Sir Tyrone betrat jenes Zimmer, das er schon einmal besucht hatte, den kleinen Raum, der ihm so gut gefiel. Das hübsche Zimmer mit dem Bild an der Wand, das eine Landschaft vorgaukelte, doch hinter der Landschaft verbarg sich eine Katze.
»Guten Abend«, sagte er.
»Guten Abend, Terry.« July öffnete ihre Jacke und zog die Schuhe aus, Schuhe mit Kreppsohlen. Sie nahm die Maske ab.
Beide blieben sekundenlang sprachlos.
»Seit wann wusstest du es?«, fragte sie.
»Ich habe es nicht gewusst. Nicht im Traum wäre ich darauf gekommen.«
»Weshalb bist du dann hier? Warum kommst du wenige Minuten nach dem Unglück ausgerechnet zu mir in den Personaltrakt?« Sie stellte die Schuhe ordentlich neben das Bett. »Du musst es gewusst haben. Wodurch habe ich mich verraten?« Sie hielt ihm das Ding aus Pappmaché hin. »War es die Maske? War es die Katze?«
»Nein.«
»Was dann?«
»Die Drehung.«
»Ich verstehe nicht.«
»Die Art und Weise, wie du dich umgedreht und mich angestarrt hast. Diese Bewegung habe ich schon einmal gesehen.«
»Wo?«
»In Oakwoodhill. Im Haus meiner Tante. In jener Nacht.«
Sie trat einen Schritt näher. »Du bist ein aufmerksamer Beobachter.«
»Und du eine außergewöhnliche Frau.«
»Es tut mir leid, Terry.«
»Schon gut. Es macht nichts. Genau genommen macht es nichts«, erwiderte er.
Fassungslos sah sie ihn an. »Dass ich eine Verbrecherin bin, dass ich dich so schrecklich enttäusche, macht dir nichts?«
»Nicht viel.«
Sie hätte ihn gern berührt, doch July stand genauso steif da wie er. »Du musst mich der Polizei übergeben.«
»Muss ich das wirklich?«
»Du bist der kommende Herzog von Londonderry. Du kannst einer gemeinen Diebin, die deine Mutter beraubt hat, nicht Beistand leisten.«
Statt einer Antwort trat er von der Tür zurück und öffnete sie. »Komm. Nur ein Sprung, und du wärst draußen. Ich könnte dich niemals einholen.«
»Du machst dich mitschuldig, Terry.« Sie streckte ihm die Hände entgegen. »Ich wehre mich nicht.«
»Und ich halte dich nicht.«
In ihrer Ratlosigkeit wandte July den Blick ab. »Ich kann das nicht, Terry. Ich will nicht vor dir fliehen.«
»Mit dem, was du heute erbeutet hast, könntest du ein neues Leben beginnen.«
»Aber ich will das schon lange nicht mehr. Das ist mir klar geworden …, seit ich dich getroffen habe.«
»Mich?«, entgegnete er überrascht. Ein kurzes Atemholen. »Wie kommt das, July?«
»Spürst du das nicht? Weißt du es nicht?« Sie schloss sanft die Tür.
»Du bist die unglaublichste Frau, die ich je kennengelernt habe.« Er schüttelte den Kopf. »Als ob ich schon viele Frauen kennengelernt hätte. Verzeih. Das war eitel von mir.«
Sie nahm seine Hände und legte sie um ihre Taille. »Ich bin eine Diebin, Terry. Eine Räuberin und nichts weiter.«
»Du bist viel mehr.«
»Was bin ich denn?«
»Du bist das, was ich mir immer unter Leben vorgestellt habe.«
»Eine Verbrecherin zu sein, das nennst du Leben?«
»Es ist jedenfalls das Lebendigste, das mir je begegnet ist.«
July küsste Tyrone. Sie küssten einander in hilfloser Hingabe. Danach standen sie da, wie zwei Kinder, in einer so verzweifelten Lage, und doch so glücklich. Sie würden nie wieder so glücklich sein wie in diesem Moment. Vielleicht schwand ihr Glück schon wieder, da sie es bewusst empfanden, und doch konnten sie gar nicht sprechen vor lauter Glück.
* * *
Gary Stewart erreichte das erste Untergeschoss und stieg in den darunterliegenden Keller weiter. Er konnte kaum glauben, dass es im Savoy drei Kellergeschosse gab. Die Person, der er auf der Spur war, stieg tief und tiefer hinab. Gary hörte, wie sie eine Tür aufschloss, und wartete, bis die Tür in den Angeln quietschte. In diesem Moment sprang er näher und hinderte die Person daran, die Tür vor ihm zuzuschlagen. Von Angesicht zu Angesicht standen sie einander gegenüber. Die Frau trug eine schwarze Brille. Er konnte ihre Augen nicht sehen.
»Guten Abend, Mrs Drake.«
»Was kann ich für Sie tun, Mr Stewart?« Ihre Stimme war höflich, lauernd, wachsam und eiskalt.
»Ich möchte, dass Sie den Schmuck herausgeben.«
»Welchen Schmuck?«
»Den der Dieb Ihnen vorhin zugesteckt hat. Es muss sehr viel sein, die ganze Ausbeute einer rauschenden Ballnacht.« Er musterte die Hausdame von oben bis unten. An einer Stelle beulte ihr Rock aus. »Ich werde Sie nicht berühren, Mrs Drake. Ich fordere Sie auf, geben Sie mir die Beute.«
»Was wollen Sie damit machen, Mr Descoyne?«, fragte sie herausfordernd. »Wollen Sie die Juwelen etwa selbst auf den Markt bringen?«
»Das wäre dumm von mir, da mich jedermann hier verdächtigt.« Er streckte die Hand aus. »Darf ich bitten?«
Zögernd fasste sie in ihre Rocktasche und zog einen prall gefüllten Beutel hervor. »Ich werde alles abstreiten. Sie sind der Juwelendieb, Mr Descoyne, nicht ich.«
Gary musterte die große Frau, die dunkle Uniform der Hausdame, ihre schwarze Brille. »Was die Juwelendiebstähle betrifft, habe ich einiges vermutet. Aber das nicht. Das auf keinen Fall.«
»Was haben Sie denn vermutet?«
»Ich war sicher, dass Mr Sciapiarelli jemanden im Hotel gekannt haben muss, einen Mitarbeiter dieses Hauses. Ich habe angenommen, dass Sciapiarelli überhaupt nur wegen dieser Bekanntschaft hier abgestiegen ist.« Sie unterbrach ihn nicht. »Was ist geschehen, Mrs Drake? Ist Sciapiarelli Ihnen auf die Schliche gekommen?«
Als ob eine plötzliche Erschöpfung sie überfiele, lehnte sich Mrs Drake gegen den Türrahmen. »Angelo Sciapiarelli war mein Ehemann. Er ist jener berühmte Mr Drake gewesen, über den im Hotel so viel spekuliert wurde. Angelo und ich haben uns einmal geliebt. Das ist so lange her, dass die meisten im Haus inzwischen glauben, dass ich in Wirklichkeit nie verheiratet war.«
»Haben Sie Ihren Mann umgebracht?«
»Nein.«
»Er ist aber gewiss nicht freiwillig aus dem Fenster gesprungen.«
»Es war ein Unglück.«
»Wirklich?«
»Er wollte zur Polizei gehen.«
»Und da haben Sie ihn zum Schweigen gebracht.«
»Ich sagte doch, es war ein Unglück. Er hat den Koffer entdeckt.«
»Den Koffer mit dem Diebeswerkzeug?«
»Er hat ihn an sich genommen. Dieser Koffer wäre ein eindeutiger Beweis gewesen.«
»Sie sind eine große Frau, Mrs Drake. Eine starke Frau. Mr Sciapiarelli war klein und schmächtig. Wie ist er zu Tode gekommen?«
Sie schob die Brille ein wenig nach unten. »Ich werde ab jetzt nichts mehr sagen.«
Stewart nickte. »Die Einzelheiten herauszufinden, ist Sache der Polizei.« Er wog den Schmuck in seiner Hand. »Warum haben Sie es getan? Sie haben ein gutes Leben hier. Sie sind gewissermaßen eine Institution im Savoy. Warum haben Sie das alles aufs Spiel gesetzt?«
Sie lachte hohl. »Seit fünfundzwanzig Jahren rackere ich mich für dieses Hotel ab. Trotzdem konnte ich keinen Notgroschen zurücklegen für die Zeit, wenn ich nicht mehr arbeiten kann.«
»So alt sind Sie noch nicht«, entgegnete er ungläubig.
»Mit dem Alter hat es nichts zu tun. Ich habe eine unheilbare Krankheit. Sie wird rasch schlimmer. Nicht lange, und ich kann mich nirgends mehr hinwagen, wo Tageslicht herrscht. Es ist eine Lichtallergie, Mr Descoyne. Und es gibt kein Mittel dagegen.«
»Deshalb die dunkle Brille, ich verstehe. Und da haben Sie beschlossen, sich einen Notgroschen zuzulegen.«
»Nein, noch lange nicht«, entgegnete sie schlicht. »Ich konnte nicht. Ich habe mich gequält. Ich wollte Miss Mason nicht die Treue brechen. Aber dann kam dieser schreckliche Tag, an dem die Eltern meiner Nichte verunglückt sind.«
»Ihre Nichte? Was hat sie damit zu tun?«
»Von einem Tag auf den anderen musste ich mich um July kümmern. Und das habe ich getan. Ich habe ihr hier eine Stelle verschafft. Nach und nach bin ich draufgekommen, was für außergewöhnliche Fähigkeiten dieses Mädchen besitzt. Sie ist nicht nur eine gute Köchin. Sie ist auch eine Athletin.«
»Ihre Nichte?«, rief Stewart perplex. »Der Dieb, der Einbrecher, der mich bezwungen hat, ist eine Frau?«
»Kränkt Sie das in Ihrer Ganovenehre, Mr Descoyne?« Mrs Drake schob die Brille wieder vor ihre Augen.