Die Autos diverser Moms standen bis weit auf den Pierates Cruze vor der Auffahrt der Langs – Volvos und Mercedes und Jeeps, Stoßstange an Stoßstange vor den Nachbarhäusern. Abby entdeckte einen freien Platz vor Dr. Bennetts Haus und fuhr mit dem Golf auf seinen Rasen. Noch bevor sie den Motor abgestellt hatte, ging das Verandalicht an, und Dr. Bennett stand draußen und wedelte mit dem Finger. Peinlich berührt fuhr Abby um den Block und parkte stattdessen im Vorgarten der Hunts.
Es war dunkel auf dem Cruze. Die Luft war schwer und der Wind feucht. Der Bambushain neben Gretchens Haus rauschte und seufzte. Bei Margaret und Glee zu Hause konnte Abby jederzeit einfach reinkommen, aber bei Gretchen musste sie an der Tür klingeln. Weil heute Abend das Buchklubtreffen war, wusste sie nicht, ob sie klingeln oder sich einfach reinschleichen sollte, aber als sie den Weg hochkam, erklang lauter werdendes Frauengelächter, und Mr Lang kam zur Tür heraus.
»Hey, Mr Lang«, sagte Abby.
»Ach, Abby«, sagte er und schloss die Tür, um das raue Damengelächter zu dämpfen. »Das ist ein wilder Haufen.«
»Allerdings, Sir«, sagte Abby.
Da standen sie. Der Wind wechselte die Richtung. Drinnen ertönte erneut Gelächter.
»Kann ich Gretchen besuchen?«, fragte Abby.
»Geht es Gretchen gut?«, fragte Mr Lang im gleichen Moment.
Sie hielten beide inne, überrascht von dem Zufall.
»Äh, ja, Sir«, sagte Abby.
Im Laufe der Jahre hatte sie nur sehr wenige Erwachsenenunterhaltungen mit Gretchens Dad geführt, in erster Linie, weil sie gelernt hatte, sie zu vermeiden. Normalerweise wurde sie von ihm durch eine Reihe rhetorischer Fragen geleitet, die mit einem Vortrag über Trickle-down-Ökonomie, das Reich des Bösen und die wahre Lösung des Obdachlosenproblems endete.
»Du kannst mit mir reden, Abby«, sagte Mr Lang. »Nicht wahr? Wir verstehen einander doch?«
Sie stellte sich vor, wie Mr Lang Gretchens Schulhefte durchsah, um zu kontrollieren, ob sie Jungsnamen an den Rand malte. Sie stellte sich vor, wie der Arzt ihm sagte, dass die Jungfräulichkeit seiner Tochter intakt war.
»Wir verstehen einander bestens«, sagte Abby.
»Wenn mit Gretchen irgendetwas los ist, dann wäre es schön, davon ausgehen zu können, dass du es mir erzählst.«
Hinter ihm flackerte Licht am Horizont.
»Klar«, sagte Abby. »Kann ich hoch?«
Er betrachtete sie einen Moment lang kritisch, versuchte, mit seinen Rechtsanwaltsaugen ins Innere ihres Schädels vorzudringen, und gab dann den Weg frei. »Na, geh schon«, sagte er. »Ich muss mich um die Katze kümmern.«
»Was für eine Katze?«, fragte sie, während sie die Hand nach der Türklinke ausstreckte.
Mr Lang machte sich auf den Weg ums Haus herum.
»Weiter unten liegt eine tote Katze«, sagte er.
»Wem gehört sie?«, fragte Abby.
»Hier gibt es Eulen«, sagte er. »Die tragen schon die ganze Woche Katzen rum. Schnappen sie sich einfach und fliegen hoch. Eine Riesensauerei.«
»Abby!«, rief Gretchen und kam aus dem Haus gestürmt. Stimmen, Lärm und Gelächter ergossen sich aus der geöffneten Tür. Gretchen packte Abby am Arm und zog sie rein. »Hör auf, meine Freundin zu belästigen«, blaffte sie ihren Vater an.
Das Hausinnere war hell und erfüllt von Blumenduft und den Geräuschen fröhlicher Frauen im Wohnzimmer.
»Ju-huu!«, rief Mrs Lang. »Ist das Abby Rivers?«
Gretchen eilte, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe mit dem weißen Läufer hoch und zog Abby hinter sich her, wobei sie über die Schulter nach hinten blickte und den Kopf schüttelte. Abby hielt oben an der Treppe inne und beugte sich übers Geländer.
»Hi, Mrs Lang!«, rief sie, und dann war sie schon in Gretchens Zimmer, und Gretchen schloss die Tür. Die Klimaanlage war eiskalt eingestellt, was Abby veranlasste, sich die Ärmel über die Hände zu ziehen.
»Hast du eins bekommen?«, fragte Gretchen und zerrte an Abbys Schultasche.
Abby öffnete die Tasche und holte das beigefarbene Telefon heraus, das sie für elf Dollar im Wohltätigkeitsladen gekauft hatte. Es war voller weißer Farbspritzer und hatte eine Macke an einem Ende. Gretchen schnappte es sich, kletterte über ihre beiden Betten und hockte sich auf den Teppich, um es an der Buchse hinter ihrem Kopfende anzuschließen. Dann hob sie den Hörer und grinste.
»Freizeichen!«, flüsterte sie.
Sie zog das Kabel wieder heraus, wickelte es um das Telefon und machte die Tür zum Wandschrank auf. Der Brave Max erhob sich steifbeinig und kroch gähnend und sich streckend unter Gretchens Pult hervor. Während Gretchen das Telefon in ihrem Schrank vergrub, trottete der Hund zu Abby und stupste sie mit der kalten Nase in die Hand.
Als Gretchen wieder zum Vorschein kam, fielen Abby die dunklen Ringe unter ihren Augen und ihre gräuliche Hautfarbe auf. Ihr Kiefer war angespannt, und sie wirkte schreckhaft, aber nicht mehr ganz so erschöpft wie zuvor.
»Komm«, sagte Gretchen und ging in ihr Badezimmer. »Ich mach mir das Haar.«
Gretchen stellte sich an den Schminktisch, während Abby in die leere Wanne stieg und sich ausstreckte. Sie saß gerne in Gretchens Wanne. Das war ihr Ding. Max legte sich in die Tür. Er betrat nie das Bad, weil er Angst vor Fliesen hatte.
»Sie haben mir meine Telefonrechte entzogen«, sagte Gretchen, während sie sich auf ihr Spiegelbild konzentrierte und eine lange Haarsträhne gerade nach oben zog. »Aber ich muss trotzdem Andy anrufen.«
»Du musst Margaret anrufen«, sagte Abby, die Füße gegen die Wand gestemmt.
Gretchen hob den Lockenstab. »Ich entschuldige mich nicht. Alles, was ich gesagt habe, ist wahr, und Margaret weiß das auch. Deshalb ist sie ja so sauer.«
»Wallace verdient es total, dass man ihn vollkotzt«, sagte Abby. »Aber er ist ihr Freund.«
Gretchen drückte den Lockenstab zu und ließ ihn fünf Sekunden in ihrem Haar. Im Badezimmer breitete sich ein verbrannter Geruch aus.
»Margaret steckt ihm so weit im Arsch, dass sie schon gar nicht mehr sie selbst ist«, beschwerte sich Gretchen.
»Was machst du mit deinem Haar?«, fragte Abby.
»Andy meinte, dass ich Veränderungen willkommen heißen soll.«
Gedämpftes Gelächter drang durch den Boden zu ihnen. Abby wäre am liebsten nach unten gegangen. Sie wollte den Buchklub sehen. Sie wollte dort sein, wo man Witze machte und tratschte. Sie wollte sehen, ob Mrs Lang ihre Mini-Quiches gemacht hatte.
»Ich hoffe, dass wir auch immer noch so lachen können, wenn wir in deren Alter sind«, sagte Abby.
»Die sind besoffen«, sagte Gretchen. »Ich würde lieber sterben, als wie sie zu werden.«
Mehr Gelächter kam durch den Boden. Das Geräusch veranlasste Gretchen, die Lippen zusammenzupressen. Mit einem Klack löste sie den Lockenstab, roch an ihrer warmen Haarsträhne und wandte sich dann der nächsten zu.
»Wallace ist eine Null«, sagte Abby. »Aber du musst diplomatisch sein, wenn wir und die anderen Freundinnen bleiben wollen.«
Gretchen drückte den Lockenstab so fest zu, dass ihre Knöchel weiß hervortraten.
»Vielleicht will ich nicht mit ihnen befreundet bleiben«, sagte sie.
Abby war angesichts dieser Worte ratlos. Wie beschloss man, dass man nicht mehr mit jemandem befreundet sein wollte? Wie verabschiedete man sich einfach so von Menschen, die man seit Jahren kannte?
»Aber sie sind unsere Freundinnen«, sagte sie.
Mehr fiel ihr dazu nicht ein.
»Hör sie dir bloß an«, fauchte Gretchen, als der Boden erneut vom Gelächter bebte. »Davon kriege ich Kopfschmerzen. Du hättest hören sollen, wie meine Mutter von ihrer ›Problemtochter‹ schwadroniert hat. Dass ich ›verwirrt‹ sei und dass sie ›das Kreuz meines Erwachsenwerdens‹ zu tragen hätte. Diese Heuchelei macht mich krank.«
Sie legte den Lockenstab weg und drehte ihren Kopf vor dem Spiegel in beide Richtungen.
»Sieht das scharf aus? Oder bizarr?«
»Mir hat dein Haar so, wie es vorher war, gut gefallen«, sagte Abby.
Mit der Spitze ihres Turnschuhs drückte sie den Hebel hoch und runter, mit dem sich der Stöpsel der Wanne schließen ließ. Gretchen hob eine weitere Haarsträhne und bearbeitete sie mit dem Lockenstab. Abby stieg erneut der unangenehme Geruch in die Nase.
»Ich bin meine bescheuerte Frisur so was von leid«, sagte Gretchen. »Ich bin es so leid, dass mein Haar einfach runterhängt, sodass ich aussehe wie die perfekte Tochter von Pony und Grace. ›Hallo, ich bin der Gretchen-Roboter. Hätten Sie gerne zwei Komma fünf Babys und möchten in die Vorstadt ziehen?‹«
»Deine Eltern sind nicht böse oder so«, sagte Abby. »Sie tun ihr Bestes.«
»Du bist so naiv«, sagte Gretchen. »Wusstest du, dass man Molly Ravenel Satan geopfert hat?«
Der plötzliche Themenwechsel ließ Abby verwirrt zurück.
»Ich glaube, die ist nach Davidson gezogen«, sagte sie. »Vor Jahren schon. Ist ihr Bruder nicht Laienprediger an der Uni?«
Gretchen reagierte gar nicht auf ihre Frage. »Als wir in der siebten Klasse waren, gehörten ein paar aus der Oberstufe einem Kult an, und Molly hat sie im Wald beobachtet. Sie haben sie erwischt und ihr Zunge und Herz rausgeschnitten.«
»Die Geschichte geht schon seit Ewigkeiten um«, sagte Abby. »Zum ersten Mal habe ich die in der vierten Klasse gehört. Das hat man über alle erzählt, die im letzten Jahr die Schule gewechselt haben.«
»Das ist kein Witz«, sagte Gretchen. »Sogar Andy wusste davon. Die Schule hat das Ganze unter den Teppich gekehrt, weil sie nicht wollte, dass die Anmeldezahlen sinken, und man hat ihre Eltern bestochen, damit sie den Mund halten. Mollys Leiche wird also im Wald begraben, und alle tun so, als wäre nichts weiter vorgefallen. Unseren Eltern ist es egal, was mit uns geschieht, solange sie dadurch nicht in ein schlechtes Licht gerückt werden, und im Zweifelsfall schicken sie uns nach Southern Pines, damit man uns umprogrammiert.«
Gretchen hob ein weiteres Büschel Haare und steckte es in den Lockenstab.
»Das sind Einhörner«, sagte Abby und bewegte den Fuß weiter zu dem Hebel, mit dem man von der Wanne auf die Dusche umstellte.
»Wie das, was Glee über Procter & Gamble erzählt hat«, fuhr Gretchen fort, ohne Abby überhaupt zuzuhören. »Die geben Geld an satanistische Kirchen. Und dann ist da diese Vorschule in Kalifornien, wo kleine Kinder in Tunneln unter den Klassenzimmern missbraucht wurden. Jahrelang taten alle so, als wäre das ganz normal. Niemand sorgt sich um seine Kinder. Die gehen alle in die Kirche und lächeln, aber in ihnen drin ist etwas Finsteres, Böses. Gefällt dir das wirklich nicht?«
Gretchen stützte sich mit den Händen aufs Waschbecken, warf sich dramatisch in Pose und betrachtete durch den gekräuselten Pony hindurch ihr Spiegelbild. Abby gefiel es überhaupt nicht. Gretchen sah dadurch älter aus, wie jemand, den man in die Disco ließ.
»Ist in Ordnung.« Abby zuckte mit den Schultern und versuchte, den Dusch/Wannen-Hebel mit der Fußspitze zu drücken.
Abby gefiel Gretchens Haar, weil es dick und blond und voll war. Abby hatte ihr Haar so oft gebleicht, dass es mittlerweile dünn und fusselig war und ihren Kopf wie Zuckerwatte umschwebte. Gretchen wusste nicht, was sie an ihrem Haar hatte, aber eines Tages würde sie ihm nachtrauern.
»Du solltest dich nicht mit so finsterem Zeug beschäftigen«, sagte Abby. Sie drückte den Fußballen von der anderen Seite an den Dusch/Wannen-Schalter und legte ihn um.
»Das sind wichtige Sachen«, sagte Gretchen, löste den Lockenstab und begutachtete ihr Haar aus einem anderen Winkel. »Hältst du diesen ganzen oberflächlichen Kram etwa für wichtig? Den bescheuerten Buchklub meiner Mutter, und gute Noten, und dass Glee auf Vater Morgan steht, und ob Margaret mit Wallace Stoney Schluss machen sollte? Das lenkt alles nur vom Wesentlichen ab.«
»Und das wäre?«, fragte Abby.
»Das, was wirklich vorgeht«, erwiderte Gretchen.
»Das, was man bemerkt, ohne es ganz fassen zu können«, sagte Abby. »Aber du dachtest ja auch, dass es Einhörner wirklich gibt.«
Gretchen drehte sich zu ihr um.
»Ausgestorben«, sagte sie. »Ich dachte, sie wären ausgestorben.«
»Es muss sie aber erst mal gegeben haben, damit sie aussterben konnten«, sagte Abby.
Ein übler Geruch wogte durchs Zimmer – heiß und schmutzig, scharf und bitter. Es war das Schlimmste, was Abby jemals gerochen hatte.
»Max!«, sagte Gretchen und zerrte ihn am Halsband aus der Tür.
Während sie das tat, ließ er einen weiteren Hundefurz ab, diesmal begleitet von einem hohen Laut.
»Das ist Max’ Meinung dazu!« Abby lachte und wedelte sich mit der Hand vor dem Gesicht.
Gretchen knallte die Tür vor Max zu und versprühte United-Colors-of-Benetton-Duft im Raum. Sie fingen beide an zu lachen.
»Nein«, sagte Gretchen. »Damit bringt er zum Ausdruck, dass er meiner Meinung ist.«
»Max?«, rief Abby Richtung Tür und legte dabei den Zeh wieder auf den Duschhebel. »Wolltest du mit deinem zarten Hauch deine Zustimmung oder … wah!«
Der Hebel bewegte sich unerwartet, und aus dem Duschkopf ergoss sich kaltes Wasser in Abbys Schritt. Gretchen brach in Gelächter aus.
»Verdammt und zugenäht!«, heulte sie und ahmte dann Coach Greene nach. »Ihr müsst lernen, euer … kostbarstes … Geschenk … zu schützen.«
Abby sah auf den nassen Fleck auf ihrer Arbeitshose und warf dann einen Blick auf die Uhr.
»Ich sollte los.«
Gretchen griff nach ihrem Fön und suchte im Gewühl auf dem Schminktisch nach der Steckdose. »Warte«, sagte sie. »Da unten musst du Spießrutenlauf machen. Die werden denken, du hättest dir in die Hose gemacht.«
Sie brauchten fast eine halbe Stunde, um Abbys Schritt trocken zu föhnen, weil sie so sehr lachen mussten, und dann war es bereits halb elf, und der Buchklub verabschiedete sich nach und nach. Als Abby und Gretchen sich umarmten, stieg Abby einmal mehr ein säuerlicher Gestank in die Nase.
»Ruf mich an«, sagte Abby, aber sie hatte das Gefühl, dass Andy weiter oben auf Gretchens Prioritätenliste stand.
Als Abby die Treppe runterging, drängten sich gerade mehrere sehr kleine Frauen mit ausladenden blonden Frisuren vor der Eingangstür, gaben einander Wangenküsschen und gackerten wie Hühnerküken.
»Abby Rivers!«, sagte eine sehr beschwipste und erfreute Mrs Lang, als sie sie sah. »Du siehst ja entzückend aus in deiner Arbeitsuniform!«
Abby fühlte sich peinlich berührt, als sich ihr fünf aufgerissene Augenpaare zuwandten.
»Ist sie nicht herzallerliebst!«
»Wie niedlich!«
Die Frauen kicherten, und Abby stieg in ihre Mitte hinab und atmete eine Wolke Liz Claiborne und Opium von Yves Saint Laurent ein.
»Lass dich mal drücken«, sagte Mrs Lang und schlang die Arme um Abby, die mitspielte.
Mrs Lang musste ziemlich betrunken sein, denn normalerweise umarmte sie niemanden. Mr Lang kam aus dem Fernsehzimmer, um den Damen einen guten Abend zu wünschen; den Zeigefinger hielt er als Lesezeichen zwischen die Seiten von Der Kardinal im Kreml. Abby wurde auf dem Weg zur Tür sanft von einer gurrenden Südstaatendame zur nächsten weitergereicht. Dann übertönte Gretchens Gesang plötzlich alles.
»Oh, I wish I was in the land of cotton!«, sang Gretchen mit lauter, klarer Stimme das Dixie-Lied, und alle blickten auf.
Sie stand oben an der Treppe, eine Hand auf dem schwarzen Metallgeländer, mit rausgedrückter Brust und erhobenem Kinn. Abby war schon immer der Meinung gewesen, dass Gretchen eine wunderschöne Stimme hatte, und jetzt sang sie aus voller Kehle, presste die Luft mit Macht durch ihre Stimmlippen und erfüllte den Korridor mit ihrem klaren Klang. »Old times there are not forgotten! Look away! Look away! Look away! Dixie Land!«
Alle hielten inne, weil niemand wusste, ob er entzückt oder beleidigt sein sollte. Wurde ihnen dieses Ständchen in sarkastischer Absicht gebracht, oder war es aufrichtig gemeint?
»In Dixie Land, where I was born!«, fuhr Gretchen fort, wurde dabei lauter und schlug mit dem Handballen den Takt. »Early on one frosty morn! Look away! Look away! Look away! Dixie Land!«
»Das reicht jetzt, Gretchen«, sagte Mr Lang.
»Was hast du mit deinen Haaren gemacht?«, ächzte Mrs Lang.
Die Damen rannten mit einem Mal aufgescheucht durcheinander und stießen auf dem engen Flur zusammen, als ihnen klar wurde, dass sie sich mitten in einem Familienstreit befanden.
»I wish I was in Dixie!«, rief Gretchen und schwang dabei die Arme. »Hooray! Hooray!«
»Treib es nicht so weit, dass ich zu dir hochkomme«, warnte Mr Lang sie mit lila angelaufenem Kopf. »Es reicht.«
»In Dixie Land I’ll take my stand/to live and die in Dixie!«, rief Gretchen.
Mr Lang schob sich an Abby vorbei und stieg die Treppe hoch. Abby spürte, wie sich jemand in ihre Schulter krallte, und als sie sich umdrehte, sah sie die gehetzt dreinschauende Mrs Lang.
»Warst du das?«, fragte sie. Ihre Lippen waren feucht und ihr Blick glasig. Sie war völlig blau. »Hast du meiner Tochter die Haare ruiniert?«
»Away! Away!«, rief Gretchen. »Away down south in Dixie!«
»Ich bin nicht ihre Babysitterin«, sagte Abby und entwand sich Mrs Langs Griff.
»Away! Away! Away down south in DIXIEEEE!«
Ein kurzes Gerangel, gefolgt von einem Klatschen, waren von oben zu hören. Die Damen schnappten nach Luft. Gretchen hielt sich die Wange und starrte ihren Vater an.
»Das reicht«, sagte er und wandte sich dann mit einem entschuldigenden Lächeln zu den Frauen unten an der Eingangstür um.
Gretchen fing wieder an. »Hooray! Hooray! To live and die …«
Mr Lang packte sie am Arm und riss sie zur Seite. Gretchen richtete sich wieder auf, und irgendwie verlor Mr Lang den Halt. Er rutschte auf der obersten Stufe aus und stürzte mit rudernden Armen nach hinten. Alles geschah innerhalb eines Augenblicks, aber Abby war sich sicher, dass sie gesehen hatte, wie Gretchen ihn gestoßen hatte.
Mr Lang knallte gegen die Wand, sodass ihm der Atem mit einem Schrei aus den Lungen gepresst wurde. Dann landete er auf dem Hintern, überschlug sich mit den Beinen nach oben und fiel rückwärts die Treppe herunter. Als er unten landete, riss er um ein Haar Abby um.
Ein Moment der Stille folgte. Gretchen stand erstarrt am Kopfende der Treppe, und wilder Triumph loderte in ihrem Blick. Abby umklammerte mit beiden Händen das Geländer, sodass ihre Knöchel weiß hervortraten. Mrs Lang machte den Mund auf und zu. Die Damen vom Buchklub waren allesamt wie erstarrt. Keiner wagte es, sich zu regen.
Unter Mühen setzte Mr Lang sich auf.
»Mir geht es gut«, sagte er. »Ich …«
RUMMS!
Alle wandten den Kopf Richtung Wohnzimmer. Die gegenüberliegende Wand bestand aus Glas, und davor auf dem Boden lag eine flatternde Taube, die sich den Hals gebrochen hatte. Gerade als Abby sich abwenden wollte, ertönte ein weiterer Knall, und eine Möwe prallte gegen das Fenster und verschmierte Blut auf der Scheibe. Tock! Tock! Tock! Drei Spatzen trafen einer nach dem anderen auf das Glas.
Eine der Damen begann zu beten, als ein Vogel nach dem anderen gegen das Fenster flog; innerhalb von Minuten war der Betongehweg draußen mit benommen im Kreis laufenden Möwen übersät, die ihre gebrochenen Flügel hinter sich herschleiften, von auf dem Rücken liegenden Spatzen, deren Krallen sich im Tod langsam zusammenkrümmten, von zuckenden Tauben und einem Pelikan, der als unförmiger Haufen mit unnatürlich weit aufgerissenem Schnabel dalag und den Kopf langsam hin und her drehte.
Das Haus bebte, als Vögel sich in die Fenster im Obergeschoss stürzten, auf die Oberlichter, in die Seitenfenster – einer nach dem anderen, pausenlos. Es klang, als klopften überall am Haus unsichtbare Hände an, um zu sagen: »Lasst mich rein, lasst mich rein.« Drei der Frauen hielten sich bei den Händen und beteten. Mr Lang rannte zu dem riesigen Fenster am anderen Ende des Zimmers und wedelte mit den Armen, in dem vergeblichen Versuch, die Vögel zu verscheuchen.
Zwei Eulen stießen aus der Finsternis herab, landeten zwischen den benommenen und sterbenden Vögeln und bohrten ihre Krallen in die weichen Leiber. Sie stolzierten durch das mörderische Gelage und tauchten die Schnäbel in gefiederte Brustkörbe.
»Lieber Gott«, sagte eine der Damen.
Die beiden Eulen wandten sich nun dem Pelikan zu, der sich zur Wehr setzte, bis eine dritte Eule aus den Schatten herabflog und mit ihren Krallen den Hals des Vogels zu Boden drückte. Der Pelikan schlug in dem Versuch, sich zu befreien, wild mit den Flügeln, doch die Eulen rissen ihn in Stücke. Mit einem Flügel verschmierte der Pelikan Blut auf dem riesigen Fenster.
Ein hoher, gepeinigter Schrei ließ die Luft im Flur erbeben und übertönte das Geräusch der gegen das Haus prallenden Vögel. Als er sich in Abbys Ohren bohrte, blickte sie auf und sah Gretchen, die auf die Knie gesunken war, sich, die Finger ins krause Haar gekrallt, mit beiden Händen den Kopf hielt und schrie: »Aufhören! Aufhören! Aufhören!«
Doch es hörte nicht auf.