Paranoimia

Am nächsten Morgen war es so dunkel, dass die Straßenlaternen noch an waren, als Abby in den Golf stieg und zu Gretchen fuhr. Sie hatte ihr Gesicht in Windeseile aufgetragen, weil sie unbedingt erfahren musste, was geschehen war, nachdem Mr Lang die Treppe hochgegangen war und Gretchen die Hände von den Ohren gezogen hatte. Nachdem er die Arme um sie geschlungen hatte. Nachdem er ihre Schreie an seiner Brust erstickt hatte. Nachdem die Buchklubdamen zu ihren Autos gerannt waren. Nachdem Mr Lang aufgefallen war, dass Abby noch da war, und er sie aus dem Haus gescheucht hatte.

»Bitte«, sagte er, während er Abby die Tür vor der Nase zuschlug. »Wir brauchen ein bisschen Zeit für uns.«

Abby bog auf den Pierates Cruze ein, und die Scheinwerfer ihres Golfs schwenkten über drei prallvolle Müllsäcke an der Auffahrt der Langs, um die vereinzelte Federn im Wind tanzten. Die Säcke waren unförmig, und Krallen und Schnäbel drückten sich von innen dagegen.

Gretchen wartete in der Nähe von Dr. Bennetts Haus an der Auffahrt. Sie hielt den Kopf zwischen die Schultern gezogen, und der Wind peitschte die steifen Spitzen ihres krausen Haars. Sie trug das gleiche Kleid wie am Vortag. Abby hielt, Gretchen sprang in den Golf, und sie fuhren wieder los.

»Geht es dir gut?«, fragte Abby. »Was ist passiert? Hast du Schwierigkeiten gekriegt?«

Gretchen zuckte mit den Schultern.

»Ich weiß nicht«, sagte sie.

»Aber du hast deinen Dad geschubst!«, sagte Abby, während sie auf die Pitt Street einbog. »Ich habe es gesehen.«

Gretchen schüttelte den Kopf.

»Ich weiß nicht«, sagte sie. »Ich hatte irrsinnige Kopfschmerzen. Ich weiß nur noch, dass ich immer wütender geworden bin, und dann ist alles weiß geworden. Ich habe versucht, ihnen zu erklären, dass ich nicht schlafen kann, aber sie hören einfach nicht zu.«

Sie begann, an ihren Nägeln zu kauen.

»Musste dein Dad die ganzen Vögel wegmachen?«, fragte Abby.

Gretchen nickte mit Elendsmiene.

»Dr. Bennett ist zum Helfen gekommen, aber sie sind in einen Streit geraten«, sagte Gretchen. »Mein Dad sagt, dass es über hundert waren. Jedes Mal, wenn ich am Einschlafen war, habe ich sie wieder gehört.«

Inzwischen waren sie auf dem Coleman Boulevard und näherten sich der letzten Ampel vor der Brücke.

»Und wie sehr steckst du in Schwierigkeiten?«, fragte Abby und hielt an der roten Ampel.

Gretchen zuckte mit den Schultern.

»Heute Abend haben wir ein ›Familienbeisammensein‹«, sagte Gretchen und machte dabei mit den Fingern Gänsefüßchen. »Ich soll dasitzen und zuhören, während sie mir erzählen, was für Probleme ich habe.«

Bevor Abby weitere Fragen stellen konnte, wurde es grün, und sie ließ den Golf auf die Spur einschwenken, die über die alte Brücke führte. Die alte Brücke – ein zweispuriges Hochseil ohne Bürgersteige – erstreckte sich fünf Kilometer weit über den Cooper River und entließ die Autos am anderen Ende auf die Schnellstraße, die entlang des heruntergekommen Nordrands der Innenstadt verlief, wo die ganzen Fast-Food-Restaurants waren.

Die Brücke machte einen nervös. Die Fahrspur war zu schmal; wenn man zehn Zentimeter nach links abkam, stieß man mit dem Rückspiegel an das Stahlseil, das einem an den Ohren vorbeisauste. Eine neue, breitere Brücke, die drei Spuren, Seitenstreifen und sogar Gehwege auf beiden Seiten hatte, verlief parallel zu der alten, aber von der führte nur eine Spur in die Innenstadt, weshalb dort morgens um diese Zeit der Verkehr stand. Jeden Morgen musste man sich entscheiden, was einem lieber war: neu und langsam oder alt und schnell. Heute entschied Abby sich für alt und schnell.

Heulend versuchte der Wind, den Golf auf die andere Spur zu drücken, während Abby sich ans Steuer klammerte. Sie sausten den ersten Bogen hinab, und die anderen Autos kreischten dicht genug an ihnen vorbei, um Lack zu tauschen.

»Ich höre Stimmen«, sagte Gretchen.

»Wie bitte?«

»Sie erzählen mir Sachen.«

»Okay.«

Mehr konnte Abby nicht sagen, weil sie die lange Kurve am Ende des ersten Bogens erreicht hatten, wo immer die schlimmsten Unfälle passierten.

»Sie lassen mich einfach nicht in Ruhe«, sagte Gretchen. »Irgendwer flüstert mir dauernd ins Ohr. Es ist noch schlimmer als die Berührungen.«

Abby fuhr den zweiten Bogen hoch und fragte sich, ob heute der Tag gekommen war, an dem ihr der Motor ihres Golfs um die Ohren fliegen würde. Sie drückte das Gaspedal bis zum Boden durch, und trotzdem überholten die anderen Autos sie.

»Was sagen sie?«, fragte Abby. Sie musste schreien, um den Motorenlärm zu übertönen, als sie den Scheitel des zweiten Brückenbogens erreichten.

Der Golf ging nun in die Zielgerade, und Abby trat für das letzte Stück Weg zur Schnellstraße in die Bremsen.

»Sie erzählen mir Sachen über Menschen«, sagte Gretchen. »Über Glee und Margaret. Über Wallace und meine Eltern. Und über dich.«

Sie kamen auf die Schnellstraße und verlangsamten von achtzig auf fünfzig Stundenkilometer, sodass Abby aufhören konnte, über einen plötzlichen Tod nachzudenken, und sich nun wieder auf Gretchens Worte konzentrierte.

»Du weißt doch schon alles über mich«, sagte sie. »Ich bin dumm, Gretchen. Ich verstehe diese ganzen Andeutungen und Rätselspiele nicht. Wenn du mir etwas sagen willst, sag es einfach.«

Abby wechselte den Gang. Gretchen ließ sich in ihren Sitz zurücksinken.

»Sie meinten schon, dass du es nicht verstehen würdest«, sagte sie.

Und das war der Moment, in dem Gretchen begann, sich von ihr zurückzuziehen, und Abby konnte nichts tun, um sie davon abzuhalten.

 

Abby versuchte es durchaus. Sie hatte drei Fächer mit Gretchen: Einführung in die Programmierung, Amerikanische Geschichte und Ethik. Sie traf sich zum Mittagessen mit ihr. Sie traf sich in der Pause nach der vierten Stunde mit ihr. Und jedes Mal achtete sie sorgfältig darauf, etwas Lustiges über irgendeinen bescheuerten Eiskäufer zu erzählen, oder über Hunter Prioleaux’ alberne Sprüche im Unterricht. Hauptsache, sie lenkte Gretchen ab, damit sie nicht an zu Hause dachte, und brachte sie zum Lachen.

Nichts funktionierte.

Zum Mittagessen versuchte sie, Glee und Margaret dazu zu bringen, sich zu ihnen zu setzen.

»Wir reden nicht mit Gretchen«, sagte Margaret.

»Überhaupt nicht mehr oder nur jetzt gerade?«, fragte Abby.

Margaret lehnte sich mit den Schulterblättern an die Wand, während Glee auf der Suche nach ihrem Mittagessen in ihrem Schließfach herumkramte.

»Sie ist ein Spasti«, sagte Margaret. »Das weißt du doch, oder? Total schizo ist die.«

Abby schüttelte den Kopf, noch bevor Margaret ihren Satz beendet hatte.

»Etwas stimmt nicht mit ihr«, sagte sie. »Ich meine, im Ernst. Wir können sie jetzt nicht fallen lassen.«

»Wir lassen sie nicht fallen«, sagte Margaret. »Sie hat uns fallen gelassen.«

Margarets Art zu reden versetzte Abby in ein Gefühl der Hilflosigkeit. Alles war so, wie Margaret es sagte, und wenn man ihr nicht zustimmte, war man einfach dumm. Mit ihr zu streiten war zwecklos.

»Aber wir sind ihre Freundinnen«, sagte Abby.

»Wir machen Urlaub von Gretchen«, sagte Margaret. »Du kannst mit uns abhängen oder mit ihr. Also komm zu uns oder eben nicht.«

Sie stieß sich von den Schließfächern ab und ging raus auf den Rasen.

Abby drehte sich zu Glee um, die gerade ihre Tupperdose rausholte.

»Sie ist auch deine Freundin«, sagte Abby.

»Die zehnte Klasse ist die allerwichtigste«, sagte Glee. »Wenn du zu Gretchen halten willst, ist das wunderbar, aber ich halte mich da raus. Ich hab zu viel anderes zu tun.«

Sie klappte ihr Schließfach zu und drehte am Zahlenschloss.

»Du steckst längst mit drin«, sagte Abby.

»Nicht, wenn ich nicht will«, sagte Glee, und damit folgte sie Margaret.

Abby konnte es ihnen nicht ganz verdenken. Es wurde immer unangenehmer, sich mit Gretchen sehen zu lassen. Anfangs hatte sie nur ständig den gleichen schenkellangen grauen Rock getragen, den sie ohnehin schon zu oft anhatte, weil irgendjemand aus der Oberstufe mal gesagt hatte, dass sie darin scharf aussähe. Dann fiel Abby auf, dass Gretchen sich nicht mehr schminkte. Sie hatte immer Dreck unter den Nägeln und zerkaute sie neuerdings wieder.

Außerdem roch sie langsam komisch. Sie hatte nicht nur einfach leichten Mundgeruch; inzwischen war sie ständig von einem säuerlichen Gestank umgeben, der an die Jungen nach dem Turnen erinnerte. Jeden Morgen wollte Abby das Autofenster aufmachen, aber sie hatten eine Regel: An Schultagen blieben die Fenster oben. Ansonsten musste sie sich die Haare vor der Schule neu einsprühen.

»Bist du irgendwo reingetreten?«, fragte Abby eines Morgens in dem Versuch, Gretchen behutsam auf das Problem aufmerksam zu machen.

Gretchen antwortete nicht.

»Kannst du mal an deinen Schuhen nachsehen?«, sagte Abby.

Gretchen schwieg. Inzwischen war es so weit, dass Abby sich fragte, ob sie in einer Tonlage sprach, die Gretchen nicht hören konnte. Manchmal holte Gretchen morgens ihr Tagebuch raus, kritzelte darin herum und sagte während der ganzen Fahrt zur Schule kein einziges Wort. An anderen Tagen holte sie es bloß raus und ließ es ungeöffnet auf ihrem Schoß liegen. Heute war ein Kritzelmorgen, und Abby war froh, als sie auf die alte Brücke fuhr und sich auf etwas anderes als das Kratzen von Gretchens Stift in ihrem Buch konzentrieren konnte.

Es gab keine Gespräche um sechs nach elf mehr, weil Gretchen nicht mehr anrief. Abby rief nach wie vor bei Gretchen zu Hause an, aber Gretchen machte immer gerade ein Nickerchen oder Hausaufgaben. Mrs Lang blieb meistens am Apparat und fragte Abby, ob Gretchen einen Freund habe oder ob sie erwähnt hätte, dass es ihr schlecht ginge, oder ob sie in letzter Zeit etwas komisch gewirkt hätte. Schnatternd und trällernd redete sie sich um die Frage herum, zu der sie sich nicht überwinden konnte: Was war los mit ihrer Tochter? Abby wollte das Gleiche fragen: Was machten sie mit Gretchen? Nach der Sache mit dem Arzt und dem Buchklubtreffen war Abby sich ziemlich sicher, dass das, worüber Gretchen den Verstand verlor, zu Hause geschah, hinter verschlossenen Türen. Sie war zu höflich, um einfach aufzulegen, also unterhielt sie sich vordergründig mit Mrs Lang; und als ihr das mit der Zeit zu schwer fiel, rief sie gar nicht mehr an.

Die PSAT-Einstufungstests standen bevor, und mit einem Mal hatten alle die dazugehörigen Übungsbücher unter den Armen. Glee hatte den Test schon einmal im Vorjahr abgelegt, und Margaret hatte einen Tutor. Normalerweise hätte Abby mit Gretchen zusammen gelernt, doch nun saß sie jeden Abend allein in ihrem Zimmer und vergrub sich in ihren Prüfungsvorbereitungen, ohne sich wirklich auf die Übungsfragen konzentrieren zu können. Stattdessen dachte sie die ganze Zeit über Möglichkeiten nach, zu Gretchen durchzudringen.

Gretchen trug nach wie vor den gleichen Rock, und in der zweiten Woche hatte sie auch angefangen, ihre Bluse einfach weiter anzuziehen. Es handelte sich um ein stahlblau kariertes Esprit-Top mit Gürtel unter der Hüfte. Nach ein paar Tagen trug sie den dazugehörigen Gürtel nicht mehr, wodurch das Top wie ein formloser Sack aussah. Das Schlimmste war allerdings, dass ihre Haut sich zu entzünden begann. Winzige rote Pickel bildeten sich rund um ihre Nase.

Eines Morgens, als sie an der Ampel zur Schnellstraße warteten, erklang die Klaviereröffnung in Moll zu »Against All Odds« im Radio. Sie hatten die Regel, dass sie, wenn Phil Collins im Radio kam, mit allem aufhören und mitsingen mussten. Heute Morgen war Abby bereit.

»Die Hühnerkuh frisst mein Heu«, sang Abby Gretchen zu und tauschte den Text dabei gegen klanglich passenden Blödsinn aus. Damit brachte sie Gretchen immer zum Lachen. »Jetzt pickt sie mir ins Gesicht/Dies Gepicke ertrag ich nicht … erträgst du es? … Uh-UUH/Ach ja, nur sie allein/Pickt mich manchmal an.«

Gretchen hätte die zweite Strophe übernehmen sollen, aber als die Synthesizer lauter wurden und die Ampel umsprang, sang niemand im Auto außer Phil. Abby hielt es nicht mehr aus.

»Kommen Sie schon, meine Damen«, sagte sie wie ein Schnulzensänger am Klavier. »Sie kennen den Text.«

Gretchen betrachtete die am Fenster vorbeiziehenden Fast-Food-Restaurants. Abby hatte keine andere Wahl, als beim Refrain wieder einzusteigen. »So sieh nur, meine Kuh/Die mit dem Hühnergesicht/Es gibt keinen mehr, der mir sagt/Von dieser Welt hier ist sie nicht.«

Wenn Abby einmal angefangen hatte, konnte sie nicht wieder aufhören, also sang sie den ganzen Refrain lang weiter mit und kam sich dabei wie ein Trottel vor, weil sie aus voller Kehle sang und dabei einfach ignoriert wurde. Dann verstummte sie unvermittelt, als hätte sie eigentlich nie vorgehabt, sich ernsthaft auf die zweite Strophe einzulassen. Der Rest der Fahrt verlief schweigend.

Gretchen ließ die Ärmel heruntergekrempelt, und wenn es auch noch so warm war. Manchmal tauchte sie morgens mit schmutzigen Pflastern an den Fingerspitzen auf. Ihr Atem stank immer schlimmer. Ihre Zunge war von einem dicken, weißen Film bedeckt. Mit dem Lockenstab hatte sie ihr Haar zu einem mit Mühe und Not durch ein Haargummi gebändigten Fusselnest gemacht, und ihre Lippen waren immer rissig. Sie wirkte niedergeschlagen, erschöpft, geduckt, ausgequetscht. Abby fragte sich, wie sie morgens an ihrer Mom vorbeikam.

Der erste Lehrer, der etwas sagte, war Mr Barlow. Nachdem Gretchen in der ersten Stunde zweimal eingeschlafen war, ließ er sie nach dem Unterricht dableiben. Abby wartete, bis sie aus seinem Büro geschlurft kam.

»Was hat er gesagt?«, fragte sie, als Gretchen sich an ihr vorbeischob.

Bevor sie etwas antworten konnte, rief Mr Barlow Abby in sein winziges Büro, in dem es nach Gretchens saurem Schweiß stank. Mr Barlow schlug in dem Versuch, sein Fenster zu öffnen, mit dem Handballen dagegen.

»Ich habe keine Ahnung, was mit Gretchen los ist«, sagte er, gab die Sache mit dem Fenster auf und schaltete den Ventilator auf seinem Schreibtisch an. »Aber wenn deine Freundin dir wichtig ist, musst du dafür sorgen, dass sie von dem Zeug, das sie nimmt, runterkommt.«

»Wie bitte?«, fragte Abby.

»Wie bitte?«, äffte Mr Barlow sie nach. »Ich bin kein Trottel. Ich weiß, was Drogen sind. Wenn du wirklich ihre Freundin bist, sorg dafür, dass sie aufhört.«

»Aber Mr Barlow …«, sagte Abby.

»Spar dir das«, fuhr er sie an, ließ sich in seinen Stuhl fallen und griff nach einem Stapel Klausuren. »Ich habe gesagt, was ich zu sagen habe, du hast mich gehört, und der Nächste, mit dem ich spreche, ist Major. Ich gebe dir die Chance, deiner Freundin zu helfen. Und jetzt ab in den Unterricht.«

Abby begriff, dass niemand etwas unternehmen würde. Fünf Jahre lang war Gretchen die perfekte Albemarle-Schülerin gewesen, und die Lehrer sahen nach wie vor das, was sie zu sehen gewohnt waren – und nicht das, was wirklich geschah. Vielleicht gaben sie dem Prüfungsstress oder heimischen Problemen die Schuld. Vielleicht gingen sie davon aus, dass die zehnte Klasse eben eine schwierige Übergangszeit war. Vielleicht waren sie mit ihren eigenen Scheidungen und beruflichen Dramen und Problemkindern beschäftigt, und wenn Gretchen am Montag noch immer nicht wieder in der Spur war, würden sie etwas sagen. Oder am Montag darauf. Oder dem Montag danach.

Etwas veränderte sich in Gretchen. Vielleicht war es das Acid, vielleicht war es Andy, vielleicht waren es ihre Eltern, vielleicht war es auch etwas Schlimmeres. Worum auch immer es sich handelte, Abby musste weiterhin ihr Bestes geben. Sie konnte ihre Freundin nicht fallen lassen, weil Gretchen nämlich bald bereit sein würde zu reden. Jede Minute würde sie von ihrem Tagebuch aufsehen und sagen: »Ich muss dir etwas Wichtiges sagen.«

Der nächste Tag war ein Mittwoch, und als Gretchen in den Golf stieg, war Abby erleichtert: Sie trug immer noch die gleichen Kleider, aber sie roch nicht mehr schlecht. Vielleicht war Mr Barlow doch zu ihr durchgedrungen.

Dann stieg ihr ein neuer Geruch in die Nase: Benetton-Parfüm. Gretchen war damit getränkt. Sie hatte vor zwei Jahren eine Flasche von ihren Eltern bekommen, und seitdem handelte es sich um ihren Lieblingsduft. An jenem Morgen stank Gretchen geradezu danach. Abby brannten noch immer die Augen, als sie den Klassenraum zur ersten Stunde betrat.

Später am selben Tag wandte Abby sich schließlich wider besseres Wissen an eine höhere Autorität. Als sie von ihrem Job nach Hause kam, fand sie ihre Mutter am Esstisch vor, wo sie damit beschäftigt war, die Steuer zu machen. Abbys Mutter übernahm so viele Schichten, wie sie konnte, und schlief dreimal die Woche bei Patienten zu Hause, für den Fall, dass sie aufwachten und jemand ihnen die Windel wechseln musste. Abby sah sie vor allem im Vorbeigehen oder auf dem Sofa schlafend, oder sie hörte sie hinter verschlossener Schlafzimmertür husten. Weil sie nicht wusste, wie sie eine Unterhaltung mit ihr anfangen sollte, stand sie unbeholfen am Sofa, bis ihre Mutter sie bemerkte.

»Was ist?«, fragte Mrs Rivers, ohne aufzublicken.

Abby stürzte sich ins kalte Wasser, ohne sich Zeit für Zweifel zu geben.

»Hast du manchmal Patienten, die Stimmen hören?«, fragte sie. »Also Stimmen, die die ganze Zeit mit ihnen reden und ihnen Sachen erzählen?«

»Klar«, sagte ihre Mom. »Spinner.«

»Tja«, sagte Abby wagemutig, »und wie werden die wieder gesund?«

»Gar nicht«, sagte ihre Mom und zerriss einen Stapel ungültiger Schecks. »Wir geben ihnen Pillen, schicken sie ins Irrenhaus oder stellen jemanden wie mich ein, der aufpasst, dass sie nicht den Abflussreiniger exen.«

»Aber es muss doch etwas geben, was ihr tun könnt«, sagte Abby. »Damit sie wieder wie vorher werden.«

Abbys Mom war erschöpft, aber sie war nicht dumm. Sie nahm einen Schluck von ihrer Pepsi Light und sah ihre Tochter an.

»Wenn es hier um Gretchen geht, und das tut es ja normalerweise«, sagte sie, »dann geht dich das einen feuchten Kehricht an. Kümmere dich um dich selbst und überlass es Gretchens Eltern, sich um Gretchen zu kümmern.«

»Etwas stimmt nicht mit ihr«, sagte Abby. »Du könntest mit ihren Eltern reden, oder wir gehen zusammen rüber. Auf dich würden sie hören.«

»Solche Familien hören nicht auf andere Leute«, sagte Mrs Rivers. »Was auch immer da läuft, wenn du dich einmischst, verschaffst du ihnen nur einen Vorwand, dir die Schuld an allem zu geben.«

Abby wurde schwindelig. Tief in ihrem Innern dachte sie das Gleiche, aber aus dem Mund ihrer Mutter klang es so unfair. Ihre Mom wusste überhaupt nichts über die Langs.

»Du bist nur neidisch, weil ich Freunde habe«, erwiderte sie.

»Ich sehe, was für Freunde du hast«, sagte Abbys Mom. »Und sie sind völlig bedeutungslos. Du hast eine große Zukunft vor dir, aber diese Mädchen machen dich nur fertig und ziehen dich in den Dreck.«

Abby spürte ein heißes Knistern in der Brust. Ihre Mom hatte nie erwähnt, wie sie über Abbys Freundinnen dachte – und nun war Abby entsetzt, als sie erfuhr, was für ein falsches, verzerrtes Bild sie von ihnen hatte. Abbys Mom wusste überhaupt nichts über ihre Freundinnen.

»Du hast ja nicht mal Freundinnen«, sagte Abby.

»Was denkst du, wo sie hin sind?«, fragte Abbys Mom. »Charlestoner wie die Langs wollen es einfach nur leicht haben. Sobald ein Wölkchen aufzieht, suchen sie Deckung.«

Das Gefühl der Hilflosigkeit, das Abby empfand, war mit Worten nicht zu beschreiben.

»Du verstehst überhaupt nichts«, sagte sie.

Ihre Mutter wirkte ehrlich überrascht.

»Lieber Himmel, Abby. Was denkst du, wo ich aufgewachsen bin? Ich verstehe mehr von diesen Leuten als du.«

»Ich hätte nichts sagen sollen«, sagte Abby.

Ihre Mom massierte sich den Nasenrücken. Mit geschlossenen Augen sagte sie: »Als ich in deinem Alter war, habe ich den Falschen vertraut. Ich habe herumgealbert, als ich die Dinge hätte ernst nehmen sollen. Ich habe zugelassen, dass mir alles über den Kopf wächst. Diese Mädchen sind nicht wie du. Wenn sie einen Fehler machen, können ihre Eltern sie mit Geld freikaufen. Aber Leute wie wir? Wenn wir einmal einen Fehler machen, sucht uns das unser Leben lang heim.«

Abby wollte erwidern, dass ihre Mutter unrecht hatte. Sie wollte sie zu der Einsicht zwingen, dass sie einander kein bisschen ähnlich waren. Aber sie war so wütend, dass ihr die Worte dafür fehlten.

»Ich hätte niemals mit dir darüber reden sollen!«, rief sie und stürmte in ihr Zimmer.

Am Montag fuhr Abby vor dem Haus der Langs vor und sah, dass Max mal wieder die Mülltonnen umgeschmissen und einen Müllsack mitten auf Dr. Bennetts Rasen gezogen hatte, um ihn dort zu zerfetzen. Als Abby die Handbremse zog, hob Max erschreckt die Nase aus dem weißen Plastik und rannte davon. Da sah Abby, dass der Müllsack voller benutzter Maxipads und Tampons war, ein ganzer Haufen, getränkt von geronnenem schwarzen Blut.

Abby überlegte gerade, ob sie den Schlamassel beseitigen oder hupen sollte, als Dr. Bennett aus der entgegengesetzten Richtung den Cruze entlangkam. Offenbar kehrte er gerade von seinem Morgenspaziergang zurück und schwang dabei den Spazierstock mit der an einem Ende festgenagelten Gummikappe, den er sich aus einem abgesägten Besenstiel gemacht hatte.

Er sah den blutigen Müll auf seinem Rasen in ebendem Moment, in dem Gretchen das Haus verließ. Sie sah benommen aus und trug immer noch die gleiche Kleidung wie am Vortag. Aus dem Innern des Golfs, bei hochgekurbelten Fenstern, wirkte das Ganze wie eine Szene aus einem Stummfilm. Dr. Bennett schrie Gretchen an und verlieh seinen Worten dabei Nachdruck, indem er mit seinem Stock auf den Müllbeutel einschlug. Gretchen hob zur Antwort den Mittelfinger, und Abby las ihre Lippen:

»Leck mich.«

Abby versteifte sich. Sie wusste nicht, was sie machen sollte. Aussteigen? Im Auto bleiben? Dr. Bennett kam nun schneller auf Gretchen zu, als sie ihn je in Bewegung gesehen hatte, ging an ihrer Motorhaube vorbei und holte mit seinem Stock nach Gretchens Beinen aus. Gretchen schlug mit ihrer Schultasche nach ihm und stieß ihn gegen Mrs Langs Volvo. Er brüllte wieder, und dann kam Mr Lang aus dem Haus gerannt, mit Mrs Lang in einem pinken Jogginganzug direkt dahinter.

Abby sah, wie Mr Lang die Worte »He, he, he!« mit dem Mund bildete, während er sich zwischen Dr. Bennett und seine Tochter stellte, und dann rauften die beiden Männer miteinander und packten sich gegenseitig am Hemdkragen.

Gretchen, die für den Moment vergessen war, rannte hinten um den Golf herum und riss die Tür auf. Geschrei erfüllte das Auto, als sie sich in einer die Nasenschleimhäute versengenden Benetton-Wolke in ihren Sitz fallen ließ.

»Los«, sagte sie.

Abby trat aufs Gas, sodass der Kies unter den Reifen aufspritzte. Sie flohen durchs Old Village. Beim Stoppschild sah Abby Gretchen zum ersten Mal seit Langem richtig an und versuchte festzustellen, wer jetzt gerade neben ihr saß, und nicht nur, wer seit jeher neben ihr saß. Rote, entzündete Pickel waren auf ihrem Kinn verteilt, infizierte Eiterbeulen wuchsen in ihren Nasenfalten, auf der Stirn hatte sie eine trockene Schorfkruste. Ihr Atem roch schlecht. Ihre Zähne waren gelb. Ihre Augenwinkel waren verklebt. Sie stank nach Parfüm.

Jemand musste etwas unternehmen. Jemand musste etwas sagen. Die Lehrer machten es nicht. Ihre Mom machte es nicht. Die Langs machten es auch nicht. Also blieb Abby.

Der Verkehr auf den Brücken war nicht besonders dicht, weil sie spät dran waren, also fuhr Abby nach links auf die neue Brücke. Während sie den ersten Bogen hinauffuhren und der Motor des Golfs sich einem Herzinfarkt näherte, sprach Abby ihre Gedanken schließlich aus.

»Was geschieht mit dir?«, fragte sie.

Zuerst rechnete sie nicht damit, dass Gretchen überhaupt etwas sagen würde, aber dann sprach sie mit heiserer Stimme.

»Du musst mir helfen«, sagte Gretchen.

Abby schwebte im siebten Himmel.

»Was immer du willst.«

»Du musst mir helfen …«, wiederholte Gretchen und verstummte langsam. Sie kaute auf ihren Fingernägeln.

»Wie soll ich dir helfen?«, fragte Abby und stieg für den Weg bergab in die Bremsen.

»Du musst mir dabei helfen, Molly Ravenel zu finden«, sagte Gretchen.

Abby wurde es schwer ums Herz, und dann zerbarst etwas in ihr zu reiner, unverfälschter Wut. Wochenlang hatte sie überlegt, was zu tun war, und jetzt redete Gretchen von irgendeiner bescheuerten urbanen Legende?

»Molly Ravenel ist mir egal!«, rief Abby. »Warum verhältst du dich so?«

»Wir müssen sie ausgraben und christlich beisetzen«, brabbelte Gretchen und beugte sich vor. »Sie ist unter der Blockhütte auf Margarets Stück Land in Wadmalaw und verrottet im Dreck, weil Satan sie dort hingelegt hat, weil er ihre Seele gefressen hat. Aber wenn wir Molly beisetzen, wenn wir Molly retten, wenn wir sie rausholen …«

»Sei still!«, schrie Abby, während sich der Golf den zweiten Bogen hinaufmühte. »Sei still! Sei still! Ich bin die einzige Freundin, die dir noch geblieben ist, und ich habe zu dir gehalten, obwohl alle mir davon abraten, und jetzt redest du endlich mit mir, und es kommt nur dieser blödsinnige Kindergartenmüll aus dir raus? Ich erkenne dich nicht wieder!«

»Ich bin ich«, sagte Gretchen. »Oder? Vielleicht bin ich jemand anders? Nein, ich bin immer noch ich. Noch ist es nicht geschehen, es kann noch nicht geschehen sein. Ich bin immer noch ich, ich selbst. Du musst mir glauben, dass ich immer noch ich bin.«

Abby kam zu dem Schluss, dass Gretchen eine Dosis Wirklichkeit brauchte. Alle schlichen um sie herum und taten so, als wäre nichts los. Jemand musste Klartext mit ihr reden.

»Wenn du nicht anfängst, normal mit mir zu reden«, sagte Abby, »lasse ich dich fallen und rede nie wieder mit dir, und dann bist du allein und …«

Gretchen warf sich über die Gangschaltung und packte das Steuer. Sie waren auf der Downtown-Spur, und Gretchen riss das Steuer nach links, sodass der Golf in den Gegenverkehr schlingerte, direkt auf die Kühlerhaube eines marineblauen Pick-up-Trucks zu.

»Nein!«, schrie Abby.

Ihr erster Instinkt war, die Bremse durchzutreten, aber der Pick-up war schon zu nah. Abby sah den Fahrer – ohne Hemd und mit im Wind flatterndem Nackenspoiler –, wie ihm die Zigarette aus dem Mund fiel und er mit beiden Händen sein Steuer umfasste. Das Auto hinter ihnen hupte. Abby riss das Steuer nach rechts, doch Gretchen hielt dagegen. Der Golf eierte und schlitterte, und dann versetzte Abby Gretchen einen festen Ellbogenstoß ans Ohr. Gretchen wurde zurück in ihren Sitz geschleudert, und ihr Kopf prallte gegen das Beifahrerfenster, während Abby das Steuer nach rechts kurbelte und betete, dass dort, wo sie hinwollte, kein Auto war.

Für einen Moment kam die Schnauze des Golfs gefährlich dicht an den Asphalt, und dann schlingerte der Wagen mit einem Übelkeit erregenden Ruck zurück auf die rechte Spur. Abby hatte das Steuer zu weit herumgerissen, und nun hörte sie das Geräusch quietschender Reifen, wie man es aus Filmen kannte; sie roch brennendes Gummi. Der Golf raste auf das metallene Brückengeländer zu, und Abby sah, wie die Schnauze des Wagens gegen das Metall prallte, das Heck sich in die Lüfte erhob und wie der Golf, sich überschlagend, in den freien Fall überging, hinab, hinab, bis er dreißig Meter weiter unten auf das betonharte Wasser traf.

Und dann waren sie wieder auf ihrer Spur, als wäre nichts geschehen, und der Golf flog mit neunzig Stundenkilometern dahin. Eine Creekside-Mom im frisch gewaschenen Kombi hupte, als sie links an ihnen vorbeirauschte. Das Heck des marineblauen Pick-ups befand sich in ihrem Rückspiegel und verschwand Richtung Mt. Pleasant. Gretchen lehnte an ihrer Tür und hielt sich das Ohr.

Abbys Herz hämmerte ihr in der Brust, als sie über den nächsten Bogen fuhren und dann die Brücke verließen. Sie bog nach rechts ab, fuhr auf den Parkplatz vor der alten Zigarrenfabrik und löste die Hände vom Steuer, einen verkrampften Finger nach dem anderen. Dann schrie sie so laut, dass ihre Stimme im Wagen widerhallte.

»Was zum Teufel ist los mit dir?«

Gretchen vergrub das Gesicht in den Händen und brach mit zuckenden Schultern in lautes, krampfhaftes Schluchzen aus. Vielleicht weinte sie, vielleicht lachte sie auch. Abby war es egal. Sie tobte und schrie vor Wut und bohrte den Finger in Gretchens bebenden Rücken.

»Ich bin fertig mit dir!«, rief sie. »Du hast versucht, uns umzubringen! Mir reicht’s! Ich rede nie wieder mit dir!«

Gretchens Hand schoss vor und krallte sich in Abbys Ärmel.

»Nein«, flehte sie. »Lass mich bitte nicht allein. Wenn du gehst, dann halte ich das nicht mehr aus.«

»Dann sag mir, was vorgeht«, sagte Abby und spürte, wie das Adrenalin langsam verebbte und sie hungrig und mit einem üblen Gefühl im Magen zurückließ.

»Ich bin so müde«, sagte Gretchen, lehnte sich in ihrem Sitz zurück und schloss die Augen. »Ich will doch nur schlafen.«

»Komm mir nicht damit«, warnte Abby sie.

»Du willst wissen, was vorgeht?«, fragte Gretchen. »Du willst wissen, was wirklich vorgeht?«

»Was glaubst du denn?«, fragte Abby.

Lange saßen sie, ohne zu reden, im Golf, und dann sagte Gretchen Abby schließlich die Wahrheit.