Jenny (867–5309)

Am nächsten Morgen fuhr Abby auf den Schülerparkplatz und ging direkt zum Sekretariat.

»Ms Toné«, sagte sie. »Ich muss mit Major sprechen.«

Es gab keinen Notfall, den Ms Toné nicht schon gesehen hatte, und da Abby keine sichtbaren blutenden Wunden aufwies, ließ sie sie warten, bis es zum ersten Mal klingelte.

»Ich gebe dir einen Verspätungszettel«, sagte Ms Toné. »Aber erst mal musst du tief durchatmen.«

Abby behielt das Fenster im Auge, um zu sehen, ob Gretchen das Schulgebäude betrat, aber sie tauchte nicht auf. Die Klingel ertönte, und Major kam zur Tür herein. Er ging gerne vor der ersten Stunde durch die Korridore und verteilte Tadel für entblößte Schultern, bizarre Moden und jeden sonstigen Ausdruck persönlicher Identität durch Kleidung, etwas, das seiner Meinung nach nichts an der Albemarle Academy verloren hatte. Gerade hatte er einen Verstoß Jumper Rileys gegen die Kleiderordnung vermerkt (sein Haar hing ihm auf den Kragen), als er Abby sah und innehielt.

»Ich bin Abby Rivers«, sagte sie. »Aus dem zehnten Jahrgang.«

»Sie hat hier gewartet, weil sie mit Ihnen sprechen wollte«, erklärte Ms Toné.

Wortlos winkte Major Abby in sein Büro, das gelb gestrichene Betonziegelwände hatte und mit den üblichen Büromöbeln eingerichtet war. Der einzige Schmuck waren eine amerikanische Fahne in der Ecke, ein großes, gerahmtes Foto von Präsident Reagan, der der Zukunft entgegenlächelte, und ein Poster an der Türinnenseite. Die eine Hälfte zeigte einen schlammverschmierten Football-Spieler, der im Gras kniete und unter dem stand: »Ich gebe auf.« Auf der anderen war ein riesiges Kreuz auf einem Hügel zu sehen, das von hinten von der Sonne angestrahlt wurde, und darunter stand: »Er nicht.«

Major ließ seine Körpermasse hinter dem Schreibtisch nieder.

»Major«, sagte Abby. »Ich muss Ihnen von etwas erzählen, das einer anderen Schülerin passiert ist. Meiner besten Freundin? Gretchen Lang? Ich glaube, ein Lehrer muss davon erfahren.«

Er drehte sich zu einem Aktenschrank um, holte eine Mappe aus Manilapapier daraus hervor, legte sie in die Mitte seines leeren Schreibtischs und blätterte sie durch. Schließlich blickte er auf.

»Hier steht, dass Sie eine unserer Stipendiatinnen sind, Ms Rivers«, sagte Major.

Die Abschweifung brachte Abby aus dem Konzept.

»Ja, Sir«, sagte sie. »Das stimmt.«

Major stellte mit einem Nicken fest, dass sie sich zumindest darin einig waren.

»Genau genommen sind Sie derzeit unsere älteste Stipendiatin«, polterte er. »Das ist eine große Verantwortung, Ms Rivers. Unsere Familie hier an der Albemarle Academy möchte gerne die Hand ausstrecken und hervorragende Schüler unter den weniger Begüterten finden, um sie emporzuheben und ihnen die Möglichkeiten zu eröffnen, die eine umfassende Schulbildung mit sich bringt. Aber zuerst müssen Sie sich selbst helfen.«

Abby hatte keine Ahnung, wovon er redete, aber sie gab sich alle Mühe, das zu sagen, was von ihr erwartet wurde.

»Ja, Sir«, sagte sie. »Ganz genau. Ebendeshalb wollte ich Ihnen ja erzählen, was Gretchen Lang passiert ist. Sie ist keine Stipendiatin«, fügte sie lahm hinzu.

»Nein«, pflichtete Major ihr bei. »Ich bin über Ms Langs Situation im Bilde. Also, der Unterricht hat bereits begonnen, und Sie vergeuden wertvolle Unterrichtszeit. Was haben Sie mir zu sagen, Ms Rivers?«

Es fiel Abby schwerer als erwartet, das, was sie ihm mitzuteilen hatte, laut auszusprechen.

»Man hat sie überfallen?«, sagte sie fragend und versuchte dabei, nicht zu emotional zu klingen. »Wir waren bei Margaret Middleton in Wadmalaw, und Gretchen hat sich im Wald verlaufen, und während sie dort draußen war, hat jemand ihr etwas angetan. Sie war die ganze Nacht lang weg, und jetzt stimmt etwas ganz und gar nicht mit ihr.«

»Sie wurde angegriffen?«, wiederholte Major.

»Ja, Sir.«

»Von wem?«

»Von … einem Jungen?«

»Einem Schüler?«

»Das weiß ich nicht«, gestand Abby.

Major lehnte sich in seinem Stuhl zurück, legte die Fingerspitzen aneinander und betrachtete für eine Weile das Poster an seiner Türinnenseite.

»Sie glauben also, dass Ms Lang Opfer eines sexuellen Übergriffs geworden ist?«

Abby spürte, wie ihr Herz wieder zu schlagen begann. Er nahm sie ernst. Sie nickte.

»Ja, Sir«, sagte sie.

»Und Sie glauben, dass dieses Verbrechen geschah, als sie sich außerhalb des Schulgeländes auf einer Übernachtungsparty in Wadmalaw auf dem Grundstück der Middleton-Familie befanden?«, fragte er.

Abby nickte und setzte ein verspätetes: »Ja, Sir« hinzu.

Es fühlte sich gut an, das loszuwerden.

»Und warum ist Ms Lang nicht hier, um mir das mitzuteilen?«, fragte Major.

Abby überlegte, was Gretchen gesagt hätte, wenn sie an ihrer Stelle hier gesessen hätte, die Musterschülerin, verschorft und nach Parfüm stinkend und verkrümmt von Molly Ravenel faselnd.

»Sie ist ein kleines bisschen verwirrt«, sagte Abby.

»Vielleicht interessiert es Sie ja, dass ich vor Ihrem Eintreffen heute Morgen einen Telefonanruf erhalten habe«, sagte Major. »Haben Sie wohl eine Idee, wer dran gewesen sein könnte? Nein? Es war die Mutter von Gretchen Lang. Sie hat sich Sorgen gemacht, weil Sie und ihre Tochter wohl ein Zerwürfnis hatten. Sie meinte, dass Sie vielleicht versuchen würden, den Namen ihrer Tochter durch den Dreck zu ziehen. Sie hat außerdem darauf hingewiesen, dass der Charakter Ihrer Freundschaft zu Gretchen Lang ihr Sorgen bereitet. Ich glaube, sie hat sie als ›unziemlich‹ bezeichnet. Verstehen Sie, was ich Ihnen sagen will?«

Abbys Kopf fühlte sich hohl an. Mit einem Mal wurde ihr allzu bewusst, wie jung sie war. Wie jung und dumm.

»Ich habe derzeit keine Meinung über den Charakter Ihrer Freundschaft zu Ms Lang«, polterte Major weiter. »Aber ich bin dabei, mir sehr schnell eine zu bilden. Mir ist Ihre unentschuldigte Abwesenheit gestern nicht entgangen. Mir sind auch die jüngsten Veränderungen in Ms Langs Verhalten nicht entgangen. Glauben Sie nicht, dass ich nicht im Bilde darüber wäre, dass es hier auf dem Schulgelände Schüler gibt, die Betäubungsmittel verkaufen und verwenden, Ms Rivers. Ich habe es mir zur Aufgabe gemacht, herauszufinden, wer diese Schüler sind, und ich behalte Ms Lang sehr genau im Auge. Und nach diesem Telefonanruf von Mrs Lang werde ich auch Sie sehr genau im Auge behalten, Ms Rivers. Die Anschuldigungen einer besorgten Mutter sind kein Beweis, aber falls ich feststellen sollte, dass Sie in irgendeiner Hinsicht für die Veränderung von Gretchen Langs Verhalten verantwortlich sind, falls ich herausfinde, dass Sie ihre ›Dealerin‹ sind, übergebe ich Sie den Behörden. Ich muss wohl nicht darauf hinweisen, dass Ihre akademische Laufbahn damit beendet wäre.«

Er schloss Abbys Akte und legte die Hand darauf.

»Ich tue Ihnen jetzt einen großen Gefallen, Ms Rivers«, sagte er. »Die Familie Lang ist seit vielen Jahren ein integraler Bestandteil der Albemarle-Gemeinschaft, und Frank Middleton ist ein aktiver und großzügiger Absolvent dieser Einrichtung. Ich bin nicht geneigt, sie mit Ihren wilden Anschuldigungen zu belästigen, die, wie mir Mrs Lang versichert hat, jeglicher Grundlage entbehren. Mir ist klar, dass der Besuch der Albemarle Academy für Sie eine Herausforderung ist, und obwohl Sie sich ihrer in der Vergangenheit als gewachsen erwiesen haben, gibt es keine Garantie dafür, dass das auch in Zukunft so bleiben wird. Vorerst unternehme ich nichts weiter in dieser Sache, aber ich behalte Sie im Auge, Ms Rivers.«

Abby bekam keine Luft. Es war dumm von ihr gewesen, sich für schlauer als Mrs Lang zu halten. Natürlich hatte Gretchens Mutter bei der Schule angerufen. Abby wollte noch einmal von vorn anfangen, das Ganze anders angehen, aber jetzt war es zu spät. Sie hatte es verpatzt.

»Gehen Sie in den Unterricht«, sagte Major. »Ich schreibe Ihnen keinen Verspätungszettel. Betrachten wir das als Ihren offiziellen Tadel. Denken Sie darüber nach, wie Sie Ms Lang ihre Freundschaft vergolten haben. Vertrauen und Ehre, Ms Rivers. Verfügen Sie über diese beiden Eigenschaften?«

Den Rest des Morgens verbrachte Abby wie in Watte gepackt und schlafwandelte benommen durch den Unterricht. Als Mrs Erskine sie aufrief, wusste sie nicht, wer Sünder in den Händen eines zornigen Gottes geschrieben hatte. In Biologie verteilte Mrs Paul Karten für den bevorstehenden Besuch im Anatomielabor der medizinischen Universität. Abby nahm eine entgegen, bekam aber nichts von dem mit, was ihnen über den Ausflug erzählt wurde.

Beim Mittagessen saß sie aus Gewohnheit mit Margaret und Glee auf dem Rasen und hörte sich an, wie Wallace Stoney davon erzählte, dass er aus seiner Band, den Dukes of Neon (die bereits zum dritten Mal ihren Namen geändert hatten), ausgetreten war und dass sie es ohne ihn nie zu etwas bringen würden, weil er es gewesen war, der den Laden zusammengehalten hatte. Anschließend ging er nahtlos in einen Monolog über den Anatomielabor-Schulausflug über, der einen Initiationsritus für alle Zehntklässler darstellte.

»Der ist irre«, sagte er. »Ich habe ein Lied darüber geschrieben.«

»Liegen da wirklich überall Leichen rum?«, fragte Glee.

»Alter«, sagte er, »es war total krass. Da gibt es lauter widerliches Zeug, zum Beispiel Einmachgläser mit zweiköpfigen Babys drin, und es gab sogar einen Pimmel im Glas, mit ganz grünem Wasser. Sah aus wie Wine-Cooler mit Pimmelgeschmack.«

»Ekelhaft«, sagte Glee.

»Halt die Klappe«, sagte Margaret, »sonst kann ich nie wieder Wine-Cooler trinken.«

»Ach, ihr Zuckerschnecken«, sagte Wallace, »das grüne Zeug ist eklig. Das rote ist der richtige Stoff. Von dem Zeug kann man zehn Flaschen trinken, ohne zu kotzen.«

Abby aß wie ein Roboter ihre Karottensticks und trank ihren Eistee. Sie hatte das Gefühl, dass alle anderen sehr weit weg waren. Sie kam erst wieder zu sich, als sie nach der Schule den Parkplatz verließ und feststellte, dass sie an der Ampel auf der Folly Road gerade nach links abbog statt nach rechts, Richtung Wadmalaw. Sie wurde von einer tiefen Überzeugung angetrieben: Wenn die Langs ihr bezüglich Gretchens Vergewaltigung nicht glaubten, wenn Major ihr bezüglich Gretchens Vergewaltigung nicht glaubte, dann würde sie dafür sorgen, dass sie ihr glauben mussten. Wenn Gretchen etwas widerfahren war, dann gab es auf Margarets Grundstück, bei der Blockhütte tief im Wald, vielleicht noch Hinweise darauf.

Aber als sie fünfundvierzig Minuten und eine Vierteltankfüllung später vor dem heruntergekommenen Gebäude stand, sah Abby, dass es nach wie vor nur nutzlosen Müll enthielt – eine aufgequollene Oui, ein verkohltes Paar weißer langer Männerunterhosen, ein Haufen leerer Bartle-&-Jaymes-Wine-Cooler-Flaschen. Überall waren die gleichen albernen Schmierereien zu sehen: »Fickt euch Prüfungen«, und »Dukes of Neon World Sexxx Tour 88«. Reine Zeitverschwendung.

Einmal mehr schritt sie die Hütte ab. In der einen Sekunde kroch sie über die herabgefallenen Zementbrocken, betrachtete die Schmierereien und versuchte, einen Hinweis zu finden, so wie die Leute es immer im Fernsehen machten, nur um festzustellen, dass sie nichts entdecken konnte, und in der nächsten wusste sie es.

Dukes of Neon. So hieß Wallace’ Band, oder so hatte sie geheißen, bevor sie zum dritten Mal ihren Namen geändert hatte. Das hatte er gerade erst auf dem Rasen gesagt. All die leeren Wine-Cooler-Flaschen (Das Charleston Police Department bezeichnet sie als Vergewaltigungssaft). Vor Abbys innerem Auge formte sich ein Bild: Wallace, der Margaret besuchen kommen wollte, im Wald wartete und sich in der Blockhütte versteckte, bis sie sich von ihren Freundinnen fortschleichen konnte. Und stattdessen hatte er Gretchen in der Dunkelheit gefunden, verirrt, verängstigt, nackt.

Wallace Stoney.

»Das würde ich nicht machen«, sagte eine Männerstimme.

Abby fuhr herum. Hinter ihr stand ein großer Kerl mit einer brennenden Zigarette in der Hand. Der Bauch hing ihm unter dem schmuddeligen Polohemd heraus, und seine Kakihosen waren an den Beinen ausgefranst. Sein ungekämmtes blondes Haar stand hoch, seine Nase war krumm, und sein Blick trübe. Riley Middleton.

»Ich bin eine Freundin von Margaret«, sagte Abby. Sie wusste nicht, auf was für Drogen er vielleicht war. Dann wollte sie lachen. Die Langs glaubten, dass sie eine große Drogendealerin wäre, und hier stand sie und fürchtete sich vor einem echten Drogendealer.

»Ich weiß«, sagte er. »Du bist Glee.«

»Abby«, sagte sie. »Glee ist unsere andere Freundin. Was sollte ich lieber nicht machen?«

Er trat einen Schritt auf sie zu, und Abby wich zurück. Er hatte schon Mädchen unter Drogen gesetzt. Er hatte ihnen auf seinem Autorücksitz Dinge angetan, und keiner wusste, dass sie hier draußen war. Riley hielt inne und zog demonstrativ an seiner Zigarette.

»Ich würde da nicht reingehen«, sagte er und atmete eine dicke blaue Rauchwolke aus. »An deiner Stelle.«

Abby versuchte, durch die Bäume ihren Golf auszumachen, und stellte fest, dass sie nichts als Wald sah. Und sie konnte nichts hören außer dem Quaken der Frösche. Sie war allein mit Riley. Ein Stöpsel öffnete sich hinter ihrem Bauchnabel, und all ihr Mut lief aus ihr raus.

»Warum nicht?«, fragte sie, in dem Versuch, ihn hinzuhalten, ihn am Reden zu halten, auf der Suche nach einem Fluchtweg.

»Da drin ist übles Zeug abgegangen«, sagte er. »Teufelsanbetung, Sklavenfolter, Morde.« Er machte eine Pause und lächelte. »Vergewaltigungen.«

Abby machte einen weiteren Schritt rückwärts und stolperte über einen Zementbrocken. Sie hörte den Telefonkasten in der Stille summen, spürte das Geräusch durch den Boden. Riley lächelte erneut.

»Du siehst ganz hübsch aus«, sagte er. »Wie alt bist du?«

»Danke«, sagte sie automatisch. Sie wollte wegrennen, aber Gretchen brauchte sie. Stattdessen presste sie ihre Panik zu einem kleinen Klumpen in ihrem Bauch zusammen. »Riley«, sagte sie, »weißt du, ob jemand am Labor-Day-Wochenende hier draußen war? Ob vielleicht irgendwelche Typen hier im Wald gefeiert haben?«

»Wahrscheinlich«, sagte er. »Frag doch mal Margaret.«

»Das sollte ich wohl machen«, sagte sie, und bevor er reagieren konnte, fügte sie hinzu: »Meine Mom wartet auf mich. Tschüss.«

Sie war schon unterwegs, bevor ihr das »Tschüss« über die Lippen gekommen war, und ging, so schnell sie konnte, weg von dem summenden Schaltkasten, weg von Riley, umrundete Stämme und Büsche und Gestrüpp. Als sie aus dem Wald kam und den Golf sah, fing sie an zu rennen. Sie tastete nach ihren Schlüsseln, stieg ein, schloss die Türen ab, legte den Gang ein, drückte das Gaspedal durch und raste Richtung Red Top.

Als sie nach Hause kam, war es fast acht. Abby schloss ihre Schlafzimmertür und schob ihre pinke Decke vor den Türspalt, damit keine Geräusche nach außen drangen. Das Letzte, was sie wollte, war, dass ihre Mom irgendetwas von dem hörte, was sie gleich sagen würde. Dann rief sie Glee an. Ihr Gehirn brachte keinen Small Talk zustande, deshalb kam sie sofort zur Sache.

»Erinnerst du dich an den Abend mit dem Acid? Als Gretchen sich verlaufen hat?«, fragte sie. »Glaubst du, Wallace war da?«

»Warum?«, fragte Glee.

»Weil ich es wissen muss«, sagte Abby. »Kann es sein, dass er vielleicht draußen in den Wäldern gewesen ist?«

»Woher soll ich das wissen?«, fragte Glee.

»Glee«, sagte Abby. »Ich muss dir etwas sagen, und du musst mir versprechen, niemandem davon zu erzählen, vor allem nicht Margaret. Versprichst du es mir?«

»Absolut«, sagte Glee, und Abby hörte ihrem Tonfall die Aufregung an.

»Ein Junge hat Gretchen überfallen«, sagte Abby. »Also, er hat sie vergewaltigt. Als wir draußen bei Margaret waren. Und Gretchen sich im Wald verlaufen hatte.«

Eine lange Stille schloss sich an.

»Und ich glaube, es war Wallace«, sagte Abby.

Diesmal folgte ein kürzeres Schweigen, und dann sagte Glee: »Ich ruf dich gleich zurück. Meine Schwester ist zu Hause.«

Fünf Minuten später piepste Micky Maus sein »Hier ist Micky!«. Abby riss ihm den Hörer aus der Hand.

»Warum hast du so lange gebraucht?«, fragte sie.

»Tut mir leid«, sagte Glee. »Meine Schwester ist total daneben. Kannst du mich hören? Was meintest du über Wallace?«

Abby erzählte Glee alles. Sie erzählte ihr von Gretchens Geständnis, davon, wie Gretchens Eltern ausgetickt waren, wie sie in Margarets Abwesenheit nach Wadmalaw rausgefahren war und die Wine-Cooler-Flaschen und das Dukes-of-Neon-Graffito entdeckt hatte. Es war eine Erleichterung, all das loszuwerden, und Glee war eine gute Zuhörerin. Wenn Abby sie nicht atmen gehört hätte, dann wäre ihr der Verdacht gekommen, dass Glee inzwischen aufgelegt hatte, so still war sie. Aber so war Glee eben. Hatte man ein Problem, dann konnte man sich darauf verlassen, dass sie bei der Sache war.

Schließlich war Abby fertig. Eine ganze Minute lang sagte keiner von beiden etwas.

»Darum hat sie das über Wallace gesagt?«, fragte Glee.

»So läuft das doch, oder?«, fragte Abby. »Jemand macht so etwas mit einem, und dann wird man irgendwie verrückt. Sie kann nicht klar denken, Glee.«

»Aber glaubst du wirklich, dass es Wallace war?«, fragte Glee. »Er hat Margaret gesagt, dass er sie niemals betrügen würde.«

»Ich weiß«, sagte Abby. »Aber Jungs lügen dauernd. Wenn Margaret Wallace glaubt, ist sie total naiv. Wallace gibt die ganze Zeit mit anderen Mädchen an.«

»Das ist nicht gerade nett«, sagte Glee.

»Aber er macht es trotzdem«, sagte Abby. »Du hast ihn doch gehört.«

»Nein, das macht er nicht«, sagte Glee, und in diesem Moment hätte Abby eigentlich wissen müssen, dass etwas nicht stimmte.

»Was hast du jetzt vor?«, fragte Glee weiter.

»Ich muss es jemandem erzählen«, sagte Abby. »Ich dachte, ich fange bei Wallace an. Mal sehen, ob er es zugibt. Wenn nicht, gehe ich zur Polizei. Und wenn die mir nicht zuhört, erzähle ich allen an der Schule davon.«

»Was ist mit Margaret?«, fragte Glee.

»Ich weiß nicht«, sagte Abby. »Das ist der knifflige Teil. Vielleicht sollte ich ihr erst davon erzählen?«

»Nein«, sagte Margaret. »Ich finde nicht, dass du Margaret erst davon erzählen solltest.«

Abby hätte beinahe den Hörer fallen gelassen. Ihr Magen und ihr Kopf fühlten sich mit einem Mal völlig leer an, ihre Hände taub. Glee hatte auf Konferenzschaltung mit ihr telefoniert.

»Komm uns nie wieder auch nur nahe!«, schrie Margaret. »Du bist eifersüchtig auf Wallace, und du willst alles, was gut ist in meinem Leben, kaputt machen!«

Gleichzeitig versuchte Abby, sich Gehör zu verschaffen.

»Margaret!«, brüllte sie. »Margaret! Margaret! Margaret! Du musst doch einsehen …«

»Einen Scheißdreck muss ich einsehen, du Schlampe!«

»Du musst mit Gretchen reden!«

»Fick dich!«, knurrte Margaret, und dann schrie sie direkt in die Muschel. Ihre Stimme war lauter als die von Abby und dröhnte aus dem Hörer: »Halt dich von uns fern! Halt dich verdammt noch mal von uns fern, sonst mach ich dich fertig! Du willst mit Gretchen befreundet sein – von mir aus! Ihr kannst du deine kranken kleinen Lügen erzählen. Aber wenn du uns ansiehst, wenn du mit uns redest, wenn du auch nur jemanden in unserem Dunstkreis ansprichst, dann sorge ich dafür, dass mein Dad dich verklagt, dass dir Hören und Sehen vergeht!«

Margaret legte auf. Abby saß mit klingenden Ohren da, und dann begriff sie, dass Glee immer noch am Apparat war.

»Glee …«, sagte sie.

»Du bist böse«, sagte Glee.

Und legte auf.