It’s the End of the World as We Know It (and I Feel Fine)

Abby wandte den wartenden Kunden den Rücken zu und sprach leise. Im Hintergrund hörte sie etwas schwappen. »Wo bist du?«, fragte sie.

»In der Badewanne«, sagte Gretchen. »Und ich wollte mir die Beine rasieren, aber das Wasser ist hellrot geworden, und ich weiß nicht, ob das mein Blut ist oder ein Flashback, und ob das real ist oder ob ich durchdrehe.«

Das Hintergrundgeräusch verstummte, und stattdessen hörte Abby nun ein hohes Summen.

»Hilf mir«, flüsterte Gretchen.

»Wie viel ist es?«, fragte Abby.

»Viel.«

»Okay, steh auf. Geh aus der Wanne und stell dich vor den Spiegel. Auf ein weißes Handtuch.«

Dee Dee zupfte an Abbys Ärmel.

»Die Leute stehen Schlange«, sagte sie.

»Eine Sekunde«, sagte Abby leise und scheuchte Dee Dee mit einer Handbewegung weg, weil Frozen Yoghurt derzeit echt nicht das Wichtigste in ihrem Leben war. Sie hörte ein Platschen durchs Telefon, dann Tropfen, dann Stille.

»Siehst du dich?«, fragte Abby. »Ist Blut auf dem Handtuch?«

Eine lange Pause.

»Nein«, sagte Gretchen, der ihre Erleichterung anzuhören war.

»Ganz sicher? Das Handtuch ist normal?!«

»Ja. Himmel, ich werde verrückt.«

»Sieh fern, wir reden dann heute Abend«, sagte Abby. »Vergiss nicht, mich anzurufen.«

»Tut mir leid, dass ich dich gestört hab«, sagte Gretchen. »Geh arbeiten.«

Abby legte auf, und nachdem sie diese ernsthafte Krise gelöst hatte, zog sie mit neuem Elan bis zum Ladenschluss um neun Vanillewaffeln aus dem Spender und löffelte Müsliriegelcrunch darüber. Als Abby nach Hause kam, erwischte sie noch das letzte Stück von The Jerry Lewis Telethon, ging ins Bett und hielt bis genau sechs nach elf einen Finger auf die Gabel ihres Micky-Maus-Telefons gedrückt. Das war die Zeit für ihre abendliche Telefonverabredung mit Gretchen. So spät konnte sie unmöglich bei Gretchen zu Hause anrufen, und Gretchen sollte eigentlich auch nicht anrufen, aber solange Abby den Finger auf der Gabel hatte und in dem Moment losließ, in dem das Telefon zu vibrieren begann, bekamen ihre Eltern nichts mit.

Doch an jenem Abend klingelte das Telefon nicht.

 

Es war sieben Uhr zwanzig am Montagmorgen, und der Nebel war vom Hafen hoch ins Old Village gekrochen, wo er als weißes Gespinst über dem Boden hing und alle klaren Konturen verwischte. Abby bog auf den Pierates Cruze ein und hielt vor Gretchens Haus, wobei sie zu Phil Collins mitsang, weil er sie immer in die beste Stimmung versetzte. Auf dem Rücksitz lag eine Packung süßer Reiswaffeln bereit, um Gretchen nach ihrem harten Wochenende zu einer sanften Landung zu verhelfen.

Normalerweise wartete Gretchen draußen auf der Straße auf Abby, aber heute Morgen war nur der Brave Max zu sehen. Er hatte die Dr.-Bennetts-Mülltonne umgeworfen und steckte bis zu beiden Schultern im Abfall. Als Abby die Handbremse zog, erschrak er, wirbelte herum, stand steifbeinig da und starrte den Golf an, bis sie die Tür öffnete, worauf er über die weißen Müllbeutel hinwegspringen wollte, dabei allerdings mit den Vorderläufen hängen blieb und mit der Nase in ihnen landete. Abby lief zur Eingangstür, während er noch zappelte.

Anstelle einer verschlafenen Gretchen, die nach ihrer Cola-Light-Injektion tastete, gab die Glastür den Blick auf Mrs Lang frei, die in ihrem Morgenmantel dastand.

»Gretchen kommt heute nicht in die Schule«, sagte sie.

»Kann ich hoch?«, fragte Abby.

Sie hörte ein Poltern, als Gretchen wie eine Lawine die Treppe runterkam, fertig angezogen und mit ihrer Schultasche über der Schulter. »Los geht’s«, sagte sie.

»Du hast fast gar nicht geschlafen«, sagte Mrs Lang, griff nach Gretchens Schultasche und brachte sie zum Stehen. »Ich bin hier die Mutter, und ich sage, dass du zu Hause bleibst.«

»Lass mich LOS!«, schrie Gretchen und entwand sich ihr.

Abby wurde heiß, und ihre Haut fühlte sich klamm an. Die Auseinandersetzungen zwischen den beiden waren ihr immer peinlich. Sie wusste nie, wie sie deutlich machen sollte, auf wessen Seite sie stand.

»Sag es ihr, Abby«, sagte Gretchen. »Wenn ich etwas lernen will, muss ich hin.«

Mrs Lang sah in Abbys Richtung und brachte sie dazu, über ihre eigenen Worte zu stolpern.

»Tja«, sagte Abby, »äh …«

Mrs Langs Miene wurde mit einem Mal betroffen.

»Ach Max«, sagte sie.

Abby warf einen Blick hinter sich. Der Brave Max war den Weg hochgetrottet und betrachtete sie nun alle drei, als hätte er sie noch nie gesehen. An seiner Schnauze klebte eine fleckige Damenbinde.

»Wie eklig«, sagte Abby und lachte. Sie packte Max am Kragen und zog ihn zur Tür.

»Nein, Abby!«, sagte Mrs Lang. »Der ist ganz verdreckt.« Sie griff nach dem Halsband, und in der Verwirrung entzog Gretchen sich ihrem Griff und rannte mit Abby im Kielwasser zum Golf.

»Tschüss, Mom!«, rief sie über die Schulter.

Mrs Lang blickte auf.

»Gretchen …«, sagte sie, aber da waren sie schon am anderen Ende der Auffahrt.

Dr. Bennett hockte bei seinen Mülltonnen. Er blickte auf, als sie vorbeirannten.

»Sorgt dafür, dass der Hund nicht mehr in meinen Vorgarten kommt«, sagte er. »Ich habe ein Luftgewehr.«

»Morgen, Dr. Bennett«, sagte Gretchen und winkte, während sie in den Golf hüpften und Abby losfuhr.

»Warum hast du gestern Abend nicht angerufen?«, fragte Abby.

»Ich habe mit Andy telefoniert«, sagte Gretchen.

Sie überreichte Abby zwei schweißnasse Münzen und griff nach der Cola Light, die Abby ihr immer mitbrachte.

Abby war verärgert. Nach ihrer Rückkehr aus dem Bibelcamp hatte Gretchen von nichts anderem geredet als Andy, ihrer großen Sommerliebe. Andy war so cool. Andy war so ein Hengst. Andy wohnte so was von in Florida, und Gretchen würde ihn besuchen. Anfang Juli hatte sie ihn schon wieder vergessen gehabt, und Abby war davon ausgegangen, dass die Sache vorbei war. Und jetzt war er wieder da.

»Toll«, sagte Abby.

Ihr eigener verbitterter Tonfall gefiel ihr gar nicht, deshalb setzte sie ein Lächeln auf und legte den Kopf schief, als wollte sie mehr hören. Abby hatte bisher keine Bilder von Andy gesehen (»Andy sagt, Fotos zu machen ist, als klammert man sich an der Vergangenheit fest«, sagte Gretchen mit einem Seufzer), und sie hatte auch noch nicht am Telefon mit ihm geredet (»Ich schreibe ihm Briefe«, gurrte Gretchen. »Die sagen so viel mehr.«), aber Abby konnte ihn sich bestens vorstellen. Er war ein hinkender Buckliger mit nur einer Augenbraue und Zahnspange. Vielleicht sogar mit Gesichtsbogen.

»Er hat schon mal Acid genommen«, sagte Gretchen. »Und er hat mir erzählt, dass die Sache bei mir in der Badewanne total normal ist. Das ist schon bei einer Menge Leute passiert. Ich bin also nicht Syd Barrett.«

Abby umklammerte das Lenkrad so fest, dass ihr die Finger wehtaten.

»Ich habe dir ja gesagt, dass alles in Ordnung ist«, sagte sie lächelnd.

Gretchen beugte sich vor, kramte in Abbys Kassetten herum und steckte den tollen Sommermix rein. Als sie schließlich in einer weißen Staubwolke auf den Schülerparkplatz rauschten, grölten sie beide Bonnie Tylers Total Eclipse of the Heart mit. Abby fuhr auf einen freien Platz gegenüber, nahm den Gang raus und zog an der Handbremse. Sie standen vor den Sportplätzen, hinter denen sich das Haus des Rektors befand, und fünf der streunenden Hunde, die im Sumpf wohnten, jagten einander durch den Nebel.

»Bereit für die Albemarle Academy?«, fragte Abby Gretchen.

Gretchen zuckte zusammen und drehte sich zur Rückbank um.

»Ich habe Flashbacks«, sagte sie.

»Was für welche?«, fragte Abby.

»Mich berührt dauernd jemand im Nacken«, sagte Gretchen. »Das hat mich die ganze Nacht über wach gehalten.«

»Eieiei«, sagte Abby. »Du bist ja wirklich zu Syd Barrett geworden.«

Gretchen zeigte ihr den Finger.

»Komm schon«, sagte sie. »Auf zur AA

Sie stiegen aus dem Golf aus und gingen in Richtung Schule. Unterwegs strich Abby Gretchen mit der Hand über den Nacken. Gretchen schrak zusammen.

»Hör auf«, sagte sie. »Wenn ich das bei dir machen würde, fändest du das auch blöd.«

Die Albemarle Academy befand sich am Ende der Albemarle Pointe, am Ashley River. Auf zwei Seiten war sie von Sumpfland gesäumt und auf der dritten von der Vorortsiedlung Crescent. Albemarle war eine teure und anspruchsvolle Schule, und wer dort hinging, hielt sich für etwas Besseres als der Rest von Charleston.

»Oh-oh«, sagte Gretchen.

Sie deutete mit einer Kopfbewegung nach vorne. Abby hob den Kopf, während sie die Albemarle Road überquerten, die den Schülerparkplatz und die Sportplätze von den Schulgebäuden trennte. Eine gewaltige Fleischmauer namens Coach Toole kam ihnen in obszön eng sitzenden Gewichtheberhosen entgegen.

»Meine Damen«, sagte er und nickte ihnen im Vorbeigehen zu.

»Coach«, sagte Gretchen, nahm ihre Schultasche von der Schulter und griff hinein. »Möchten Sie ein paar Nüsse? Meine Mutter hat mir eine Tüte mitgegeben.«

»Nein danke«, sagte er, ohne stehen zu bleiben. »Ich hab selber Nüsse.«

Die beiden Mädchen sahen einander ungläubig an und rannten dann lachend davon. Sie liefen den Bürgersteig an der Bushaltestelle entlang, wo Trey Sumter, der bereits jetzt, so früh im Schuljahr, mit seinen Hausaufgaben hinterherhing, neben dem Fahnenmast auf der Bank saß und ihnen flehend zurief: »Wusstet ihr die Antwort auf die Geo-Frage?«

»Vulkanisches Gestein, Trey«, sagte Gretchen. »Die Antwort ist immer vulkanisches Gestein.«

Dann rannten Abby und Gretchen um die Ecke in den Zwischengang, zu dessen einer Seite sich das Sekretariat befand, während auf der anderen Glastüren zum oberen Schulkorridor führten. Der riesige grüne Rasen lag vor ihnen ausgebreitet, auf der gegenüberliegenden Seite erhob sich der Glockenturm, und sie waren mittendrin, umgeben von der Schülerschaft der Albemarle Academy.

»Lieber Gott, erbarme dich unser«, sagte Gretchen. »Was wir doch für bejammernswerte Geschöpfe sind.«

Sie waren die Kinder von Ärzten und Rechtsanwälten und Bankenchefs, und ihre Eltern besaßen Schiffe und Pferde, Plantagen auf dem Land und Strandhäuser in Seabrook, und sie wohnten in eleganten Anwesen in Mt. Pleasant oder in historischen Häusern in der Innenstadt. Und sie waren alle genau gleich.

Das Schülerhandbuch der AA war die Bibel, und der Dresscode war eindeutig: Man zog sich an wie seine Eltern. Die wilden Frisuren, die grellen Farben und die dicken Schulterpolster hob man sich für die Wochenenden auf. Unter der Woche befolgte man einen Dresscode, wie er an Neu-Englands Privatschulen galt. Die Mädchen zogen sich an wie »junge Damen«, die Jungen wie »junge Herren«, und wenn man nicht wusste, was das bedeutete, dann hatte man an der Albemarle Academy nichts verloren.

Die Jungen waren am schlimmsten dran. Sie kauften bei M. Dumas ein, dem abgewirtschafteten Schicki-Micki-Laden auf der King Street, wo ihre Moms einen Look für sie aussuchten, wenn sie in der siebten Klasse waren, auf dem sie dann für den Rest ihres Lebens hängen blieben: Kakihosen, langärmelige Polohemden im Winter, kurzärmelige Izod-Hemden im Frühling. Nach dem College kamen noch ein marineblaues Sakko, ein Anzug aus Seersucker-Stoff und eine Reihe »lustiger« Krawatten hinzu, die sie bei ihren ersten Jobs in örtlichen Anwaltskanzleien oder der väterlichen Bank trugen.

Die Mädchen gaben sich Mühe. Gelegentlich gab es eine Rebellin wie Jocelyn Zuckerman, die mit Cornrows auftauchte, was zwar laut Kleidervorschriften nicht explizit untersagt, aber trotzdem skandalös genug war, dass sie nach Hause geschickt wurde. Doch meistens brachten sie ihre Individualität auf komplizierten Umwegen im Rahmen der Kleidervorschriften zum Ausdruck. Mädchen, die die Aufmerksamkeit auf ihre Brüste lenken wollten, aber auf einen verbotenen tiefen Ausschnitt verzichten mussten, trugen weiße Rollkragenpullis. Mädchen, die der Meinung waren, einen Hintern zu haben, trugen Steghosen, die ihr Kapital eng umschmiegten. Dezente Tierfellmuster (Leopardenflecken, Tiger- und Zebrastreifen) waren bei Mädchen beliebt, die versuchten, einer einzigartigen Persönlichkeit Ausdruck zu verleihen. Aber sie konnten sich noch so viel Mühe geben, letztendlich sahen sie doch alle gleich aus.

Das lag nicht nur an ihrer Kleidung. An der Albemarle wurde von der ersten bis zur zwölften Klasse unterrichtet, aber in Abbys Jahrgang gab es nur zweiundsiebzig Schüler, und die meisten davon besuchten ihre Schule schon seit der ersten Klasse. Sie waren alle per Carpool zum Brownies gefahren, hatten alle Figurentanz gemacht, ihre Mütter gehörten alle dem hiesigen Wohltätigkeitsverein an, und ihre Väter machten alle Geschäfte miteinander und gingen zusammen auf Taubenjagd.

Es war eine Schule, an der sich jeder über die vielen Hausaufgaben beschwerte, aber darüber lästerte, dass die öffentlichen Schulen »zu leicht« seien. Wo alle die Kleiderordnung hassten, aber über die »Rednecks« spotteten, die mit Stonewashed-Jeans und Vokuhila in der Mall herumliefen. Wo alle verzweifelt einzigartig sein wollten, aber schrecklich Angst davor hatten, aus der Masse herauszustechen.

Die Schulglocke läutete zum ersten Mal, und sie machten sich auf den Weg zum Klassenraum. Den ganzen Tag über verteilte Abby Reiswaffeln: Erst in Informatik, wo der neue Lehrer, Mr Barlow, sagte, dass an seinen Computern nicht gegessen werde. Dann in Geometrie bei Mrs Massey, die die Reiswaffeln beschlagnahmte, zwei davon aß und Abby am Ende der Stunde die Packung zurückgab. Bei Amerikanische Geschichte achtete Abby darauf, allen eine zu geben, bevor es zum zweiten Mal klingelte und der unerträgliche Mr Groat erschien und alle zwang, sie in den Müll zu schmeißen.

Sobald die Glocke zur Mittagspause ertönte, traf Abby sich mit Gretchen, und sie gingen raus auf den Rasen. Zwischen Eingangshalle und Durchgang auf der einen Seite und Aula auf der anderen lag der Schulrasen im Schatten des Glockenturms. Der Turm selbst, der neben dem Eingang zur Aula aufragte, war ein vierstöckiger, rechteckiger Monolith aus rostfarbenen Ziegelsteinen, den man der Schule wie einen Pflock durchs Herz gerammt hatte. Auf der Rasenseite stand in großen Metalllettern das Schulmotto: »Treue & Ehre.«

Sie fanden Glee und Margaret auf einer der Bänke in der Sonne, in der Nähe der Boccia-Spieler. Abby und Gretchen ließen sich ins Gras plumpsen, holten ihre grünen Äpfel und Joghurtbecher heraus, und schon bald redeten sie über den Samstagabend wie alte Profis, die schon seit Woodstock Trips schmissen.

»Habt ihr Flashbacks?«, fragte Abby.

»Ja«, sagte Margaret. »Ich hab dein Gesicht auf einem Hundehintern gesehen.«

»Das ist nicht mal ansatzweise lustig«, sagte Abby. »Gretchen hat Flashbacks.«

Alle sahen Gretchen an, die mit den Schultern zuckte.

»Ich war bloß müde«, sagte sie.

Das irritierte Abby, denn normalerweise erzählte Gretchen nur zu gerne von ihren Dramen.

»Was ist passiert?«, fragte Glee.

»Das Acid hat nicht funktioniert«, erklärte Margaret. »Also ist nichts passiert.«

»Ich dachte, ich hätte mich beim Rasieren ins Bein geschnitten«, sagte Gretchen. »Keine große Sache.«

»Das ist ja grotesk«, sagte Glee. »Warst du in der Wanne? Dachtest du, du würdest verbluten?!«

Gretchen riss Grashalme aus, bis Abby ihr zu Hilfe eilte.

»Ich habe im Wald was gehört, als ich sie gesucht habe«, sagte Abby.

»Was denn?«, fragte Glee und beugte sich vor.

»Seltsame Geräusche«, sagte Abby. »Und ich habe ein altes Haus gesehen.«

»Ach ja. Das Ding«, sagte Margaret ziemlich uninteressiert. »Das ist irgend so eine historische Landmarke, die wir nicht abreißen können. Total versifft.«

Abby wandte sich wieder Gretchen zu. »Erinnerst du dich an irgendwas von dem, was geschehen ist?«

Gretchen hörte nicht zu. Sie war vorgebeugt, und während Abby sie ansah, zuckten ihre Schultern, und sie schrak erneut zusammen.

»Erde an Weltraum«, sagte Margaret. »Was ist passiert, als du nackt bei mir hinterm Haus unterwegs warst?«

»Wer war nackt?«, fragte jemand, und mit einem Mal war Wallace Stoney bei ihnen.

Sofort änderte sich die Stimmung. Solange sie zu viert waren, konnten die Mädchen sich entspannen, aber Wallace Stoney war aus der Oberstufe, und er war ein Junge und Footballspieler. Er war der Meinung, dass Freundschaft etwas Emotionales sei, und Emotionen bedeuteten Schwäche, und Schwäche musste in den Dreck getreten werden.

»Gretchen«, sagte Margaret und rutschte auf der Bank weiter.

»Ihr hättet Psylos nehmen sollen«, sagte er, setzte sich neben sie und schob dabei Glee von der Bank. Sie stand auf und gesellte sich zu Abby und Gretchen ins Gras.

Wallace Stoney hatte eine Hasenschartennarbe, und es faszinierte Abby, dass ihn das nicht zu einem netteren Menschen machte. Genau genommen war er ein Riesenarsch, und sie duldeten ihn nur bei sich, weil er älter war und mit Margaret ging, und Margaret gab sich nur mit ihm ab, weil er machte, was sie ihm sagte.

Er legte Margaret unbeholfen den Arm um die Schultern und zog ihre Beine auf seinen Schoß. »Psylos zu nehmen, heizt das Liebesleben an«, sagte er und sah ihr in die Augen.

»Mir wird ganz anders«, sagte Glee. »Ich gehe in den Computerraum.«

»Nerd«, rief Margaret ihr nach.

»Ich komme mit«, sagte Gretchen und stand auf.

»Was ist los?«, sagte Wallace mit einem anzüglichen Grinsen. »Ist den Jungfrauen vielleicht unbehaglich zumute?«

Gretchen hielt inne, drehte sich um und sah Wallace eine Sekunde lang ins Gesicht.

»Jungfrauen erkennen einander auf den ersten Blick«, sagte sie und folgte Glee.

Abby erhob sich ebenfalls. »Ich überlasse euch eurem Geknutsche.«

Als sie Gretchen einholte, klingelte es bereits, weshalb sie sie erst wieder beim Volleyball-Training sah. Ihr erstes Spiel stand kurz bevor, und wenn sie verloren, wäre das eine schreckliche Demütigung. Letztes Jahr hatten sie Ashley Hall 12-0 geschlagen, aber die besten Spielerinnen des Unterstufenteams waren nun in die Schulmannschaft aufgestiegen, und Coach Greene machte sich keine großen Hoffnungen bezüglich ihrer Chancen.

»Ihr seid die unmotiviertesten, unzulänglichsten Spielerinnen, die ich je gesehen habe. Ihr spielt, um zu verlieren, meine Damen«, sagte sie zu ihnen. »Geht nach Hause und denkt darüber nach, ob ihr dieses Jahr überhaupt Volleyball spielen wollt. Wenn ihr nicht auf Zack seid, will ich euch nicht auf dem Feld haben.«

»Danke, Coach«, sagte Margaret auf dem Weg zur Tür. »Das war wirklich inspirierend.«

»Ich bin nicht deine Mutter, Middleton«, sagte Coach Greene. »Es ist Zeit, dass ihr Mädchen aufwacht und in der Wirklichkeit ankommt.«

Margaret und Abby sahen einander an und verdrehten die Augen, und dann ging Margaret los, um bei Wallace’ Bandprobe zuzuschauen, während Abby und Gretchen sich zum Parkplatz aufmachten. Abby sah, wie Gretchen einmal mehr zusammenzuckte.

»Was ist los?«, fragte sie.

»Die Flashbacks werden schlimmer«, sagte Gretchen.

»Meinte Andy nicht, dass das völlig normal wäre?«, fragte Abby.

»Andy hat keine Ahnung, wovon er redet«, sagte Gretchen, was Abbys Herz höherschlagen ließ. »Es fühlt sich schon den ganzen Tag an, als ob jemand dauernd meinen Nacken anfasst. Und es passiert immer öfter. Jede Sekunde, tipp-tipp-tipp.«

Sie überquerten die Straße und gingen zu den moosbewachsenen Eichen, die das Tor zum Schülerparkplatz bewachten. Unterwegs kickten sie Steine umher. Der kantige weiße Kies bohrte sich durch ihre Schuhsohlen. Die meisten Autos waren schon weg, und der Golf stand alleine ganz hinten.

»So?«, fragte Abby, streckte einen Finger aus und tippte Gretchen auf die Schulter. Tipp.

»Das ist nicht lustig«, sagte Gretchen. »Ich konnte letzte Nacht nicht schlafen. Kaum werde ich müde, berühren Hände mein Gesicht und ziehen an meinen Beinen. Als ich das Licht angemacht habe, haben sie aufgehört, und als ich wieder am Einschlafen war, ging es von vorne los.«

»Das gibt sich bald«, versicherte ihr Abby. »Es ist ja noch keine 48 Stunden her. Dieses Zeug kann ewig im Blutkreislauf bleiben.« Sie schaffte es, ihrer Stimme einen selbstsicheren Klang zu verleihen, als wäre sie Expertin für die Halbwertszeit halluzinogener Drogen.

Gretchen schob sich die Schultasche höher auf die Schulter. »Wenn ich heute Nacht nicht schlafen kann, drehe ich durch. Mir tut das ganze Gesicht weh.«

Abby tippte ihr erneut auf die Schulter, und Gretchen schlug ihre Hand weg.

Für Abby war es ein ganz normaler Montag.

Sie wusste nicht, dass dieser Tag der Anfang vom Ende war.