Abby hatte diesen Moment seit der neunten Klasse gefürchtet. Alle wussten, dass er bevorstand, und das Einzige, was man tun konnte, war zu beten, dass es nicht so schlimm werden würde, wie man munkelte.
Am Donnerstagmorgen lud man alle Zehntklässler in den einen gelben Schulbus der Albemarle Academy, und die, die nicht mehr reinpassten, in den roten Sportbus, und karrte sie über die West Ashley Bridge in die Innenstadt von Charleston. Es war an der Zeit für den gefürchtetsten aller Initiationsriten: den Schulausflug zum Anatomielabor.
Gretchen und Glee achteten darauf, im roten Bus zu landen, weil der von Vater Morgan gefahren wurde, aber Abby versuchte nicht mal, sich an sie dranzuhängen. Sie setzte sich mit den anderen in den großen gelben Bus, neben Nikki Bull ans Rückfenster gequetscht. Die Schüler um sie herum waren entweder nervös, verängstigt oder aufgeregt und redeten ohne Punkt und Komma. Vor allem ging es dabei um Geraldo Riviera.
Seine zweistündige Sondersendung Die Wahrheit über Satans Unterwelt war gestern Abend zur besten Sendezeit auf NBC gelaufen. Darin hatte Geraldo sich den Kräften des Satanismus entgegengestellt. Im Gespräch mit Serienmördern (und Ozzy Osbourne) bewies er (oder legte doch zumindest nahe), dass ein finsteres Netzwerk von über einer Million Satanisten für den Mord an jährlich fünfzigtausend Kindern verantwortlich war. Nach der Sondersendung hatte Abby sich innerlich zerfressen gefühlt. Sie war beschmutzt gewesen von Erde aus flachen Gräbern, verschmiert mit Blut von Tatortfotos, bespritzt mit dem heißen Speichel von Männern in weißen Sweatern, die mit Schaum vor dem Mund Kreuze anknurrten, mit denen bei den Exorzismen vor ihrem Gesicht herumgewedelt wurde. Geraldo stand vor einer Wand von Fernsehbildschirmen und hörte angewidert zu, wie Frauen, die als »Brüterinnen« bezeichnet wurden, ganz ruhig erklärten, dass ihre Babys zur Welt kamen, um bei satanistischen Zusammenkünften gefressen zu werden, dass man ihre winzigen Leichen verbrannte, in Beton versenkte, in Stücke hackte und ins Meer streute.
Am nächsten Tag gab es kein anderes Thema als Satanismus.
»Letztes Jahr gab es eine in der Oberstufe«, sagte Nikki Bull, »die hatte ein Baby, und Teufelsanbeter haben sie gezwungen, es hinter der Schule zu ertränken. Der Sumpf ist voller toter Babys. Manchmal werden ihre Knochen angeschwemmt, aber die Schulleitung behauptet, dass es Möwenknochen sind, und das Personal wirft sie in die Verbrennungsanlage.«
»Die Hausmeister wissen, was vorgeht, aber sie haben zu viel Angst, um den Mund aufzumachen«, fügte Eric Frey hinzu.
»Mein Onkel ist bei der Polizei, und er sagt, dass er um diese Jahreszeit nicht für eine Million Dollar die Northwoods Mall betreten würde«, sagte Clyburn Perry. »Kurz vor Halloween laufen sie da mit einer versteckten Nadel unterm Uhrband rum, an der ein winziges bisschen Aids-Blut klebt. Damit kratzen sie einem im Vorbeigehen über den Handrücken, und man denkt sich nichts weiter, und sechs Monate später hat man Aids.«
»Wer sind ›die‹?«, fragte Dereck White und drehte sich auf seinem Sitz um. »Wer sind diese geheimnisvollen Leute, die so schreckliche Sachen machen?«
Alle hatten Mitleid mit ihm, weil es so offensichtlich war.
»Satanisten«, sagte Nikki Bull. »Kam doch im Fernsehen.«
Der Bus holperte nach Charleston rein, gefolgt von einer Schlange Autos, deren Fahrer zu höflich zum Hupen waren. Abby hörte, wie tief hängende Äste übers Dach kratzten, als sie auf den Parkplatz der medizinischen Universität rollten. Als sie kurz darauf dicht gedrängt in einem riesigen Fahrstuhl in den fünften Stock unterwegs waren, redete Nikki Bull immer noch von Satanisten.
»Wisst ihr noch, der letzte Rektor? Satanisten sind auf dem Friedhof eingebrochen und haben die Leiche seiner Mutter gestohlen. Dann sind sie in das Geisterhaus gegangen, das er zu Halloween immer vorne im Garten aufstellt, haben ihre Leiche als Hexe ausstaffiert und sie mit einer Schlinge an einen Baum gehängt. Er dachte, sie würde zu seiner Deko gehören, und hat sie drei Tage hängen lassen. Als er sie schließlich abgenommen hat, hat er gesehen, dass es seine Mutter ist, und ist verrückt geworden.«
»Still jetzt, Bull«, sagte Mrs Paul vom anderen Ende des Fahrstuhls.
Die Fahrstuhlkabine ruckelte einmal heftig, und dann gingen die Türen auf, und die Schüler strömten in einen kalten Raum, der nach Einmachessig roch. Weiter vorne stand die erste Gruppe nervös kichernder, einander in die Rippen stoßender Jungs und Mädchen. Abbys Gruppe steckte zwischen den Schülern weiter vorne und der nächsten Gruppe fest, die sich von hinten aus dem Fahrstuhl ergoss und auf den engen Korridor drängte. Alle wollten so viel Abstand wie möglich zu der Tür halten, hinter der sich das Anatomielabor befand. Jetzt, wo es voll auf dem Gang war, verfielen sie in erwartungsvolles Schweigen. Alle wussten, was als Nächstes kam.
»Hallo«, sagte der Arzt. Er hatte einen faltigen Hühnerhals und einen kahlen Aasgeierschädel voller Leberflecke. Ein weißer Laborkittel hing ihm bis auf die Oberschenkel, und er war begeistert, hier sein zu dürfen. »Ich bin Dr. Richards, und ich leite das anatomische Studienlabor der medizinischen Universität von South Carolina. Heute werden Sie sehen, was letztendlich jeden Einzelnen von Ihnen erwartet. Dann wollen wir mal – lassen Sie uns einen Blick auf Ihre Zukunft werfen.«
Die Schüler schlurften schiebend und drängelnd hinter ihm her durch die Doppeltür und strömten in den großen dahinterliegenden Raum; dann sahen sie, was sich im Innern befand, und verharrten in der Tür oder drückten sich an die Wände. Der Raum erstreckte sich in weite Ferne. Der Boden bestand aus grün marmoriertem Linoleum, die Wände waren mit Kunststoffkacheln verkleidet. In der Mitte standen sechzehn Stahltische, jeder davon ein hartes Bett, auf dem eine teilweise geschälte Leiche lag.
»Der erste Kurs, den neue Medizinstudenten besuchen müssen, ist der in praktischer Anatomie«, sagte Dr. Richards grinsend. »Sie werden in Vierergruppen aufgeteilt und einem Spender zugewiesen. Der Spender ist anonym, und obwohl in den alten Zeiten gelegentlich ein Onkel oder ein Freund der Familie auf dem Tisch lag, gab es seit 1979 keine solchen Überraschungen mehr. Alle Spender werden sorgfältig überprüft. Im Frühjahr, wenn kein Unterricht mehr stattfindet, versammeln die Studenten sich in der Kapelle und halten einen Gedenkgottesdienst für ihre Spender ab, weil es eine ehrenvolle Tat ist, seinen Körper der Wissenschaft zu hinterlassen. Ich hoffe, dass ein paar von euch nach dem heutigen Tag die gleiche Entscheidung treffen werden. Es wäre erfreulich, zur Abwechslung einmal etwas jüngere Spender dabeizuhaben.«
Der Doktor war inmitten dieser Puzzleleichen entspannt und locker. Sie machten ihn glücklich.
»Aber zwischen dem ersten Kurstag und diesem Gedenkgottesdienst«, fuhr Dr. Richards fort, »tragen die Studenten jeden einzelnen Spender bis auf die Knochen ab, um zu lernen, wie so ein Körper tickt.«
Die Jugendlichen kicherten und stießen einander an, und der Geruch nach sauer Eingelegtem verdrängte allen Sauerstoff aus dem Raum. Abby zwang sich, die toten Leiber zu betrachten. Ihre Haut war von Borsten bedeckt, und ihre Zehennägel waren dick und gelb. Ihre staubgraue Haut war zurückgeklappt und gab den Blick auf Muskel-Dörrfleisch und einen Obstkorb innerer Organe frei. Grau gesprenkelte Lungen, dunkelrote Herzen, glänzende lavendelfarbene Darmkettwürste, braune Lebern, ein Füllhorn fleischiger Früchte.
Dr. Richards redete weiter und reihte makabere Bemerkungen und dumme Witze aneinander. Als die Hand einer Leiche von einem Tisch rutschte und ihm in die Tasche fiel, tat er erschreckt.
»He, raus da«, sagte er lachend, zog die tote Hand am haarigen Handgelenk wieder hervor und legte sie zurück auf den Tisch. Alle lachten zu laut, um zu hören, wie er sagte: »Ich glaube, der hatte es auf meine Brieftasche abgesehen.«
Dr. Richards konnte es gar nicht erwarten, den Schülern all seine besten Geschichten zu erzählen: Ein Luftballon voller Kokain, den sie in einer Magenhöhle gefunden hatten, ein Spender, der rätselhafterweise jeden Morgen, wenn sie die Tür öffneten, mit übereinandergeschlagenen Füßen dagelegen hatte, eine Spenderin, die die lange verschollene Tante des Klassenbesten gewesen war. Abby sah Gretchen und Glee, die auf der anderen Seite des Kreises hinter Vater Morgan standen, miteinander flüstern. Bevor sie sich ausgeschlossen fühlen konnte, wechselte Dr. Richards das Thema.
»Und das hier«, sagte er und führte sie zu den Holzregalen am anderen Ende des Raumes, »ist unser kleines Kuriositätenkabinett.«
Es war genau so, wie Wallace es ihnen beschrieben hatte. In Gläsern mit gelbem Einmachsaft schwammen eine abgetrennte Brust, ein zweiköpfiges Baby mit geöffnetem Brustkorb, der den Blick auf seine gegabelte Wirbelsäule freigab, eine Zunge mit einem baseballgroßen Tumor, eine Hand mit sechs Fingern.
»He, Abby«, sagte Hunter Prioleaux über ihre Schulter, »du hast dein Essen fallen lassen.«
Abby sah nach unten und wäre beinahe über eine Dreißig-Liter-Wanne aus weißem Plastik gestolpert, die auf dem Flur stand und von grauen Föten überquoll. Sie sahen alle aus wie aus ein und derselben Gussform: glatte Haut, geschlossene Augen, offene Münder, winzige, zu Fäusten geballte Hände. Ohne Sinn und Verstand lagen sie als großer Haufen in der Wanne, wie haarlose Katzenbabys, schwer und glitschig.
Abby schwor sich, dass sie nicht als Erste raus auf den Korridor fliehen würde. Am Rande ihres Blickfelds begann ihre Sicht zu verschwimmen. Als sie den Kopf hob, trafen ihrer und Gretchens Blick sich. Eine Sekunde lang starrten sie einander an, und dann lächelte Gretchen, und obwohl Abby fand, dass das Lächeln gemein aussah, erwiderte sie es unwillkürlich. Sie konnte einfach nicht anders. Gretchen hörte auf zu lächeln und flüsterte Glee etwas ins Ohr, und dann kicherten die beiden. Hastig sah Abby weg. Das Einzige, was sie denken konnte, war: Warum auf dem Boden? Hätten sie sie nicht zumindest auf einen Tisch stellen können?
Auf der Fahrt zurück zur Schule hatte Abby immer noch den Geruch nach sauer Eingemachtem in den Kleidern. Vor ihr redeten Dereck White und Nikki Bull über irgendeinen Jungen namens Jonathan Cantero, der in Tampa seine Mutter niedergestochen hatte. Abby sah die ganze Zeit, wie sich ihre Muskeln beim Reden unter der Haut bewegten. Sie stellte sich vor, wie ihre Münder ohne Lippen aussähen.
»Er hat Dungeons & Dragons gespielt«, sagte Nikki. »Deshalb hat er seine Mom umgebracht. Das Spiel hat ihn dazu gebracht.«
»Du spinnst doch«, sagte Dereck. »Ein Spiel kann einen zu überhaupt nichts zwingen.«
»Es ist ein satanistisches Spiel«, sagte Nikki und verdrehte die Augen. »Du bist so naiv.«
Abby schälte allen, die mit ihr im Bus saßen, in Gedanken die Haut ab, sodass er zu einer Metalldose auf Rädern voller Skelette mit leeren Augenhöhlen und klappernden Kiefern wurde. Ihre Muskeln zuckten und wippten wie Marionettenfäden, hoben und senkten die Arm- und Beinknochen, und sie alle waren nichts weiter als Knochen und Fleisch, und sie alle sahen genau gleich aus.
Durch das Fenster sah Abby, wie der rote Bus auf der West Ashley Bridge neben sie fuhr. Vater Morgan hupte, und Abby sah Glee und Gretchen aus dem Fenster schauen. Sie bemerkten Abby ebenfalls, und einmal mehr blickte Gretchen ihr in die Augen.
»Satan hat ihn dazu gezwungen«, sagte Nikki. »Außerdem war er wahrscheinlich auf LSD.«
Abby stellte sich vor, wie sie Gretchens Haut abschälte, wie sie ihr Fleisch wie einen feuchten Handschuh von ihr abzog und ihre Knochen zum Vorschein brachte. Aber es funktionierte nicht. In ihrer Vorstellung hatte Gretchen kein Inneres. Kein Herz, keine Lungen, keinen Magen, keine Leber. Sie war voller Ungeziefer.
Gretchen und Glee winkten.
Abby winkte nicht zurück.
»Es tut mir so leid, Abby«, sagte Mrs Spanelli. Sie war als Hexe verkleidet und hielt eine Einkaufstasche in der Hand, die ihren Turban und ihre Kristallkugel enthielt. »Man hat es mir erst erzählt, als ich heute Morgen hier ankam.«
Wegen der Halloweenfeier hatten sie am Freitag früher Schulschluss. Die Eltern sponserten die Veranstaltung, aber man erwartete, dass die Oberstufen-AGs sich um die Stände auf dem Schulrasen kümmerten, und die AG, die die meisten Eintrittskarten sammelte, bekam die Hälfte des Eintrittsgeldes. Abby war in keiner AG, deshalb half sie Mrs Spanelli mit dem Wahrsagestand. Nur gab es dieses Jahr keinen Wahrsagestand.
»Es soll nichts geben, das irgendwie, du weißt schon, okkult anmutet«, sagte Mrs Spanelli. »Insbesondere nach dieser Geraldo-Sendung.«
»Schon in Ordnung«, sagte Abby. »Vielleicht gehe ich einfach früh nach Hause.«
Stattdessen ging sie in die Bücherei in der Stadt.
»Ich möchte herausfinden, zu welchem Ort diese Vorwahl gehört«, sagte sie zu der Bibliothekarin und zeigte ihr Andys Nummer. Abby fühlte sich sehr erwachsen dabei, um Hilfe bei der Zurückverfolgung einer Telefonnummer zu bitten.
»Acht-eins-drei ist Tampa«, sagte die Bibliothekarin.
»Haben Sie hier Telefonbücher von Tampa?«, fragte Abby.
Die Bibliothekarin deutete mit dem Daumen über die Schulter. »An der Rückwand.«
Abby ging zu einer Reihe schwach erleuchteter Regale, die nach Druckerschwärze stanken, und fand ein Telefonbuch von Tampa mit gebrochenem Rücken, das auf einem Stapel zerfledderter weiterer Telefonbücher lag. Es fühlte sich schmierig und abgenutzt an. Sie klatschte es auf einen Tisch und blätterte es durch, bis sie drei Solomons fand. Sie schrieb sich ihre Namen, Straßen, Hausnummern und Telefonnummern auf, und noch am selben Abend schloss sie sich in ihrem Zimmer ein und fing an zu wählen.
Bei den ersten Solomons ging niemand ans Telefon. Bei den zweiten geriet sie an einen Anrufbeantworter. Der dritte Anschluss war auf einen gewissen Francis Solomon gemeldet. Abby wusste, dass das der richtige war. Er unterschied sich nur in zwei Ziffern von der Nummer in Gretchens Tagebuch. Beim fünften Klingeln nahm jemand ab.
»Hallo?«, sagte die Frau und brach in keuchenden Raucherhusten aus. »Entschuldigung. Hallo?«
»Ist Andy da?«, fragte Abby und unterdrückte den Instinkt, aufzulegen.
»Andy«, hörte sie die Frau schreien. »Da ist ein kleines Mädchen für dich dran!«
Es gab eine lange Pause, und dann ertönte ein Klicken.
»Ich bin dran, Mom. Leg auf!«, rief eine weinerliche Stimme. Abby hörte ein weiteres Klicken, und dann atmete der Junge ihr ins Ohr. »Tiffany?«
»Hier ist Abby.« Verwirrtes Schweigen schloss sich an. »Ich bin die Freundin von Gretchen.« Noch immer verwirrtes Schweigen. »Ihre beste Freundin.« Das Schweigen wurde länger. »Gretchen Lang? Aus dem Sommercamp?«
»Ach«, sagte der Junge. »Was ist?«
Nun war Abby verwirrt.
»Ich wollte dich fragen …« Sie wusste nicht, wo sie anfangen sollte. »Kam Gretchen dir in letzter Zeit irgendwie komisch vor? Oder hat sie was über mich gesagt?«
»Wie meinst du das?«, fragte er. »Im Camp?«
»Oder am Telefon«, sagte Abby.
»Warum?«, fragte er.
»Weil ich ihre beste Freundin bin«, sagte Abby und fand im selben Moment, dass das schrecklich kindisch klang. »Und ich glaube, dass vielleicht etwas nicht stimmt mit ihr.«
»Woher soll ich das wissen?«, fragte er. »Ich habe seit dem Camp nicht mehr mit ihr geredet. Ich muss jetzt Schluss machen. Wir haben keine Anklopffunktion.«
Nachdem er aufgelegt hatte, saß Abby eine Minute lang neben dem Telefon. Das ergab alles keinen Sinn. Sie gelobte sich, dass sie am Montag eine Demütigung riskieren würde, indem sie Gretchen auf Andy ansprach, um herauszufinden, was hier lief. Aber es war das Halloween-Wochenende. Und am Montag war es bereits zu spät.