New Sensation

Auf gar keinen Fall setzt sich diese Trantüte zu uns«, sagte Margaret.

Abby brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass sie die fragliche Trantüte war.

Abby wollte antworten: »Du mich auch«, oder »Ich wollte sowieso nicht bei dir sitzen«, doch zu ihrer tiefen Enttäuschung stellte sie fest, dass sie stattdessen peinlich berührt auf den Rasen starrte und sich verzweifelt wünschte, mit an den Picknicktisch gelassen zu werden.

Der Tropensturm hatte Charleston knapp verfehlt und zog nun auf den Atlantik hinaus, und am Montag war die Luft feucht und klar. Es hatte in der Nacht zuvor geregnet, und das Gras war immer noch nass wie ein Schwamm. Margaret und Glee hatten den Picknicktisch in der Mitte des Rasens in Beschlag genommen, an dem noch mehr als genug Platz war, aber anscheinend durften hier nur Nicht-Trantüten sitzen.

»Mir ist es egal«, sagte Gretchen. »Ich weiß nicht, warum sie mir immer nachläuft.«

»Von mir aus«, sagte Margaret. »Aber ich will nicht, dass das Ding was sagt.«

Abby beobachtete entsetzt, wie Gretchen sich zu Margaret und Glee setzte und die drei anfingen, miteinander zu reden, als gäbe es Abby gar nicht. Zu gedemütigt, um zu gehen, und zu beschämt, um zu bleiben, wollte Abby sich erst setzen und zögerte dann wieder. Verzweifelt versuchte sie, eine Entscheidung zu treffen. Sie sah die Leute an, die auf dem Rasen herumliefen, Frisbee spielten, in ihren schicken Schuhen über das regennasse Gras rannten und schlitterten, und dann sah sie zurück zum Picknicktisch und beschloss schließlich, sich ans andere Ende zu setzen. So saß sie in gewisser Weise bei den anderen, aber nicht so nah, dass sich irgendjemand darüber ärgern konnte. War das in Ordnung für Trantüten?

»Ich brauche einen Beratungslehrer für die Umweltbewusstsein-AG«, sagte Gretchen.

»Frag Vater Morgan«, sagte Margaret und senkte dann den grünen Apfel, mit dem sie die letzten Minuten herumgespielt hatte, um Glee anzusehen. »Dann müsste Glee auch beitreten.«

»Hör auf«, sagte Glee errötend.

»Vater Orgelpfeife«, sagte Gretchen, und sie und Margaret krümmten sich vor Lachen.

»Vater Morgasmus«, sagte Margaret, worauf die beiden noch lauter lachten.

»Vater Besorgen«, sagte Abby.

Die beiden hörten auf zu lachen und sahen sie an.

»Wie?«, fragte Gretchen.

Vergraulst du deine beste Freundin?

 

Ihr habt einander versprochen, zusammen für eine wichtige Englischklausur zu lernen. Plötzlich sagt sie ab. Was machst du?

  1. Ich gehe davon aus, dass sie ein besseres Angebot bekommen hat, und verbringe den Nachmittag damit, mich zurückgewiesen zu fühlen.

  2. Kein Ding. So was kommt vor.

  3. Ich rufe sie an und verlange, den Grund für ihre Absage zu erfahren.

  4. Mit der rede ich nicht mehr. Wenn sie nicht mit mir lernen will, dann ist sie selber schuld.

In der fünften Klasse hatte Elizabeth Root sich einmal beim Konzert am Founder’s Day in die Hosen gemacht. Das Thema war »Die wilden Zwanziger« gewesen, und der Grundschülerchor hatte gerade ein Lied über Al Johnson und den Aktienmarkt vorgetragen, als Elizabeth es sich einfach nicht mehr hatte verkneifen können und vorne auf ihrem grauen Rock ein schwarzer Fleck erblüht war. Sie versuchte, von der Bühne zu rennen, aber der Bühnenabgang links wurde in ebenjenem Moment durch den Auftritt eines riesigen 20er-Jahre-Fords aus Pappmaschee versperrt. Und vor dem Abgang rechts stand der Jungschor.

Mrs Gay versuchte, die Sache zu überspielen, indem sie lauter Klavier spielte. Die gehorsameren Chormitglieder sangen mit, und sechzig Sekunden lang sahen die versammelten Eltern zu, wie ein kleines Mädchen tränenblind im Kreis über die Bühne stolperte und eine Urinspur hinter sich herzog, während ein gewaltiger Ford Model T auf sie zurollte.

Die Sache war wochenlang Schulgespräch. Die Leute machten »Pschsch«-Geräusche, wenn Elizabeth Root auf dem Gang an ihnen vorbeikam. Beim Mittagessen musste sie bei zwei sehr netten, aber höchst unbeliebten Mädchen sitzen. Die Rektorin der Unterstufe gab schließlich allen einen Elternbrief mit, in dem es darum ging, wie die Eltern mit ihren Kindern über Elizabeths In-die-Hose-Machen sprechen sollten. Zwei Jahre später wechselte Elizabeth zur Bishop-England-Schule, und alle wussten, dass es daran lag, dass sie sich damals in die Hosen gemacht hatte.

Andererseits gab es Dr. Gillespie, den Eheberater eines halben Dutzends geschiedener Eltern in Charleston. Letztes Jahr hatte man ihn in Frauenkleidern an einen seiner Bürostühle gefesselt gefunden, zu Tode geprügelt mit einer präkolumbischen Statuette aus seiner Sammlung. Der Vorfall tauchte in keiner einzigen Zeitung auf. Wenn die Leute ihn bei Wohltätigkeitsempfängen erwähnten, sprachen sie von einem »schrecklichen Unfall«, und zwölf Monate später wäre es einem wahrscheinlich schwergefallen, jemanden zu finden, der zugegeben hätte, sich auch nur an Dr. Gillespie zu erinnern, ganz zu schweigen davon, Patient bei ihm gewesen zu sein.

In Charleston hängt das Erwachsenwerden nicht davon ab, wann man achtzehn wird; und auch nicht von der Anmeldung zur Wahl, vom Highschoolabschluss oder von der bestandenen Führerscheinprüfung. In Charleston wird man an dem Tag erwachsen, an dem man lernt zu ignorieren, dass ein Nachbar betrunken am Steuer sitzt, und seine Aufmerksamkeit stattdessen auf die Frage richtet, ob er im Architekturausschuss einen Antrag darauf gestellt hat, sein Haus in einer neuen Farbe streichen zu dürfen. Man wird an dem Tag erwachsen, an dem man lernt, dass etwas in Charleston umso weniger Aufmerksamkeit erhält, je schlimmer es ist.

In Albemarle verhielten sich plötzlich alle sehr erwachsen, was Gretchen betraf.

Fast einen Monat lang hatte man Gretchen gemieden. Jetzt machte man sie plötzlich nicht mehr runter, sondern schenkte ihr Aufmerksamkeit. Die Leute wollten in ihrer Nähe sein, sitzen, wo sie saß, vor dem Unterricht mit ihr reden, ihre Meinung wissen, Aufmerksamkeit von ihr bekommen. Drei Wochen lang hatte man Gretchen nicht mal erwähnen dürfen. Und dann war sie innerhalb von drei Tagen zur Nummer eins aufgestiegen.

Es machte Abby Angst, wie schnell sich alles änderte.

Deine beste Freundin sagt, dass sie gestresst ist und mal ’ne Pause braucht, deshalb sagt sie euer geplantes Double-Date für Freitag ab.
  1. Was ein Glück! Ich hatte eigentlich auch keine Lust.

  2. Diese Freundschaft ist Geschichte!

  3. Ich sage meine Verabredung ab und besuche sie stattdessen zu Hause. Sicher muss sie sich aussprechen.

  4. Dein armer Freund. Worüber sollt ihr denn jetzt am Freitagabend reden?

Es wurde heiß. Der Himmel war eine wolkenlose Silberkuppel.

Gretchen schraubte ihre Thermoskanne auf und goss sich eine Tasse von einem dickflüssigen weißen Milchshake ein.

»Was ist denn das Widerliches?«, fragte Margaret.

»Das?«, fragte Gretchen. »Das würde dir wahrscheinlich nicht schmecken.«

»Woher zum Geier willst du das wissen?«, fragte Margaret.

Gretchen griff in ihren Rucksack, holte einen unbeschrifteten weißen Plastikbehälter mit schwarzem Deckel daraus hervor und reichte ihn Margaret.

»Das hat meine Mom aus Deutschland bestellt«, sagte sie. »Ein Diätmittel. Ein Shake am Tag deckt den Gesamtbedarf an Nährstoffen. Hat achthundert Kalorien oder so. Ich glaube, das Zeug ist voller Speed. Wie dem auch sei, die Lebensmittelbehörde will es absolut nicht freigeben, aber ich habe ihr was davon geklaut.«

Sie nahm Margaret den Behälter wieder weg. Margaret hielt ihn noch einen kurzen Moment lang fest und sah dann mit tiefer Sehnsucht zu, wie er wieder in Gretchens Schultasche verschwand.

»Lass mich mal dran riechen«, sagte sie.

Gretchen reichte ihr den Becher. Margaret hielt ihn sich unter die Nase.

»Vanille«, sagte sie. »Und Banane? Darf ich mal probieren?«

Gretchen hob die Brauen und nickte.

Die meisten schätzten Margaret falsch ein. Sie hielten sie für eine, die einfach bloß Party machen wollte, aber in Wirklichkeit war Margaret ein kräftiges Mädchen, das zierlich sein wollte, und sie tat alles, um ihr Fleisch dahinschwinden zu lassen, sei es zweimal die Woche Jazzercise, die Cambridge-Diät, die Rotationsdiät, die F-Plan-Ballaststoffdiät, die Scarsdale-Methode, Deal-a-Meal oder Grapefruit 45. Nichts von alledem funktionierte, also probierte sie eines nach dem anderen aus und ertrug tapfer Magenbeschwerden, Schwächeanfälle, Fürze, Hungergefühle, Kopfschmerzen, Krämpfe. Mit irgendeiner dieser Methoden musste sie einfach schlank werden. Sie vertraute fest darauf.

»Total eklig ist es nicht«, sagte Margaret, setzte den Becher ab und wischte sich den dicken weißen Schnurrbart von der Oberlippe. »Hast du noch mehr davon?«

»Kistenweise«, sagte Gretchen und verdrehte die Augen.

»Ich kauf dir eine ab«, sagte Margaret.

»Auf gar keinen Fall«, sagte Gretchen. »Ich schenke sie dir. Meine Mom trinkt das Zeug nicht mal mehr.«

Deine beste Freundin taucht montags mit einem brandneuen Look in der Schule auf, von dem sie dir nichts erzählt hat. Die Sachen sind radikal, teuer, und sie sieht damit aus wie ein Pudel. Was machst du?
  1. Ich sage ihr, dass sie toll aussieht. Wofür hat man schließlich Freunde?

  2. Ich tue so, als wäre nichts. Wenn man nichts Nettes zu sagen hat …

  3. Ich lache laut los. Immerhin liegt’s nicht an mir!

  4. Ich bin schonungslos ehrlich. Irgendwer muss es ihr sagen.

Abby konnte nicht mit Bestimmtheit sagen, was anders war. Gretchen hatte sich komplett neu eingekleidet – Blazer mit hochgerollten Ärmeln, einen Männerschlips zu einer beigefarbenen Weste, ein übergroßes Sweater-Kleid mit Karomuster, blau-weiß gestreifte Matrosen-T-Shirts –, aber es lag nicht an den Kleidern. Sie hatte eine neue Frisur, und sie trug mehr Schminke, sie stand aufrechter und drückte die Brust raus, aber auch daran lag es nicht.

Gretchen leuchtete. Wo sie auch hinging, ihr ganz persönlicher Sonnenstrahl folgte ihr. Sie war bei der Sache, engagiert, lebendig, energetisch. Alle Typen folgten ihr mit den Augen. Mehr als einmal sah Abby, wie Mr Groat sich auf dem Gang umdrehte, um Gretchen auf den Hintern zu starren.

Niemand sah Abby hinterher, wenn sie durch den Korridor ging. Am Dienstag, dem Tag nach Gretchens wundersamer Rückkehr, war sie aufgewacht und hatte einen kleinen roten Pickel auf ihrer rechten Wange entdeckt. Das war der Stress, sagte sie sich. Am nächsten Morgen war der Pickel größer und dunkler. Am Morgen darauf waren zwei weitere hinzugekommen.

Abby starrte sich im Spiegel an und versuchte verzweifelt, nicht loszuheulen. Links von ihrer Nase befanden sich drei rosafarbene Flecken, und die Haut auf ihrer Stirn war rau. Egal, wie viel Puder sie sich aufs Kinn machte, es glänzte trotzdem. Am Hals hatte sie eine wunde Stelle, und wenn sie darauf drückte, spürte sie etwas schmerzhaft Geschwollenes darunter. Sie konnte machen, was sie wollte, die Pickel wuchsen und gediehen in ihrem Gesicht.

Gretchen hatte keinen gemeinsamen Unterricht mehr mit Abby, deshalb dauerte es Tage, bis es ihr schließlich gelang, unter vier Augen mit ihr zu reden. Abby erwischte sie auf dem Gang, kurz bevor die Pause zur vierten Stunde anfing. Gretchen warf gerade Bücher in ihr Schließfach.

»He«, sagte Abby, ging langsamer und tat ganz locker.

»He«, sagte Gretchen, ohne innezuhalten.

»Du siehst viel besser aus«, sagte Abby.

Gretchen machte konzentriert den Reißverschluss an ihrer Schultasche zu.

»Als ob dich das interessieren würde«, sagte sie.

»Das ist das Einzige, was mich interessiert«, sagte Abby.

Gretchen knallte ihr Schließfach zu und drehte sich zu Abby um, wobei sie sich ihre Schultasche über die Schulter hängte. Sie war ein gutes Stück größer als Abby, und Abby sah, wie sich ihre Nasenflügel blähten und ihre Pupillen weiteten.

»Wenn es dich interessiert hätte, hättest du mir geholfen«, sagte sie. »Anstatt bloß hinter meinem Rücken über mich zu reden.«

»Ich habe versucht, dir zu helfen«, sagte sie. »Das weißt du doch.«

Gretchen blies sich den Pony hoch.

»Pah«, sagte sie. »Einen Scheißdreck hast du gemacht.« Dann lächelte sie breit, ein Funkeln trat in ihre Augen, und Abbys Herz schlug einen Moment lang höher, weil das Ganze offensichtlich ein Witz war, und dann sagte Gretchen über Abbys Schulter: »He, Leute!«, und umarmte Margaret und Glee, und die drei gingen Schulter an Schulter den Gang entlang davon, gerahmt vom hellen Licht der Nachmittagssonne, das durch die Glastüren einfiel, und ließen Abby im Schatten bei den Schließfächern stehen. Abby wollte am liebsten mit ihnen gehen, oder einfach bleiben, wo sie war, oder sich zumindest mit der einen oder anderen Entscheidung wohlfühlen können.

Alle waren mit Gretchen befreundet – alle außer Abby. Selbst Wallace Stoney hatte es geschafft, ihr zu vergeben. Mrs Lang hatte Wallace rekrutiert, damit er Gretchen zur Schule fuhr, da er auch in Mt. Pleasant wohnte. Eines Morgens sah Abby die beiden vor sich in der Ampelschlange zur Folly Road in seinem Truck sitzen. Gretchen redete, und Wallace lachte. Wenn Wallace in der Pause nach der vierten Stunde mit Gretchen und Margaret und Glee draußen rumhing, redete er am meisten mit Gretchen.

Abby fragte sich, was Margaret wohl davon hielt.

Du hast übers Wochenende Hausarrest. Wie bringt ihr euch am Montag wieder auf den Stand der Dinge?
  1. Ich rede, sie hört zu. Es ist so viel passiert.

  2. Sie redet, ich höre zu. Sie weiß immer, was läuft.

  3. Wir plaudern vor dem Unterricht kurz, dann muss ich los. Ich habe so viel zu tun.

  4. Wir wetteifern um die Redezeit. Wir haben beide eine Menge zu sagen.

Abby saß Vater Morgan in seinem Büro gegenüber. Er hatte die Vorhänge geschlossen, es war kalt und dunkel, und er erzählte Abby gerade, dass mit Gretchen alles vollkommen in Ordnung sei.

»Ich will mir das nicht komplett selbst zugutehalten«, sagte er. »Aber ich habe mit ihren Eltern geredet, und anscheinend hat das durchaus dabei geholfen, sie wieder in die Spur zu bekommen.«

»Das ist es ja«, sagte Abby. »Sie ist nicht wieder in der Spur.«

Vater Morgan lächelte.

»Man darf nicht nur aufgrund von Äußerlichkeiten urteilen«, pflichtete er ihr bei. »Aber was man von außen sieht, lässt durchaus den einen oder anderen Rückschluss auf das Innere zu. Und ich würde sagen, von außen betrachtet, macht Gretchen einen sehr viel besseren Eindruck als noch vor ein paar Tagen.«

Abby hatte ein bisschen gebraucht, bis ihr klar geworden war, dass es einen Menschen gab, der mit Sicherheit, soviel sie wollte, mit ihr über Gretchen reden würde: Vater Morgan. Er mischte sich viel zu sehr in das Leben der Schüler ein, er glaubte, alles zu wissen, und man musste nur einen Termin mit ihm vereinbaren.

Jetzt, als sie in Vater Morgans Büro saß, wusste sie, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hatte. Die weiß-braunen Vorhänge vor seinem einzigen Fenster waren zugezogen, wodurch sein Büro wie eine schummrige, sichere Zuflucht wirkte. Es war mit schönen Wohnhausmöbeln eingerichtet, nicht mit den strengen Büromöbeln, die sonst hier in der Schule verwendet wurden. Anstelle der gelb gestrichenen Betonziegelwände sah man bei Vater Morgan Bücherregale mit Titeln wie Wie man seine Teenager versteht und Wie man sein Leben an Gott ausrichtet. Und er redete gern.

»Gretchen ist zufrieden und gesellig«, sagte Vater Morgan. »Die letzten Gespräche mit ihr waren jedes Mal ein Vergnügen, und soweit ich das beurteilen kann, liegt kein Schatten über ihrem Gemüt. Weißt du, was mir das verrät, Abby?«

Er wartete auf eine Antwort, also gab sie ihm schließlich sein Stichwort.

»Nein, Sir.«

»Du hast Angst davor, deine Freundin zu verlieren«, sagte er und ließ ein Lächeln folgen.

Abby sah auf ihre Knie hinab. Sie atmete tief ein und schüttelte den Kopf.

»Als sie krank war«, sagte Abby, »hat sie mir erzählt, dass die Menschen nach außen einen gesunden und freundlichen Eindruck machen können, auch, wenn sie innerlich böse sind. Satanisten zum Beispiel.«

Oder ihre Eltern.

Vater Morgans Lächeln verschwand, und er stand auf und kam um seinen Schreibtisch herum. Er zog einen Stuhl heran und setzte sich dicht vor Abby.

»Abby«, sagte Vater Morgan. »Ich weiß, wie es ist, jung zu sein. Alles ist voller satanistischer Kulte, die Babys opfern. Geraldo Rivera bringt nächste Woche ein zweistündiges Special darüber. Natürlich beschäftigt dich das, und es beunruhigt dich tief und hat eine Wirkung auf dich. Aber diese Dinge gibt es nicht wirklich.«

»Und was hat es dann mit ihnen auf sich?«, fragte Abby.

»Es sind …« Vater Morgan wedelte mit einer Hand in der Luft. »… Metaphern. Wege, um mit bestimmten Informationen und Gefühlen umzugehen. Das Erwachsenwerden ist eine schwierige Zeit, und es gibt wirklich kluge Leute, die der Meinung sind, dass es ist, als würde man von einer anderen Person übernommen werden, wenn das Erwachsenenselbst schließlich zum Vorschein kommt. Fast als wäre man besessen. Manchmal werden Eltern oder Freunde verletzt, wenn jemand, den sie lieben, sich verändert. Musik, Filme, Satanismus.«

Er lehnte sich zurück und ließ ein Lächeln aufblitzen.

»Dann glauben Sie also, dass Gretchen besessen ist?«, fragte Abby. »Dass sie einen Dämon in sich drin hat oder so?«

Sein Lächeln verschwand.

»Wie?«, sagte er. »Nein, das ist eine Metapher. Abby, kennst du die Geschichte vom Besessenen im Land der Gadarener?«

»Ist der ein Satanist?«, fragte Abby.

»Das ist aus der Bibel«, fuhr Vater Morgan fort. »Jesus geht nach Gerasa, und als er dort ankommt, tritt ein Mann an ihn heran, der von Dämonen besessen ist. Die anderen meiden ihn und zwingen ihn, auf dem Friedhof zu leben. Schlimmer kann man in biblischen Zeiten nicht dran sein. Und als Jesus ihn fragt, wo das Problem liegt, sagt der Mann, dass er von einem unreinen Geist besessen ist. Jesus fragt nach seinem Namen, und er sagt: ›Legion ist mein Name.‹ Kommt dir das bekannt vor?«

Abby zuckte mit den Schultern. Ihre Familie ging nicht in die Kirche, aber sie meinte, etwas in der Art schon mal in einem Horrorfilm gehört zu haben.

»Jesus treibt die Dämonen also aus und lässt sie in eine Schweineherde einfahren«, sagte er. »Und die Schweine rennen von einer Klippe und sterben, während der Mann geheilt ist. Aber alle im Dorf sind wütend und sagen Jesus, dass er verschwinden soll. Verstehst du?«

»Die armen Schweine«, sagte Abby.

»Die armen Schweine«, pflichtete Vater Morgan ihr bei. »Aber begreifst du, worum es eigentlich geht?«

»Dass niemand es einem je dankt, wenn man versucht, ihn zu retten?«, sagte Abby.

»Dass die Leute in dem Dorf einen besessenen Gadarener brauchten«, erklärte Vater Morgan. »So konnten sie all ihre Probleme auf ihn projizieren. Sie gaben ihm die Schuld an allem: an zu viel Regen, an zu wenig Regen, daran, wenn ihre Kinder nach Einbruch der Dunkelheit noch draußen rumliefen, oder wenn Kühe starben. Solange er krank war, konnten sie auf jemanden zeigen und sagen: ›Das ist seine Schuld. Er ist vom Teufel besessen.‹ Und nachdem Jesus ihn geheilt hatte, wussten sie nicht mehr, was sie machen sollten. Sie waren total aufgeschmissen.«

Abby konnte seiner Logik nicht folgen.

»Sie glauben also, dass mit Gretchen alles in Ordnung ist«, sagte sie.

»Ich meine, vielleicht ist es für dich wichtig, dass mit Gretchen nicht alles in Ordnung ist«, sagte Vater Morgan. »Manchmal ist es am schwersten für uns, wenn jemand Krankes wieder gesund wird.«

»Warum?«, fragte Abby.

»Weil wir uns dann mit uns selbst auseinandersetzen müssen«, sagte er, sah sie bedeutungsvoll an und ließ seine Worte einsickern.

Ein Klopfen an der Tür brach die Stille. Vater Morgan legte die Hände auf die Knie, stand auf und öffnete die Tür. Gretchen stand draußen.

»Hi, Vater M«, sagte sie lächelnd.

»Komm rein«, sagte er. »Ich und Abby kommen gerade zum Ende.«

»Was machst du hier?«, fragte Abby und starrte Gretchen an. Hinter ihr sah sie Glee.

»Ich bin in der Schülergemeinde«, sagte Gretchen. »Und Glee will auch Mitglied werden. Was machst du hier?«

Bevor Abby etwas sagen konnte, antwortete Vater Morgan für sie.

»Sie macht sich Sorgen um dich«, sagte er. »Sie wollte nur bei mir nachfragen.«

Gretchen kam ins Zimmer.

»Mir geht es bestens«, sagte sie, aber ihr Tonfall klang zu fröhlich und zu kalt.

»Also«, sagte Vater Morgan, »wenn ich mich richtig erinnere, dürft ihr beiden keine Zeit miteinander verbringen. Abby, ab mit dir.«

Im Gehen schob Abby sich an Gretchen vorbei durch die Tür, und Gretchen sah ihr in die Augen und lächelte.

»Da hätte ich ja zu gerne Mäuschen gespielt«, sagte sie. »Was du wohl über mich gesagt hast.«

Deine beste Freundin hat keine Zeit mehr für dich. Was machst du?
  1. Ich rufe sie immer wieder an, bis sie mir sagt, warum. Ich verdiene eine Erklärung.

  2. Ich respektiere ihren Wunsch. Ich will schließlich nicht klammern.

  3. Ich erzähle allen, dass ich sie zuerst zurückgewiesen habe. Für wen hält die sich?

  4. Ich weigere mich, ihre Entscheidung hinzunehmen. Diese Freundschaft ist erst dann vorbei, wenn ich es sage.

Am nächsten Tag kam der Exorzist.