Harden My Heart

Nachdem man Abby in Gewahrsam genommen, identifiziert, ihr ihre Rechte vorgelesen, sie befragt und einer erkennungsdienstlichen Behandlung unterzogen hatte, nachdem man sie zu einem Gespräch mit einer Frau vom Jugendamt geschickt und ihr einen Anhörungstermin für 48 Stunden später gegeben hatte, machte man ihr deutlich, dass sie nun entweder in die Obhut ihrer Eltern entlassen werden oder die nächsten beiden Tage im Jugendgefängnis verbringen konnte. Mr Rivers wollte sie im Gefängnis lassen, um ihr eine Lektion zu erteilen, aber Mrs Rivers war alles andere als gewillt, ihre Tochter über Nacht einbuchten zu lassen, also nahmen sie sie mit nach Hause.

Im Jugendgefängnis hätte Abby es wahrscheinlich leichter gehabt. Ihr Vater fuhr und starrte geradeaus zur Windschutzscheibe hinaus, ohne ein Wort zu sagen. Ihre Mutter weinte die ganze Fahrt über. Immer, wenn sie sich gerade zu beruhigen schien, ging es wieder los. Als sie zu Hause ankamen, ging sie in ihr Schlafzimmer und knallte die Tür zu. Abby hörte ihr Weinen durch die Wände.

Ihr Dad goss sich eine Pepsi Light auf Eis ein, setzte sich bedächtig an den Küchentisch, trank einen Schluck und starrte die Wand an.

»Dad?«, sagte Abby, stand vom Sofa auf und schlich auf ihn zu. »Du weißt doch, dass ich das nicht getan habe, oder? Du weißt, dass ich so etwas nie tun würde. Jemand hat das hier liegen lassen, um mich anzuschwärzen. Du glaubst mir doch, oder?«

Er drehte sich zu ihr um und sah sie gemächlich blinzelnd an.

»Ich weiß nicht, was ich glauben soll«, sagte er.

Abby entfernte sich rückwärts von ihm, stolperte durch den Flur, und schloss sich in ihrem Schlafzimmer ein. Sie hatte vergessen, dass sie es in seine Einzelteile zerlegt hatte, und war nicht auf das Trümmerfeld vorbereitet, das sich ihr darbot. Sie hatte das Gefühl, dass sich ein Loch in ihrem Magen auftat, als sie auf eines der schwarzen Augen trat, die sie Geoffrey aus dem Gesicht gerissen hatte. Am liebsten hätte sie losgeheult. Jetzt blieb ihr nicht einmal mehr eine Vergangenheit.

Die Schlüssel zum Golf hatte man ihr bereits weggenommen, aber das war in Ordnung. Es bedeutete, dass man ihren Eltern keine Schuld an dem geben konnte, was als Nächstes geschehen würde. Viel war das nicht, aber es spendete Abby zumindest etwas Trost. Weil sie ihnen nämlich gleich das Herz brechen würde.

Sie duschte und legte ihr Gesicht auf. Es dauerte ewig, weil ihr Gesicht eine eiternde Masse war. Als sie schließlich fertig war, packte sie ihre Schminke und einen Satz saubere Unterwäsche und Socken, einen sauberen BH, ein Sweatshirt und eine Ersatzhose in ihre Sporttasche; dann schaltete sie den Fernseher ein, setzte sich auf ihr Bett und sah durchs Rückfenster zu, wie die Sonne langsam Richtung Horizont wanderte.

Sie wünschte, es hätte eine andere Möglichkeit gegeben, aber ihr waren die Alternativen ausgegangen. Wenn sie klüger gewesen wäre, wäre sie vielleicht auch auf eine bessere Lösung gekommen, aber im Moment fiel ihr nichts anderes ein, und irgendetwas musste sie unternehmen. Sie blickte aus dem Fenster zum Hinterhof und sah zu, wie das lange Gras und die alten Rasenmäher im Abendlicht erst gold-, dann orange-, dann lavendelfarben leuchteten und schließlich schwarz wurden.

Abby lauschte auf Bewegungen im Haus. Als sie nichts mehr hörte, schob sie ihr Fenster auf und drückte das Mückengitter raus. Etwas in dem Meer von Müll auf ihrem Schlafzimmerboden erregte ihre Aufmerksamkeit, ein Stück Vergangenheit, das der Zerstörung entronnen war: Tommy Cox’ Coladose aus der fünften Klasse. Sie hob sie auf und steckte sie in ihre Sporttasche, machte den Reißverschluss zu und schlich sich nach draußen.

Als sie die Tankstelle erreichte, rief sie von der Telefonzelle aus jemanden an. Dann wartete sie in der Tankstelle und tat so, als sähe sie sich die Zeitschriften an, bis der weiße Lieferwagen an den Zapfsäulen hielt. Sie rannte raus und klopfte an das Beifahrerfenster. Bruder Lemon öffnete die Tür.

»Hast du es?«, fragte sie beim Einsteigen.

Er öffnete das Handschuhfach und zeigte ihr einen Frischhaltebeutel, in den ein paar Teelöffel grauen Pulvers eingewickelt waren. Direkt daneben lag eine weitere, identische Tüte.

»Warum zwei Tüten?«, fragte sie.

»Man sollte immer Ersatz dabeihaben, nur für den Fall«, sagte er. »So machen NASA-Astronauten das auch.«

»Fahren wir«, sagte sie. »Geradeaus über die Ampel am Coleman Boulevard.«

Er fuhr los, und als sie ins Old Village unterwegs waren, ließ Abby sich in ihren Sitz zurücksacken.

»Hast du die Nummer von der Telefonzelle?«, fragte sie.

»Steht mit Klebeband auf dem Beutelchen«, sagte er.

Sie öffnete das Handschuhfach und nahm beide Tüten heraus.

»Ich verstehe nicht, warum ich nicht dort parken und warten kann«, sagte er.

»Weil die Leute in diesem Stadtteil die Polizei rufen, wenn sie ein fremdes Auto sehen«, sagte sie. »Fahr hier rechts ran.«

In der Alhambra Hall fand gerade ein Hochzeitsempfang statt, und geparkte Autos standen bis ans Ende der Straße. Abby stopfte sich beide Tütchen in die Tasche und stieg aus. Bruder Lemon fuhr davon. An der Ecke leuchteten noch einmal seine Bremslichter auf, dann war er fort.

Abby ging an den Autos vorbei Richtung Pierates Cruze. In der Alhambra Hall spielte eine Band gerade eine Beach-Version von »Don’t Worry, Be Happy«, und der Typ, der das Pfeifen übernommen hatte, war gar nicht schlecht. Abby ließ die Geräusche hinter sich in der Dunkelheit zurück, ging am Park vorbei und trat unter den Lebenseichen hindurch auf den Cruze.

Als sie Gretchens Haus erreichte, sah sie Mrs Langs Volvo in der Auffahrt, aber nicht Mr Langs Mercedes. Sie hoffte, das bedeutete, dass sie zu Freunden gefahren waren, um sich zusammen mit den restlichen Bewohnern des Old Village das Spiel Clemson gegen Carolina anzusehen. Mr Lang war ein Clemson-Absolvent, und Abby wusste, dass Eltern sich bei einem so großen Spiel gerne irgendwo zusammenrotteten; dann konnten die Männer sich betrinken, während die Frauen in der Küche herumwirbelten.

Abby stahl sich ums Haus herum und in den Garten. Oben war das Licht an, aber unten war alles dunkel. Sie sah, dass im gesamten Obergeschoss Licht brannte, sodass jedes Fenster ein helles Rechteck auf den Garten warf. Der Hafen wirkte im Kontrast umso schwärzer.

Abby behielt die Fenster im Auge und versuchte festzustellen, ob außer Gretchen noch jemand zu Hause war. Ein kalter Wind fuhr ihr in die Jacke, und sie begann zu frösteln. Irgendwo aus der Dunkelheit hörte sie eine Eule. Nach einer Weile schlich sie sich zur Eingangstür, jeden Augenblick damit rechnend, dass die Gartenlichter angehen und sie auf dem Rasen festnageln würden.

Nichts geschah, und sie schaffte es zur Tür. Langsam drückte sie die Klinke und spürte, wie das Schloss aufschnappte. Sie stemmte sich gegen die Tür, um sie so leise wie möglich zu öffnen, schlüpfte hinein und schloss sie wieder hinter sich.

Drinnen war es kalt, kälter als früher. Abby wusste nicht, wie man es hier aushalten sollte. Beinahe sofort begann sie zu zittern.

Sie stahl sich ins dunkle Wohnzimmer und ging Richtung Küche, wo sie eine Flasche Cola Light im Kühlschrank zu finden hoffte. Gretchen trank dauernd Cola Light, und Abby beabsichtigte, den Inhalt eines der Tütchen in eine Zwei-Liter-Flasche zu kippen. Vielleicht würde Gretchen genug trinken, um das Bewusstsein zu verlieren. Und dann würde Abby sie vielleicht aus dem Haus bekommen, bevor Gretchens Eltern nach Hause kamen und selbst die vergiftete Cola tranken.

Es war ein schrecklich schlechter Plan, aber die klugen Ideen waren Abby ausgegangen.

Etwas bellte hinter ihr. Abby zuckte zusammen, die Nerven zum Zerreißen gespannt. Im Flurlicht stand Max und starrte ins Wohnzimmer, die Augen fest auf Abby gerichtet. Als sie ihn ansah, bellte er erneut.

»Max«, flüsterte sie, »ich bin’s.«

Sie ging in die Hocke und streckte eine vor Kälte zitternde Hand aus. Max legte den Kopf schief.

»Max«, flüsterte sie. »Guter Hund. Guter Hund, Max.«

Er bellte erneut, aber diesmal war es ein Bellen unter Vorbehalt, mehr ein »Wuff?«.

Von oben hörte sie Schritte. Abby erstarrte.

»Max?«, rief Gretchen nach unten. »Wer ist da?«

»Max«, flüsterte Abby, »komm her, Max. Psst …«

Erneut erklangen Schritte, als Gretchen ans obere Ende der Treppe trat. Abby schlich rückwärts in die Dunkelheit des Wohnzimmers, zwängte sich zwischen Sofa und Wand und duckte sich.

»Wer ist da, Max?«, rief Gretchen. Abby hörte, wie sie die Treppe runterkam. Sie drückte sich weiter in die Ecke. Wenn Gretchen nicht ins Wohnzimmer kam, würde sie sie auch nicht sehen. Max’ Halsband klimperte, als er auf Abby zutrottete, ihr die Schnauze ins Gesicht drückte und ihr über die Lippen leckte.

»Geh weg, Max«, flüsterte sie. »Na geh, geh, geh.«

Der Hund stupste ihr seine Schnüffelnase an die Brust.

»Bitte, Max«, flüsterte Abby. »Geh weg.«

»Wer ist da unten, Max?«, fragte Gretchen vom Fuß der Treppe.

Abby schaffte es, Blickkontakt mit Max herzustellen. Sie hielt seinen Kopf fest, sah ihm tief in die Augen und legte alles in den Versuch, ihm zu vermitteln, wie wichtig es war, dass er wegging.

»Geh«, flüsterte sie ihm ins Ohr.

»Komm her, Max«, rief Gretchen. Max’ Kopf ruckte herum, als hörte er sie überhaupt erst jetzt, und er rannte aus dem Wohnzimmer. »Guter Hund, Max. Komm mit.«

Ein Klicken und ein Rasseln waren zu hören, Max’ Hundemarken klapperten, und Gretchen und Max rannten zusammen die Treppe wieder hoch. Abby sackte in sich zusammen, und dann stemmte sie sich aus der Sofaspalte hoch und rannte in die Küche. Das Licht über der Spüle war an. Sie öffnete den Kühlschrank.

Alles war verdorben. Das Essen war zu Schleim verfault oder zu braunen Fetzen vertrocknet. Das Einzige, was noch genießbar aussah, waren sechs Zwei-Liter-Flaschen Cola Light, die erste davon mit schmierigen Handabdrücken übersät. Gerade wollte Abby nach ihr greifen, da hörte sie Gretchen barfuß die Treppe herunterpoltern. Abby schloss die Kühlschranktür, wirbelte herum und war mit drei großen Schritten durch die dunkle Tür zum Fernsehzimmer, gerade in dem Moment, in dem Gretchen durch das Wohnzimmer die Küche betrat.

Als sie in die Dunkelheit zurückwich, stieß Abby gegen die Ottomane, auf der die Langs ihre ganzen Zeitschriften liegen hatten, und stürzte nach hinten. Mit zusammengepressten Lippen gelang es ihr, in Zeitlupe zu fallen und dabei sich selbst und ein Exemplar von European Travel & Life zu fangen, bevor eines von beiden auf den Boden prallte. Erstarrt und nach hinten gebeugt lauschte sie.

In der Küche öffnete Gretchen erst die Kühlschranktür und dann einen Schrank. Die Eismaschine grollte, und im Schutz des Geräuschs ließ Abby sich langsam auf die Lederottomane sinken, während die Eiswürfel klimpernd in Gretchens Glas fielen. Dann schlich Abby zur Tür.

Gretchen stand mit dem Rücken zu Abby an der Anrichte. Sie trug Shorts und ein Tanktop. Neben ihr stand ein Glas voll Eis, und daneben die Cola Light. Sie nahm eine runzlige, vertrocknete Zitrone aus der Reihe faulender Früchte auf dem Fensterbrett, öffnete dann eine Schublade und zog ein breites, glänzendes Schlachtermesser daraus hervor.

Gretchen hielt die vertrocknete Zitrone auf der Anrichte fest und wollte sie gerade durchschneiden, als plötzlich ihr Kopf hochfuhr und sie schnupperte. Sie drehte sich um und schaute einen Moment lang genau zu Abby, bevor sie den Kopf in die andere Richtung wandte und ins dunkle Wohnzimmer sah.

»Wer ist da?«, fragte sie. »Ich rieche dich.«

Sie ging mit dem Schlachtermesser in der Hand ins dunkle Wohnzimmer und verschwand. Auf Zehenspitzen lief Abby an die Spüle und zog das Pulvertütchen hervor. Sie leerte die ganze Packung in das Glas. Eigentlich hätte sie für zwei Liter Cola genügen sollen, aber das war Abby egal, sie wollte das Zeug einfach nur reinkriegen. Sie rührte das verklumpte Pulver mit dem Finger um, und das Eis klapperte leise im Glas.

»Abby?«

Die Schritte kamen rasch und leise zurück, und Abby hastete wieder Richtung Fernsehzimmer.

»Bist du hier, Abby?«, rief Gretchen aus dem Fernsehzimmer.

Abby drehte so schnell um, dass sie fast den Boden unter den Füßen verloren hätte. Mit sechs schnellen Schritten war sie im dunklen Wohnzimmer und hörte Gretchen durch die Küche kommen, direkt auf ihren Fersen. Abby lief weiter, so schnell und leise es ging, und stahl sich in ebendem Moment in den Flur, in dem Gretchen im Wohnzimmer hinter ihr das Licht anknipste.

Es war knapp. Vielleicht würde sie es nicht vor Gretchen zur Haustür schaffen, aber sie musste raus, raus aus diesem eiskalten Haus, weg von Gretchen. Sie drehte den Türknauf. Die Tür war verschlossen. Abby wirbelte herum und suchte auf dem Garderobentisch nach einem Schlüssel.

Gretchen stand in der Tür zum Wohnzimmer, das Fleischermesser in der einen und das Glas Cola in der anderen Hand.

»Du bist wirklich richtig scharf auf mich, was?«, sagte Gretchen und nahm einen Schluck.

Abby dachte darüber nach, die Glastür einzuschlagen und wegzurennen, aber sie konnte die Beine nicht bewegen.

»Nicht zu glauben, dass du so dumm warst, herzukommen. Besonders, nachdem man dich festgenommen hat.« Gretchen seufzte. »Na komm. Wenn du schon mal hier bist, kann ich dir auch etwas Cooles zeigen.«

Gretchen stapfte die Treppe ins Obergeschoss hoch. Abby zögerte, doch dann folgte sie ihr. Sie fand Gretchen in ihrem Schlafzimmer, wo sie vor dem Wandschrank stand und sich einen babyblauen Regenmantel überzog.

»Was machst du da?«, fragte Abby.

Gretchen nahm einen großen Schluck von ihrer Cola und stellte das Glas auf ihren Schreibtisch.

»Wirst du schon sehen«, sagte sie.

Gretchen nahm das riesige Fleischermesser von ihrem Schreibtisch. Die Klinge reflektierte das Licht und ließ silberne Splitter über die Wände tanzen.

»Komm schon«, sagte sie und winkte Abby mit dem Messer heran. »Ich tu dir nicht weh.«

Gretchen ging ins Badezimmer. Abby wusste, dass es dumm war, mit einem verrückten Mädchen, das ein Messer in der Hand hatte, in einen kleinen Raum zu gehen, aber im Moment kam Gretchen ihr nicht gefährlich vor. Sie machte den Eindruck, als hätte Abby sie bei einem Freizeitprojekt unterbrochen, das sie erst abschließen wollte, bevor sie etwas Neues anfing.

Abby betrat das Badezimmer. Gretchen wartete ans Waschbecken gelehnt auf sie. Das Messer hatte sie beiseitegelegt, und stattdessen hielt sie die schwarze Pistole aus dem Nachttisch ihrer Eltern in der Hand. In der Dusche stand der Brave Max. Seine Leine war um den Wasserhahn gewickelt, und er tänzelte von einem Bein aufs andere, wobei seine Krallen in der Wanne klickten. Als er Abby sah, wedelte er mit dem Schwanz.

»Siehst du?«, sagte Gretchen. »Er mag dich.«

Max ließ die Zunge aus dem Maul hängen, und dann erregte der Mülleimer neben der Wanne seine Aufmerksamkeit, und er steckte seinen Kopf hinein und begann, darin herumzuwühlen.

»Und weil er dich so mag, bin ich auf eine Idee gekommen«, sagte Gretchen. »In gewisser Weise ist das, was ihm passiert, also alles deine Schuld.«

Gretchen zog ihre Regenkapuze über und stellte sich an den Wannenrand.

»Guter Hund, Max«, sagte sie. »Wer ist ein braver Hund?«

Gretchen nahm Max am Halsband und zog seinen Kopf aus dem Mülleimer. Der Brave Max versuchte, die Hand abzulecken, in der sie die Pistole hielt; und dann hatte sie seinen Unterkiefer in der Hand, hob seinen Kopf, und drückte ihm die Waffe von unten an den Hals.

»Du musst ihm nicht wehtun«, sagte Abby. »Du musst überhaupt nichts von alledem tun.«

»Du weißt nicht mal mehr, mit wem du redest«, sagte Gretchen.

Max winselte, und seine Krallen klickten auf der Glasfaserkeramik, als er versuchte, den Kopf so zu drehen, dass er ihn wieder in den Müll stecken konnte.

»Ich weiß, wer du bist«, sagte Abby.

Ohne zu zögern, ließ Gretchen Max los, trat von der Wanne zurück und versetzte Abby einen Schlag mit dem Handrücken. Die überrumpelte Abby wurde herumgeschleudert, prallte gegen die Wand und fiel zu Boden. Gretchen setzte sich rittlings auf sie, riss ihren Kopf an den Haaren zurück und drückte Abby den kalten Metalllauf unters Kinn. Noch nie zuvor hatte jemand eine Waffe auf Abby gerichtet. Ein eisiges Gefühl breitete sich in ihren Eingeweiden aus.

»Das hast du davon«, sagte Gretchen. »Und jetzt halt dein verschissenes Maul.«

Dann stand Gretchen wieder und trat Abby in den Bauch. Wässriger Speichel füllte Abbys Mund. Verschwommen sah sie Gretchen am Badewannenrand stehen, während der Brave Max sich mit klickenden Pfoten darin abstrampelte.

Abby, die keine Luft bekam, kroch ins Schlafzimmer und zog sich an die gegenüberliegende Wand, neben die Tür. Einen Augenblick später wurde die Luft in zwei Teile zerrissen und knallte ihr gegen beide Ohren, als ein Blitz das Zimmer erhellte. In der sich anschließenden Stille wogten Rauch und Korditgestank aus dem Badezimmer. Durch das Klingeln in ihren Ohren hörte Abby eine Bewegung, etwas klatschte in die Wanne, und dann kam Gretchen heraus.

»Puh«, sagte sie. »Arbeit macht durstig.«

Gierig kippte sie den Rest ihrer Cola hinunter, und man sah, wie ihr Kehlkopf sich bewegte, als sie das Glas leerte. Abby starrte sie an. Gretchens Gesicht war zur Hälfte von einem Sprühregen aus Blut bedeckt, und in einer Hand hielt sie die Waffe. Blut rann an dem Regenmantel herab und tropfte auf den Boden. Gretchen trank die Cola aus und setzte das Glas ab, und dann beugte sie sich durch die Badezimmertür und begutachtete ihr Werk. Sie blickte zu Abby zurück, die Tränen in den Augen hatte.

»Nicht weinen, Abby«, sagte Gretchen. »Hunde sind wie Autos. Auf dem Land billig zu haben.«

Sie grinste. Und in diesem Moment wusste Abby, dass etwas unwiederbringlich kaputtgegangen war.

»Also, du machst jetzt Folgendes«, sagte Gretchen. »Wir müssen diesen Köter über Dr. Bennetts Gartenzaun werfen. Kannst du dir vorstellen, was es hier für ein Drama gibt, wenn Pony Lang die sterblichen Überreste seines geliebten Haustiers in Nachbars Garten findet? Es würde mich nicht wundern, wenn es zu einem Ausbruch sinnloser Gewalt käme. Immerhin haben beide Waffen.«

Sie legte die Pistole auf ihren Schreibtisch und nahm das Messer in die Hand.

»Aber dieser Hund ist ein ganz schöner Brocken«, sagte Gretchen. »Deshalb möchte ich, dass du das Messer hier nimmst und mir – ach, ich weiß nicht – bloß seinen Kopf gibst? Jetzt schau mich nicht so an, Abby. Wir wissen beide ganz genau, dass du es tun wirst. Du machst immer, was man dir sagt, vor allem, wenn ich es dir sage.«

Abby konnte sich dem Anblick im Badezimmer einfach nicht stellen: dem leblosen Sack aus nassem Fell, der an einem Ende der Wanne lag. Sie geriet in Panik. Gretchen nahm das Messer und trat auf Abby zu. Ihr Bein gab nach, und Gretchen stützte sich an die Wand. Einen Moment lang lehnte sie schwer atmend dort und umklammerte den Türrahmen. Sie schwankte erneut. Dann hob sie den Kopf und sah Abby hasserfüllt an.

»Oh«, sagte sie. »Du Miststück …«

Dann wurde Gretchen der Stecker rausgezogen, und sie fiel in einem knochenlosen Haufen zu Boden. Abby rührte sich ein paar Minuten lang nicht vom Fleck, bis sie Gretchens tiefe, regelmäßige Atemzüge hörte. Dann ging sie ans Telefon im Schlafzimmer der Langs und wählte.

»Beeil dich«, sagte Abby, als Chris Lemon ranging. »Es ist die Nummer acht. Das moderne Haus.«

Sie legte auf. Als sie in Gretchens Zimmer zurückkehrte, achtete sie sorgfältig darauf, nicht ins Bad zu sehen. Sie zog Gretchen in ihrem blutverschmierten Regenmantel die Treppe runter und kümmerte sich dabei nicht darum, dass ihr Kopf auf jeder einzelnen Teppichstufe hart aufschlug. Abby ließ sie in sich zusammengesunken im Flur liegen, während sie ins Wohnzimmer ging und sich zwei Wolldecken vom Sofa holte. Sie zog Gretchen den Regenmantel aus und wickelte sie in die Decken.

Dann wartete sie.

Neben ihr tickte die Standuhr. Die Klimaanlage pustete Luft durch die Luftschächte. Es war kalt im Haus. Es war still im Haus.

Etwas leuchtete draußen vor dem Fenster auf, und Abby sprang auf die Beine. Sie hörte ein Rascheln und Bewegung, und dann saß eine Schleiereule auf dem Ast einer Lebenseiche und starrte Abby an, als würde sie ihren Namen kennen.

Scheinwerfer erleuchteten den Flur im Erdgeschoss und erloschen dann. Eine Autotür wurde geöffnet, und Bruder Lemon war da. Abby öffnete ihm die Haustür und ließ ihn rein.

»Heiliger Bimbam«, sagte er. »Was hast du mit ihr gemacht?«

»Das ist nicht ihr Blut«, sagte Abby. »Sie hat ihren Hund getötet.«

»Sie hat was?«, fragte er.

Abby dachte an den Braven Max, der so herzensgut und dumm gewesen war, der seinen Kopf in jeden Mülleimer gesteckt hatte, und fast hätte sie losgeheult. Doch dann bohrte sie sich die Fingernägel ins Handgelenk, bis der Schmerz die Bilder verschwinden ließ.

»Vergiss es«, sagte Abby. »Beeilen wir uns.«

Bruder Lemon verschnürte Gretchens Decken mit Nylonbändern, sodass sie sich nicht bewegen konnte, und zusammen trugen sie sie aus dem Haus, legten sie hinten in seinen Lieferwagen und fuhren los. Die Eule beobachtete sie die ganze Zeit.