»Das wirst du nicht tun«, rief Lady Edith. »Ich verbiete es!«
Vier Tage waren vergangen. Alle Kräfte im Savoy waren damit beschäftigt, den Schaden, den das Wasser angerichtet hatte, zu beseitigen. Es sah schlimm aus. Vieles in den Sälen war unwiderruflich zerstört. Die kostbare Ausstattung des Golden Pavillon und der angrenzenden Räume, teure Musikinstrumente waren unbrauchbar geworden, auch die erlesenen Garderoben der Gäste. Im Erdgeschoss des Hotels würde es auf unabsehbare Zeit kein fließendes Wasser geben. Nach der Flut waren die Wassermassen in die Untergeschosse gesickert. Lagerräume, die Bügelstation und das Wäschelager wurden vernichtet. Eine Ironie am Rande: Die Flut kam bis ins unterste Geschoss des Hauses voran, wo Mrs Drake wohnte. Auch ihr Apartment wurde überschwemmt. Sie würde es allerdings nicht mehr brauchen. Mrs Drake saß in Untersuchungshaft. Sie teilte dieses Schicksal mit July Gilbert.
»Du kannst mir das nicht verbieten, Mama.« Tyrone saß auf der Chaiselongue in der Erker-Suite. »Ich statte July einen Besuch ab.«
Erregt schritt die Duchess vor ihm auf und ab. »Aber warum? Warum nur, mein Sohn?«
»Weil ich sie liebe.«
»Terry!« Die Herzogin war sich nicht zu schade, vor ihrem Sohn in die Hocke zu gehen. »Ich spreche gar nicht von dem Standesunterschied, der euch trennt, ich spreche davon, dass diese junge Frau eine gefährliche und gerissene Diebin ist.«
»Das stimmt, Mama. Sie hat mir alles gestanden.«
»Dann sollte dir die Vernunft sagen, dass du diese Frau nicht wiedersehen kannst!«
»Natürlich sagt mir das die Vernunft, Mama.«
»Gott sei Dank.« Lady Ediths lindgrünes Kostüm war für diese Position nicht ideal, sie stand wieder auf. »Dann ist die Sache also erledigt? Von eurem Ausflug nach Surrey ist gottlob nichts an die Öffentlichkeit gedrungen. Mit etwas Glück wird unsere Familie mit der Enthüllung des Juwelenraubes nicht in Verbindung gebracht werden.«
»Das sehe ich auch so, Mama.«
»Gut. Mein lieber Junge, das finde ich ausgezeichnet«, entgegnete die Herzogin erleichtert.
»Ich habe mit Onkel Ethelred telefoniert«, fuhr er fort.
»Du hast … den Oberstaatsanwalt Seiner Majestät angerufen?«, entgegnete die Mutter entgeistert. »Wozu?«
»Ich habe ihm alles erklärt. Von Mann zu Mann.«
»Was, Terry, was hast du dem Staatsanwalt von Mann zu Mann erklärt?«, drängte die Duchess in steigender Sorge.
»Ich habe Onkel Ethelred immer schon gemocht, das weißt du. Er ist einer meiner Lieblingsonkel. Und er mag mich, glaube ich, auch.«
»Sicher, sicher. Aber was hat das denn …?«
»Er hat mich diesen Sommer wieder nach Schottland zum Angeln eingeladen.«
»Wunderbar, ich freue mich für dich. Das wird bestimmt eine genussreiche Zeit. Aber bitte sage mir nun, was du mit dem Oberstaatsanwalt besprochen hast.«
»Zunächst erklärte ich ihm, was July getan hat.«
»Wozu?« Eine plötzliche Ahnung durchzuckte die Herzogin. »Du hast ihn doch nicht etwa angebettelt, sich für diese kleine Diebin einzusetzen?«
»Das würde Ethelred nie tun. Selbstverständlich würde ich es ihm niemals vorschlagen. July weiß, dass ihr eine lange Gefängnisstrafe bevorsteht.«
»Richtig. Was habt ihr also besprochen?«
»Ich sagte ihm, dass July die einzige Frau ist, die ich jemals lieben werde.«
»Oh Gott, Terry! Ich hoffe, Onkel Ethelred hat dich gründlich ausgelacht und dir wegen solcher Flausen den Kopf gewaschen.«
»Im Gegenteil. Er ist ein Mann, der mit beiden Beinen auf der Erde steht. Und damit mitten im Volke. Ethelred versteht genau, was mich bewegt. Er versteht auch mein Anliegen. Er hat mir sogar geschildert, wie er vor Jahren seine Dorothy kennengelernt hat. Du weißt, auch sie stammt aus bürgerlichen Kreisen.«
»Lady Dorothy Doyle?«, rief die Herzogin aufs Höchste alarmiert. »Willst du die Gattin des Oberstaatsanwalts Seiner Majestät mit einer Diebin, einer Köchin vergleichen?!«
»Onkel Ethelred fand den Vergleich nicht so abwegig. Er hat mir wegen der zu erwartenden Standesdünkel keine Vorhaltungen gemacht.«
»Weswegen hat er dir denn überhaupt Vorhaltungen gemacht?«, fragte Lady Edith am Rande des Nervenzusammenbruchs.
»Er hat mich lediglich gewarnt.«
»Wovor?«
»Er sagte, dass July mit einer Haftstrafe von mindestens neun Jahren rechnen muss.«
»Sehr gut, bestens.« Die Duchess nickte, weil sie eine glückliche Wendung der Angelegenheit erhoffte. »Damit ist der Fall dann wohl klar.«
»Ja, er ist klar, Mama.« Tyrone stand auf. »Ich werde auf July warten. Das ist das Mindeste, was ich für sie tun kann. Und ich werde sie in der Haft besuchen. Schon heute.«
Lady Edith bewegte die Lippen, aber sie brachte keinen Ton heraus.
»Onkel Ethelred hat mir die Genehmigung dazu erteilt. Darauf hat er mit dem Untersuchungsrichter und der Gefängnisverwaltung gesprochen.« Tyrone sah auf die Uhr. »Also, es wird Zeit für mich.« Er machte eine korrekte Verbeugung. »Entschuldige mich nun bitte. Ich will mich umziehen.« Der junge Lord wandte sich zum Ankleidezimmer. »Es ist vielleicht besser, wenn du mit dem Dinner nicht auf mich wartest.«
* * *
Violet stützte sich auf den Wischmop. »Was ist das mit der Liebe?«, seufzte sie. »Was ist das mit den Männern und Frauen, die so schwer zusammenkommen können?«
Gary Stewart hob den Eimer hoch. »Findest du das den richtigen Zeitpunkt, um über die Liebe zu philosophieren?«
»Warum nicht?«
Sie wischte, er folgte ihr mit dem Eimer. Sie wrang die braune Brühe darin aus. Gary hatte einen Lappen an seinen rechten Fuß geschnallt und schrubbte über jene Stellen, die Violet mit dem Mop nicht sauber bekam.
Sie blieb stehen. »Ich habe manchmal den Eindruck, dass das, was wir Glück nennen, im Plan des Universums gar nicht vorgesehen ist.« Sie wischte weiter.
»Vielleicht liegt es daran, dass wir die falschen Dinge als Glück bezeichnen. Vielleicht nennen wir unseren Wunsch nach Sorglosigkeit Glück. Aber ich fürchte, Glück ist etwas anderes.« Er wischte ihr hinterher.
»Was ist das Glück für dich, Gary?«
»Ich glaube, Fragen machen uns glücklicher als Antworten. Eine große Anstrengung kann Glück bedeuten. Und vor allem die Vorstellung, dass das Leben stets weitergeht, solange wir in Bewegung sind, das halte ich für Glück.«
Violet ließ das Wischen sein. »Im tiefsten Herzen bist du doch ein Vagabund, Gary. Wirst du jemals in Ruhe einfach nur leben können?«
»Was meinst du mit in Ruhe? Seit drei Stunden bin ich dabei, mit dir den Golden Pavillon zu säubern. Ich könnte ein bisschen Ruhe gut gebrauchen.«
Violet zeigte auf das kleine Heer von Mitarbeitern, die sich ebenfalls mit ihren Eimern durch den Speisesaal bewegten. Putzfrauen waren darunter, Liftpagen und Musiker aus dem Orchester. »Immerhin musst du die Arbeit nicht allein machen.« Sie ließ sich auf eine Fensterbank sinken. »Aber du hast recht. Ich bin auch müde.«
Er setzte sich neben sie. »Wie kommst du ausgerechnet jetzt auf die Frage nach dem Glück?«
»Es ist wegen July.«
»Du hast mit ihr gesprochen?«
»Zuerst schien es völlig aussichtslos, das kann ich dir sagen. Bis ich den Oberstaatsanwalt angerufen habe.«
Gary lehnte sich gegen ihre Schulter. »Du hast also mal wieder deine Verbindungen spielen lassen?«
»Sir Ethelred weiß, was im Savoy los war. Er ist dabei gewesen.«
»Auf dem Ball?«
»Zusammen mit seiner Gattin Dorothy. Es war ihr Hochzeitstag. An ihrem Hochzeitstag ist die Frau des Staatsanwalts fast ertrunken.«
Gary schnallte den Putzlappen vom Fuß. Er hatte keine Lust, auch nur noch einen weiteren Square-Inch zu wischen. »Und er hat dir die Genehmigung erteilt?«
»Glücklicherweise. Zum Abschied sagte er einen sonderbaren Satz. Ich verstehe nicht, was er damit gemeint hat: Das dürfte ziemlich eng bei Miss Gilbert in der Zelle werden.«
»Und dann?« Ohne Aufwand legte Gary seine Hand auf die von Violet.
»Ich durfte July besuchen.«
»Wie geht es ihr?«
»Ganz gut. Ich konnte nur eine Viertelstunde mit ihr sprechen. Weil die Zeit so knapp war, fragte ich rundheraus, warum sie das Verbrechen begangen hat. Weshalb wurde sie zur Diebin in dem Haus, das ihr zur Heimat wurde? Und weißt du, was? Ihre Antwort fiel vollkommen anders aus, als ich erwartet habe.«
»Was hast du denn erwartet?« Er streichelte ihre Finger.
»Nun vielleicht etwas über Herausforderung, Abenteuer und Reichtum. Ich dachte sogar daran, dass Mrs Drake sie irgendwie in der Hand haben könnte und July dazu gezwungen hat.«
»Weißt du, wozu ich jetzt Lust hätte?«, fragte er mit verhaltener Stimme.
Überrascht sah sie ihn an. »Nein, wozu?«
»Ich möchte deinen Wischmop und meinen Eimer in die Ecke stellen und mit dir auf dein Zimmer gehen.«
Ihre Augen wurden groß.
»Meinetwegen auch in mein Zimmer«, korrigierte er sich augenzwinkernd. »Ich habe Lust, eines dieser schönen weichen Betten deines Hotels auszuprobieren.«
Sie erwiderte seinen Händedruck. »Woher kommt das denn auf einmal, Gary?«
»Wahrscheinlich haben mich deine Männer und Frauen, die so schwer miteinander glücklich werden können, darauf gebracht.«
»So ist das also.« Sie betrachtete ihre beiden ineinander verschlungenen Finger.
Sein Lächeln wurde breiter. »Das Savoy hat gerade eine Sintflut überstanden. Mal sehen, ob es auch ein Erdbeben übersteht.«
»Überschätzt du dich da nicht ein bisschen?« Sie stieß ihn in die Seite.
»Das kommt auf den Versuch an.« Er stand auf.
»Interessiert es dich gar nicht, was July mir anvertraut hat?«
»Ich will alles ganz genau erfahren.« Er nahm sie bei der Hand.
Sie löste sich. »Lass das. Nicht vor den Leuten.«
Ein wenig eingeschüchtert trat er zurück. »Ich verstehe.«
Violet stellte den Wischmop in die Ecke. »So schnell gibst du auf?« Sie war bereits unterwegs in Richtung der Lobby.
An den Fahrstühlen holte er sie ein. »Erzähl mir von July.«
Aufzug Nummer eins schwebte herab.
»Alles, was passierte, hat tatsächlich mit Männern und Frauen zu tun.« Violet schaute hoch. »July erträgt die Welt nicht, in der wir leben.«
»Was ist das denn für eine Welt?«
»Eine Männerwelt, mein Lieber. Eine Welt, in der die Männer alles bestimmen.«
Der Lift hielt, Gary öffnete die Tür und ließ ihr den Vortritt. »Das stimmt nicht.«
»Wie man sieht, sind Männer galant, Männer geben den Frauen das Gefühl, etwas Kostbares zu sein. Aber Männer würden Frauen nie auf die gleiche Stufe mit sich selbst stellen.«
Er trat zu ihr in die Kabine. »Du bist als Chefin des Savoy der beste Beweis dafür, dass das nicht stimmt.«
Violet drückte den Knopf in den fünften Stock. »Nur der Zufall, kein fairer Wettbewerb hat mich in diese Position gebracht.« Der Fahrstuhl setzte sich in Bewegung. »Der Krieg ist vorbei, Gary, wir schreiben das Jahr 1946. Aber immer noch gibt es keine einzige Frau in unserer Regierung. Vielleicht ist in Julys Kindheit etwas passiert, das diese Radikalität in ihr ausgelöst hat. Jedenfalls hatte sie sich zum Ziel gesetzt, dass es nichts auf der Welt geben darf, das eine Frau nicht genauso gut kann wie ein Mann.«
»Und deshalb wurde sie kriminell?«, entgegnete er skeptisch.
»July hat als Mädchen an vielen sportlichen Wettkämpfen teilgenommen, nicht nur im Fünfkampf, der für die Mädchen vorgesehen ist. Sie ist auch in sämtlichen Männerdisziplinen angetreten, und sie ist den Männern davongerannt. Sie hat sie besiegt.«
»Genauso wie sie mich bei unserem Zweikampf auf dem Dach besiegt hat.« Gary nickte nachdenklich.
»Sie war die erste Abteilungschefin in der Küche des Savoy. Schritt für Schritt hat sie ihren Plan in die Tat umgesetzt: Eine Frau kann alles, was ein Mann kann. Eine Frau kann sogar zur Meisterdiebin werden.«
»Hat dich diese Erklärung befriedigt?«, fragte er überrascht.
»Es ist keine Rechtfertigung, aber eine Erklärung ist es allemal.«
Gary betrachtete Violet von der Seite. »Ich könnte argumentieren, dass man Frauen gemeinhin eine höhere Moral zuspricht als Männern. In dieser Kategorie hätte July demnach versagt.«
»Nicht unbedingt.« Der Fahrstuhl hielt. »Konsequent betrachtet darf eine Frau genauso unmoralisch sein wie ein Mann. Und wie ein Mann übernimmt July nun die Verantwortung dafür.« Violet stieß die Tür auf und trat auf den Korridor.
»Ehrlich gestanden bin ich überrascht und ein wenig eingeschüchtert von Julys Philosophie. Und von deiner Reaktion darauf.« Gary blieb in der Kabine stehen.
»Das solltest du auch sein.« Sie hielt ihm die Tür auf. »Es ist nämlich nicht in Ordnung, dass ein Mann einer Frau einfach vorschlägt, mit ihr ins Bett zu gehen, und sie hat sofort mitzuspielen.«
»Du willst also nicht mit mir ins Bett gehen?«
Da er nicht aus dem Lift herauskam, ergriff Violet seine Hand und zog ihn zu sich. »Rede keinen Unsinn. Aber wir gehen in mein Bett.«
Mit fragenden Augen stand er vor ihr.
»Ich habe dich lieb, Gary Antoine Descoyne Stewart«, fuhr sie leise fort. »Ich glaube, du bist einer, der bereit ist, die Veränderungen mitzumachen, die der Welt bevorstehen.« Sie küsste ihn.
»Ich gebe mir Mühe«, antwortete er.
Umarmt liefen sie den Korridor hinunter, der ins Kuppelzimmer des Savoy führte.