt mehrere hunderttausend Pfund versammelt.«
»Macht das einen Diebstahl nicht schwieriger und unwahrscheinlicher?«
»Nur solange auf dem Ball alles läuft wie geplant.«
»Was heißt das?«
»Ich warte auf das Unvorhergesehene. Der Dieb wird einen Überraschungsmoment inszenieren, nehme ich an, einen Stromausfall zum Beispiel. Im Dunkeln könnte er eine Menge Beute machen.«
Violet blieb mitten im Tanz stehen. »Halten Sie das für wahrscheinlich?«
»Ich würde es so machen.«
»Aber wie sollen wir es verhindern?«
»Ich habe einem Ihrer Butler ein Trinkgeld gegeben, damit er bei den Sicherungskästen aufpasst.« Mit elegantem Linksschwung führte Stewart sie in den Kreis der Tanzenden zurück.
»Und sobald sich der Dieb an den Sicherungskästen zu schaffen macht, wird man ihn entlarven?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Er wird es nicht selbst tun.«
»Gibt es einen zweiten Dieb im Savoy?«
»Einen Komplizen, nehme ich an. Der Einbrecher muss die Beute nach der Tat so rasch wie möglich loswerden. Zuerst dachte ich, der tote Mr Sciapiarelli könnte diese Aufgabe übernommen haben.«
Das Musikstück endete. Sie applaudierten mit den anderen. »Ich glaube übrigens, dass ich ihn schon gesehen habe«, sagte Stewart dicht an Violets Ohr. »Vorhin, als alle in den Saal geströmt sind.«
»Woran haben Sie ihn erkannt?«
»An seinem Gang. Dieser Gang ist mir schon auf dem Dach aufgefallen.«
»Das ist alles? Nur sein Gang?«, entgegnete sie irritiert.
»Es hat nur einen Augenblick gedauert. Er war sofort wieder verschwunden.«
»Was trägt er für ein Kostüm? Haben Sie ihn im Saal wiedergesehen?«
Stewart trat vor Violet, als wollte er sie zum nächsten Tanz bitten. »Ich würde dich jetzt wahnsinnig gern küssen.«
Ein überraschter, überforderter Blick. »Ich dachte, Sie sind auf Verbrecherjagd, Gary. Allerdings –«
»Ja?«
»Allerdings wäre es schön.«
Das Orchester stimmte einen Slowfox an. Violet schmiegte sich in Garys Arm. Mit ruhigen Bewegungen glitten sie über das Parkett.
»Wenn wir den Dieb fassen –«, sagte sie in sein Ohr.
»Was noch nicht sicher ist –«
»Dann wärst du frei. Das Verfahren gegen dich wird eingestellt.«
»Vermutlich.«
»Bedeutet das, dass du London verlässt?« In der Bewegung sah sie ihn an.
»So weit habe ich noch nicht gedacht.«
Sie knuffte ihn gegen die Schulter. »Das ist eine verdammt männliche und ziemlich magere Antwort.«
»Ich habe an die Zeit danach noch nicht gedacht, Violet, weil ich die Zeit jetzt mit dir genieße.«
»Oh weh.« Violets Rücken wurde steif.
»Was hast du?«
»Wie oft habe ich Sätze dieser Art gehört? Ausweichende, mutlose Sätze. Ich scheine diese Reaktion bei Männern auszulösen.«
»Du willst wissen, wie es mit uns weitergeht?« Er nahm drei schnelle Schritte, verdoppelte das Tempo im Takt des Slowfox und manövrierte Violet an den Rand des Parketts.
Neben dem Orchesterpodest gab es eine Tür, von wo die Musiker ihren Auftritt auf die Bühne nahmen. Tanzend drückte Stewart die Tür auf und drehte Violet beschwingt nach draußen.
Ein junger Mann beobachtete den Abgang der Hoteldirektorin und des attraktiven Fremden. Aus seiner Loge sah Sir Tyrone die beiden verschwinden.
»Mutter?« Er beugte sich zu ihr.
»Ja, Terry?« Die Herzogin tupfte sich die Oberlippe mit dem Taschentuch. Im Saal wurde es allmählich heiß.
»Entschuldigst du mich für ein paar Minuten?«
»Willst du tanzen?«
»Ich tanze nie.«
Eine Ahnung veranlasste Lady Edith, sich umzusehen. »Du wirst dich doch nicht mit deinem Küchenfräulein treffen?«
»July ist beschäftigt. Ich habe sie heute noch gar nicht gesehen. Es ist viel harmloser, als du denkst, Mama. Allerdings werde ich tatsächlich jemanden umarmen.«
»Wie meinst du das?«, rief die Herzogin nervös. »Terry?« Aber Sir Tyrone hatte die Loge bereits verlassen.
In jedem Hotel gab es eine magische Linie, die Grenze zwischen den Gästen und dem Personal. Gary Stewart überschritt diese Grenze. Er führte Violet an einen Ort, wo sich normalerweise das Personal aufhielt.
»Das geht nicht.« Sie löste sich von ihm. »Hier kann gleich jemand kommen.«
Er zeigte auf die Haken an der Wand, wo die private Garderobe der Musiker hing. »Das ist ziemlich unwahrscheinlich. Die Herren sind alle draußen. Hörst du nicht, wie wunderbar sie spielen?«
»Mir gefällt das nicht.«
Er nahm ihre Hand. »Du hast mir vorhin eine direkte Frage gestellt. Auf eine direkte Frage bin ich dir eine direkte Antwort schuldig.«
Gary Stewart umarmte Violet in der Musikergarderobe. Er küsste sie hingebungsvoll. Er küsste sie anders als die letzten Male, nicht heiter verspielt wie in Maxines Kinderzimmer, nicht provokant wie während der Kutschenpartie. Er küsste sie ehrlich und als Bekenntnis. Nach einem Schreckmoment erwiderte sie seine Zärtlichkeit. Es war ein langer, glücklicher Kuss voll Hoffnung, voller Fragen.
»Ich habe mich sehr in dich verliebt«, flüsterte er. »Ich weiß nicht, was ich mit dieser Liebe machen soll, denn wie ich höre, hast du einen Freund.«
»Das stimmt. Und es stimmt auch nicht.« Sie küsste sein Kinn. »Ich dachte wiederum, du seist ein trauernder Witwer.«
Er streichelte ihren Rücken. »Ich vermisse meine Frau. Wir waren glücklich. Und ich bin sicher nicht nach London gekommen, um mich nach Frauen umzusehen. Aber dann kamst du.«
»Ein Juwelendieb kommt ins Savoy«, erwiderte sie zärtlich. »Statt Juwelen findet er eine einsame Hoteldirektorin. Nun sucht der Juwelendieb einen anderen Dieb. Und das alles wegen mir?«
»Wegen dir.« Er nahm ihr Gesicht in seine Hände. »Ich würde sehr gern über ein Danach mit dir sprechen.«
»Lass uns zuerst den Dieb überführen. Wir müssen zurück.« Sie öffnete die Tür des Umkleideraumes und sah sich um. »Die Luft ist rein.« Auf dem Korridor blieb Violet stehen. »Dort hinten sind die Schaltkästen für den Golden Pavillon. Wieso steht da niemand? Wo ist der Butler, den du bezahlt hast?«
Gemeinsam liefen sie zu der Metalltür. Ein Schild warnte, dass hinter dieser Tür Starkstrom in Betrieb sei.
* * *
Reginald hatte gelernt, dass die Dunkelheit nicht unbezwinglich war. Im Dunklen die Länge einer Stunde zu berechnen war unmöglich, außer man baute sich eine Eselsbrücke. Reginald benützte die Bibel als Eselsbrücke. Als kleiner Junge hatte ihn seine Mama in die Kirche mitgenommen. Er besuchte auch die Bibelstunden und half als Messdiener beim Gottesdienst. Reginald kannte daher lange Passagen aus der Heiligen Schrift auswendig. Die Stelle zum Beispiel, wenn der Apostel Paulus einen Brief an die Römer schrieb.
»Denn es wird geoffenbart Gottes Zorn vom Himmel her über alle Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit der Menschen.« Reginald sprach die Worte stimmhaft in die Dunkelheit. Aus der Heiligen Messe erinnerte er sich, dass die Passage aus den Römerbriefen eine Viertelstunde dauerte. Wenn er sie also viermal aufsagte, musste eine Stunde vergangen sein. So fand Reginald sein eigenes Zeitmaß.
Nicht aus Frömmigkeit rezitierte er die Bibelstelle, sondern um seine Panik niederzukämpfen. Was hatte sein Entführer, der noch kein Wort gesprochen hatte, mit ihm vor? Weshalb gab er ihm keine Erklärung? Warum servierte er Sandwiches und Limonade im Dunkeln? Reginald aß und trank, erleichterte sich in den Eimer, mehr zu tun war ihm unmöglich.
Die lange Zeit, während er allein war, lernte er sein Gefängnis besser kennen. Seine Hände glitten an den Backsteinmauern entlang. Auf einer dieser blinden Entdeckungsreisen hatte er eine scharfe Kante gefunden, ein spitzer Stein stand hervor, nicht besonders scharf, aber Reginald konnte das Seil daran wetzen. Anfangs kam es ihm vergebens vor, doch nach und nach gaben die Fasern nach. Während der stumme Mensch ihm seine Mahlzeit brachte, verbarg Reginald die Spuren an der Fessel, so gut er konnte. Danach machte er verbissen weiter. Obwohl es kühl hier drinnen war, geriet er in Schweiß. Reginald verzweifelte schier an der Haltbarkeit des Seiles und vergaß während der Plackerei, die Worte des Apostel Paulus aufzusagen. Er wusste daher nicht, wie lange er brauchte. Aber irgendwann gelang es. Seine Hände waren frei. Er hatte die Fessel trotz der Dunkelheit bezwungen. Reginald machte sich an die Tür heran.