That’s What Friends Are For

Abby nahm die Coladose mit nach Hause und öffnete sie nie. Ihre Lippe verheilte, und nach einer Woche wurden ihr die Fäden gezogen und hinterließen einen hässlichen Marmeladenschorf, der Hunter Prioleaux zufolge aussah wie eine Geschlechtskrankheit, über den Gretchen aber nie ein Wort verlor.

Während ihr Schorf heilte, gelangte Abby zu dem Schluss, dass ihre neue Freundin einfach unmöglich nicht E.T. gesehen haben konnte. Alle hatten E.T. gesehen. Also sprach sie Gretchen schließlich in der Schulmensa darauf an.

»Ich habe E.T. nicht gesehen«, wiederholte Gretchen.

»Das ist unmöglich«, sagte Abby. »Im 60 Minutes steht, dass sogar die Russen E.T. gesehen haben.«

Gretchen rührte in ihren Bohnen herum und kam dann zu irgendeinem Schluss.

»Versprichst du mir, es niemandem zu erzählen?«, fragte sie.

»Okay«, sagte Abby.

Gretchen beugte sich vor, sodass die Spitzen ihres langen Haars ihr Hacksteak berührten.

»Meine Eltern sind im Zeugenschutzprogramm«, flüsterte sie. »Wenn ich ins Kino gehe, werde ich vielleicht entführt.«

Abby war begeistert. Gretchen würde ihre gefährliche Freundin sein! Endlich wurde das Leben aufregend. Es gab nur ein Problem:

»Wie konntest du dann zu meiner Geburtstagsfeier kommen?«, fragte sie.

»Meine Mom fand, dass das in Ordnung ist«, sagte Gretchen. »Sie wollen nicht, dass ich kein normales Leben führen kann, nur weil sie Kriminelle sind.«

»Dann frag sie, ob du E.T. sehen darfst«, sagte Abby und kam damit wieder auf das eigentlich wichtige Thema zu sprechen. »Wenn du ein normales Leben haben willst, musst du E.T. sehen. Sonst halten die Leute dich für total komisch.«

Gretchen lutschte die Soße von ihren Haarspitzen und nickte.

»Okay«, sagte sie. »Aber deine Eltern müssen mich mitnehmen. Wenn man meine Eltern und mich zusammen in der Öffentlichkeit sieht, erkennt sie vielleicht jemand Kriminelles.«

Abby brachte ihre Eltern dazu, dass sie erschöpft einwilligten, obwohl ihre Mom es für Zeit-, Geld- und Hirnzellenverschwendung hielt, einen Film mehr als einmal zu sehen. Am nächsten Wochenende brachten Mr und Mrs Rivers Abby und Gretchen zur Citadel Mall, wo sie um 14.20 Uhr die Nachmittagsvorstellung von E.T. – Der Außerirdische sehen durften, während Abbys Eltern Weihnachtseinkäufe erledigten. Weil sie ein behütetes Leben im Zeugenschutzprogramm führte, hatte Gretchen keine Ahnung, wie man Eintrittskarten oder Popcorn kaufte. Wie sich herausstellte, war sie noch nie zuvor ohne ihre Eltern im Kino gewesen, was für Abby, die mit dem Fahrrad zum Mt. Pleasant 1-2-3 fahren und in die Ein-Dollar-Nachmittagsvorstellung gehen konnte, völlig absurd klang. Gretchen mochte kriminelle Eltern haben, aber Abby empfand sich selbst als sehr viel weltgewandter.

Die Lichter gingen aus, und einen Moment lang fürchtete Abby, dass sie E.T. diesmal vielleicht nicht so toll finden würde wie all die anderen Male, aber dann nannte Elliott Michael einen Pimmelzwerg, und sie lachte, und dann kam die Regierung, und Elliott streckte durch die Plastikwand die Hand nach E.T. aus, und sie weinte und erinnerte sich einmal mehr daran, dass dies der kraftvollste Film der Welt war. Aber als Elliott und Michael kurz vor der großen Verfolgungsjagd am Ende den Lieferwagen stahlen, kam Abby ein grauenvoller Gedanke: Was, wenn Gretchen nicht weinte? Was, wenn das Licht anging und Gretchen dasaß und auf ihren Zöpfen herumkaute, als hätte sie einen ganz gewöhnlichen Film gesehen? Was, wenn sie ihn blöd fand?

Diese Gedanken machten Abby so zu schaffen, dass sie das Ende des Films nicht mehr genießen konnte. Als der Abspann kam, saß sie missmutig im Dunkeln und blickte stur geradeaus, weil sie sich davor fürchtete, Gretchen anzusehen. Schließlich ertrug sie es nicht mehr, und als die Danksagung an das Marin County für die freundliche Unterstützung erschien, wandte sie den Kopf und sah, wie Gretchen mit ausdrucksloser Miene auf die Leinwand starrte. Abby krampfte sich das Herz zusammen, und dann, bevor sie etwas sagen konnte, sah sie, wie das von der leeren Leinwand reflektierte Licht auf Gretchens nasse Wangen traf. Der Knoten in Abbys Brust löste sich, und Gretchen wandte sich ihr zu und sagte: »Können wir den noch mal sehen?«

Das konnten sie. Anschließend aßen sie bei Chi-Chis zu Abend, und Abbys Dad tat so, als hätte er Geburtstag, und die Kellner kamen raus und setzten ihm einen riesigen Sombrero auf den Kopf und sangen das mexikanische Geburtstagslied für ihn, und sie bekamen alle frittiertes Eis.

Es war der tollste Tag in Abbys Leben.

 

»Ich muss dir etwas Wichtiges sagen«, erklärte Gretchen.

Es war das zweite Mal, dass sie bei ihr übernachtet hatte. Abbys Eltern waren bei einer Weihnachtsfeier, weshalb die beiden zu Der Junge vom anderen Stern Tiefkühlpizza gegessen hatten. Jetzt war gerade Falcon Crest zu Ende. Falcon Crest war nicht so gut wie Der Denver-Clan, aber Der Denver-Clan kam mittwochabends, unter der Woche, weshalb Abby es nicht sehen durfte. Gretchen durfte überhaupt nichts sehen. Ihre Eltern hatten strenge Regeln, was das Fernsehen betraf, und sie hatten nicht mal einen Kabelanschluss, weil es zu gefährlich war, wenn ihr Name auf der Rechnung auftauchte.

Drei Wochen nach Beginn ihrer Freundschaft hatte Abby sich bereits an all die seltsamen Regeln des Zeugenschutzprogramms gewöhnt. Keine Filme, kein Kabelfernsehen, so gut wie überhaupt kein Fernsehen, keine Rockmusik, keine zweiteiligen Badeanzüge, keine Frühstücksflocken mit Zucker. Aber es gab eine Sache, die Abby aus Filmen über Leute im Zeugenschutzprogramm wusste, und das machte ihr Angst: Manchmal verschwanden sie ohne Vorwarnung über Nacht.

Und nun, als Gretchen ihr etwas Wichtiges zu sagen hatte, wusste Abby genau, worum es ging.

»Du ziehst um«, sagte sie.

»Wieso?«, fragte Gretchen.

»Wegen deinen Eltern«, sagte Abby.

Gretchen schüttelte den Kopf.

»Ich ziehe nicht um«, sagte sie. »Du darfst mich nicht hassen. Du musst mir versprechen, mich nicht zu hassen.«

»Ich hasse dich nicht«, sagte Abby. »Du bist cool.«

Gretchen zupfte weiter an dem karierten Sofa herum, ohne Abby anzusehen, und langsam begann Abby, sich Sorgen zu machen. Sie hatte nicht viele Freunde, und Gretchen war eindeutig der coolste Mensch, den sie je kennengelernt hatte, gleich nach Tommy Cox.

»Meine Eltern sind nicht wirklich im Zeugenschutzprogramm«, sagte Gretchen und schlang die Hände krampfartig in ihrem Schoß ineinander. »Das habe ich mir ausgedacht. Sie lassen mich nur keine Filme sehen, die ab sechs oder zwölf sind. Bis ich dreizehn bin, darf ich nur Filme ohne Altersbeschränkung sehen. Ich habe ihnen nicht verraten, dass ich mir E.T. ansehe. Ich habe ihnen erzählt, dass wir Heidis Lied schauen.«

Eine lange Zeit schwieg sie. Tränen liefen ihr an der Nase herab und tropften auf das Sofa.

»Du hasst mich«, sagte Gretchen und nickte bei sich.

Genau genommen war Abby begeistert. Sie hatte die ganze Zeugenschutzgeschichte ohnehin nie so ganz geglaubt, weil Dinge, die einem zu schön vorkamen, um wahr zu sein, es normalerweise auch nicht waren. Das sagte auch ihre Mom. Und wenn Gretchens Eltern Gretchen wie ein Baby behandelten, machte das Abby zu der Coolen von ihnen beiden. Gretchen brauchte sie, wenn sie jemals einen Film ab zwölf sehen oder wissen wollte, wie es bei Falcon Crest weiterging, also würden sie für immer Freundinnen bleiben müssen. Aber Abby wusste auch, dass Gretchen vielleicht nicht mehr mit Abby befreundet sein wollte, nun, da Abby etwas Geheimes über sie wusste, deshalb beschloss sie, ihr im Gegenzug auch ein Geheimnis zu verraten.

»Willst du was Ekliges sehen?«, fragte sie.

Tränen tropften auf das Sofa, als Gretchen den Kopf schüttelte.

»Ich meine echt eklig«, erklärte Abby.

Gretchen weinte noch immer und ballte die Fäuste so fest, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. Also holte Abby eine Taschenlampe aus der Küchenschublade, zog Gretchen vom Sofa und schob sie rauf ins Schlafzimmer ihrer Eltern, wobei sie die ganze Zeit auf das Geräusch ihres Wagens lauschte, der jederzeit die Auffahrt hochkommen konnte.

»Hier dürfen wir doch nicht rein«, sagte Gretchen im Dunkeln.

»Psst«, machte Abby und führte sie an der Truhe am Fußende des Bettes vorbei in den Wandschrank ihres Vaters. Dort drin, hinter seinen Hosen, befand sich ein Koffer. In dem Koffer war eine schwarze Plastiktüte, und in der schwarzen Plastiktüte war eine große Pappschachtel mit einer Videokassette. Abby schaltete die Taschenlampe ein und leuchtete die VHS-Schachtel an.

»Bad Mama Jama«, sagte sie. »Meine Mutter weiß nicht, dass er den hat.«

Gretchen wischte sich die Nase mit dem Ärmel ab und nahm mit beiden Händen die Schachtel von Abby entgegen. Vorne drauf sah man eine außerordentlich korpulente, vornübergebeugte schwarze Frau, die nichts als einen String-Bikini anhatte und die Beine weit spreizte. Sie blickte über die Schulter nach hinten und trug, passend zu ihrem Nagellack, orangefarbenen Lippenstift. Dabei lächelte sie, als wäre sie ganz begeistert darüber, dass zwei kleine Mädchen ihr in den Hintern schauten. Unter dem Foto stand: »Mama hat das Essen für dich im Ofen!«

»Ih!«, quietschte Gretchen und warf Abby die Kassette zu.

»Ich will die nicht!«, rief Abby und warf sie zu ihr zurück.

»Sie hat mich berührt!«, sagte Gretchen.

Abby rang mit Gretchen, drückte sie aufs Bett, setzte sich auf ihren sich windenden Leib und rubbelte ihr mit der Kassette übers Haar.

»Ih! Ih! Ih!«, schrie Gretchen. »Ich sterbe!«

»Du wirst schwanger!«, sagte Abby.

Es war dieser Augenblick. Als Gretchen aufhörte, Abby über das Zeugenschutzprogramm anzulügen, als Abby Gretchen verriet, dass ihr Vater insgeheim auf füllige schwarze Frauen stand, als Abby auf dem Bett ihrer Eltern mit Gretchen rangelte. Ab jenem Abend waren sie beste Freundinnen.

 

Im Laufe der folgenden sechs Jahre geschah alles. Im Laufe der folgenden sechs Jahre geschah nichts. Im fünften Schuljahr gingen sie in unterschiedliche Klassen, aber in der Mittagspause erzählte Abby Gretchen alles, was bei Remington Steele und The Facts of Life passiert war. Gretchen hätte Mrs Garrett am liebsten als Mom gehabt, Abby war der Meinung, dass Blair so gut wie immer recht hatte, und sie beide wollten, wenn sie groß waren, ihre eigene Privatdetektei leiten, sodass Pierce Brosnan tun musste, was sie ihm sagten.

Gretchens Mom bekam einen Strafzettel für zu schnelles Fahren, während die Kinder bei ihr im Auto saßen, und sagte laut »Scheiße«. Um sie zu bestechen, damit sie Mr Lang nichts davon erzählten, ging sie mit ihnen in den Swatch-Laden in der Stadt und kaufte ihnen beiden brandneue Swatch-Armbanduhren. Abby suchte sich eine grüne Jellyfish aus und kaufte sich von ihrem eigenen Geld einen grünen und einen pinken Swatchguard, die sie ineinander verdrehte; Gretchen bekam das Tennis-Stripe-Modell und dazu passende grüne und pinke Swatchguards. Nachdem sie draußen gespielt hatten, schnupperten sie gegenseitig an ihren Uhrbändern und überlegten, wonach sie rochen. Abby war der Meinung, dass ihr eigenes nach Geißblatt und Zimt roch und das von Gretchen nach Hibiskus und Rose, aber Gretchen fand, dass beide bloß nach Schweiß rochen.

Gretchen schlief sechs Mal bei Abby in Creekside, bevor Abby schließlich auch einmal die Nacht bei Gretchen in Old Village verbringen konnte, im Heititei-Teil von Mt. Pleasant, wo die Häuser gediegen waren und entweder Seeblick oder riesige Gärten hatten, und wenn jemand einen Schwarzen auf der Straße sah, bei dem es sich nicht um Mr Little handelte, dann hielt er aller Wahrscheinlichkeit nach mit dem Volvo neben ihm an, um ihn zu fragen, ob er sich verlaufen habe.

Abby war wahnsinnig gerne bei Gretchen zu Besuch. Das Haus der Langs lag am Pierates Cruze, einer ungepflasterten Straße in Hufeisenform, bei der die Hausnummern die falsche Reihenfolge hatten und deren Name falsch geschrieben war, weil die Reichen machen konnten, was sie wollten. Es hatte die Hausnummer acht und war ein riesiger, grauer Würfel, von dem aus man durch eine zwei Stockwerke hohe Rückwand, die aus einer einzigen Glasscheibe bestand, Blick auf den Charleston Harbor hatte. Die Innenräume waren steril wie ein OP, voller harter rechter Winkel, glatter Flächen, glänzendem Stahl und Glas, das zweimal täglich poliert wurde. Es war das einzige Haus im Old Village, das aussah wie im 20. Jahrhundert gebaut.

Die Langs hatten einen Anleger, an dem Abby und Gretchen schwimmen konnten (solange sie dabei Tennisschuhe trugen, damit sie sich nicht an den Austern die Füße zerschnitten). Mrs Lang räumte alle zwei Wochen Gretchens Zimmer auf und warf alles weg, was ihre Tochter ihrer Meinung nach nicht brauchte. Zu ihren Regeln gehörte, dass Gretchen nur sechs Magazine und fünf Bücher auf einmal haben durfte. »Wenn man etwas gelesen hat, braucht man es nicht mehr«, lautete ihr Motto.

Also bekam Abby alle Bücher, die Gretchen mit ihrem anscheinend unbegrenzten Taschengeld bei B. Daltons kaufte. Forever von Judy Blume, in dem es natürlich nur um sie ging (abgesehen von den ekligen Sachen am Ende). Aber Jakob habe ich geliebt (insgeheim glaubte Abby fest daran, dass Gretchen Caroline war und sie Louise). Z wie Zacharias (von dem Gretchen Atomkriegsalbträume bekam), und die, die sie unten in Abbys Schultasche versteckt ins Haus der Langs schmuggeln mussten und die alle von V.C. Andrews waren: Blumen der Nacht, Wie Blüten im Wind, Dornen des Glücks und das skandalöseste von allen, Das Netz im Dunkel mit seiner endlosen Aneinanderreihung sexueller Perversionen.

Aber in erster Linie hielten sie sich in diesen sechs Jahren in Gretchens Zimmer auf. Sie legten endlose Listen an: von ihren besten Freunden, ihren guten Freunden, ihren schlimmsten Feinden, den besten Lehrern und den gemeinsten Lehrern, davon, welche Lehrer einander heiraten sollten, welche Schultoilette sie am liebsten mochten, wo sie in sechs Jahren wohnen würden, oder in sechs Monaten, oder in sechs Wochen, wo sie leben würden, wenn sie einmal verheiratet waren, wie viele Babys ihre Katzen miteinander haben würden, welche Farben sie zur Hochzeit tragen würden, ob Adaire Griffin voll die Schlampe oder bloß missverstanden war, ob Hunter Prioleaux’ Eltern wussten, dass ihr Sohn ein Gezücht des Teufels war, oder ob er auch sie zum Narren hielt.

Es war ein endloser Bravo-Fragebogen, ein Prozess der ständigen Selbstklassifikation. Sie tauschten Haargummis, sie hingen über der Young Miss, der Teen und dem European Travel and Life-Magazin. Sie gaben sich Tagträumen über italienische Grafen und deutsche Herzoginnen hin, und über Diana, Prinzessin von Wales, den Sommer auf Capri und übers Skifahren in den Alpen. In ihren gemeinsamen Fantasien wurden sie ständig von dunkelhaarigen Europäern mit Hubschraubern zu versteckten Herrenhäusern gebracht, wo sie wilde Pferde zähmten.

Nachdem sie sich in Flashdance geschlichen hatten, zogen Abby und Gretchen am Abendbrottisch die Schuhe aus und drückten einander die Füße mit den Socken in den Schritt. Abby wartete immer, bis Gretchen eine Gabel voll Erbsen an den Mund hob, bevor sie ihr den Fuß zwischen die Beine schob, sodass Gretchen ihr Essen überall hinkleckerte, was ihren Dad zu einer Tirade veranlasste.

»Essen zu verschwenden ist nicht witzig!«, rief er dann immer. »So ist Karen Carpenter gestorben!«

Gretchens Eltern waren aufrechte Reagan-Republikaner, die jeden Sonntag in die Kirche fuhren, um Gott zu preisen und an ihrem gesellschaftlichen Aufstieg zu arbeiten. Als Die Dornenvögel liefen, waren Abby und Gretchen ganz versessen darauf, sie auf dem großen Fernseher zu sehen, aber Mr Lang hatte seine Zweifel. Ihm war zu Ohren gekommen, dass die Serie inhaltlich fragwürdig war.

»Dad«, sagte Gretchen, »das ist genau wie Der Feuersturm. Es ist praktisch die Fortsetzung.«

Herman Wouks knochentrockene vierzehnstündige Miniserie über den Zweiten Weltkrieg war Mr Langs Lieblingsserie überhaupt, weshalb man automatisch seinen Segen hatte, wenn man sich auf sie berief. Während sie die erste Folge der Dornenvögel sahen, kam er nach Hause und stand lange genug in der Tür zum Fernsehzimmer, um sich darüber klar zu werden, dass die Serie nichts mit dem Feuersturm gemein hatte. Sein Gesicht lief tiefrot an. Abby und Gretchen standen zu sehr im Bann der heißen Liebesszenen im Busch, um etwas davon mitzubekommen, aber sechzig Sekunden nachdem er das Zimmer verlassen hatte, kam Mrs Lang rein und schaltete den Fernseher ab. Dann führte sie sie ins Wohnzimmer ab, wo man ihnen die Leviten las.

»Die römische Kirche kann von mir aus Gossensprache und halb nackte Priester, die es wie die Tiere treiben, verherrlichen«, erklärte ihnen Mr Lang. »Aber nicht in diesem Haus. Also, heute Abend gibt es kein Fernsehen mehr, und ich will, dass ihr beiden hochgeht und euch die Hände wascht. Deine Mutter hat das Essen im Ofen.«

Auf halbem Weg die Treppe hinauf konnten sie nicht mehr an sich halten, und Abby machte sich vor Lachen in die Hose.

 

Die sechste Klasse war ein schlimmes Jahr. Abbys Dad hatte nach einem Streik im Jahr 1981 seinen Job als Fluglotse verloren. Eine Teppichreinigungsfirma hatte ihn daraufhin als Direktionsassistenten eingestellt. Schließlich hatte man auch dort Kosten einsparen müssen. Die Rivers mussten ihr Haus in Creekside verkaufen und in eine windschiefe Hütte an der Rifle Range Road umziehen. Vier riesige Pinien ragten über ihrem Ziegelstein-Schuhkarton auf und deckten sie mit Spinnweben und Harz ein, während sie gleichzeitig jede Sonne aussperrten.

Abby lud Gretchen nun nicht mehr zum Übernachten ein. Stattdessen lud sie sich selbst jedes Wochenende zu den Langs ein. Nach einer Weile tauchte sie auch unter der Woche dort auf.

»Du bist hier immer willkommen«, sagte Mr Lang. »Für uns bist du wie eine zweite Tochter.«

Abby hatte sich nie zuvor so sicher gefühlt. Nach einer Weile ließ sie ihren Schlafanzug und ihre Zahnbürste in Gretchens Zimmer. Wenn sie gedurft hätte, wäre sie bei ihr eingezogen. Das Haus der Langs roch immer nach Klimaanlage und Teppichreiniger. Ihr eigenes Haus war vor langer Zeit durchgefeuchtet und seitdem nie richtig getrocknet. Im Winter wie im Sommer stank es nach Schimmel.

1984 bekam Gretchen eine Zahnspange, und Abby begeisterte sich für Politik, als Walter Mondale Geraldine Ferraro zu seiner Vizepräsidentschaftskandidatin ernannte. Abby war nie auch nur in den Sinn gekommen, dass jemand Einwände dagegen haben könnte, die erste Vizepräsidentin zu wählen, und ihre Eltern waren zu sehr mit ihrem eigenen wirtschaftlichen Drama beschäftigt, um zu bemerken, dass Abby einen Mondale/Ferraro-Aufkleber auf ihr Auto gemacht hatte. Als Nächstes klebte sie einen auf Mrs Langs Volvo.

Sie und Gretchen waren im Fernsehzimmer und sahen gerade Silver Spoons, als Mr Lang, bebend vor Zorn, von der Arbeit heimkam und mit den Überresten des Autoaufklebers herumwedelte. Er versuchte, die Fetzen auf den Boden zu schleudern, aber sie klebten an seinen Fingern.

»Wer war das?«, fragte er streng, das bärtige Gesicht rot angelaufen. »Wer? Wer?«

In diesem Moment wurde Abby klar, dass die Langs sie für immer aus ihrem Haus verbannen würden. Ohne es auch nur zu wissen, hatte sie die größte denkbare Sünde begangen, indem sie Mr Lang wie einen Demokraten hatte dastehen lassen. Doch bevor Abby gestehen und ihr Exil auf sich nehmen konnte, drehte Gretchen sich auf dem Sofa herum und hockte sich auf die Knie.

»Sie wird die erste Vizepräsidentin sein«, sagte Gretchen und umfasste die Sofalehne mit beiden Händen. »Willst du nicht, dass ich stolz bin, eine Frau zu sein?«

»Diese Familie steht treu zu unserem Präsidenten«, sagte Mr Lang. »Ich will für dich hoffen, dass niemand dieses … Ding am Auto deiner Mutter gesehen hat. Du bist zu jung für Politik.«

Er ließ Gretchen mit einer Rasierklinge den Rest des Aufklebers abkratzen, während Abby zusah und dabei schreckliche Angst hatte, Ärger zu bekommen. Aber Gretchen verriet nie, dass sie es gewesen war. Es war das erste Mal, dass Abby sie mit ihren Eltern hatte streiten sehen.

Dann kam der Madonna-Vorfall.

Für die Langs lag Madonna vollkommen jenseits von Gut und Böse. Aber als Gretchens Dad bei der Arbeit war und ihre Mom gerade eines ihrer neun Milliarden Treffen besuchte (Jazzercise, Power-Walking, Buchklub, Weinklub, Nähkreis, Frauen-Gebetskreis), verkleideten Gretchen und Abby sich als das Material Girl und sangen vor dem Spiegel. Gretchens Mom hatte eine Schmuckdose, in der es nur Kreuze gab, was geradezu einer Aufforderung gleichkam.

Mit Dutzenden von Kreuzen um die Hälse standen sie vor Gretchens Badezimmerspiegel und bauschten sich die Haare auf, banden große, wippende Schleifen hinein, schnitten die Ärmel ihrer T-Shirts ab, malten sich die Lippen korallenrot an, trugen leuchtend blauen Lidschatten auf, kleckerten Schminke auf den weißen Teppichboden und traten versehentlich darauf, hielten sich eine Haarbürste und einen Lockenstab als Mikrofone vor den Mund und sangen die »Like a Virgin«-Kassettensingle auf Gretchens rosafarbenem Rekorder mit.

Abby hatte gerade beschlossen, sich einen Schönheitsfleck aufzumalen, und suchte im Make-up-Massaker auf dem Garderobentisch nach Eyeliner, während Gretchen anfing, den Refrain mitzusingen, als plötzlich Gretchens Kopf nach hinten gerissen wurde und Mrs Lang zwischen ihnen stand und ihrer Tochter die Schleife aus dem Haar riss. Die Musik war so laut, dass sie nicht gehört hatten, wie sie nach Hause gekommen war.

»Ich kaufe euch schöne Sachen!«, kreischte sie. »Und das macht ihr damit?«

Abby stand sprachlos da, während die Kassette durchlief und Gretchens Mom ihre Tochter zwischen den Betten hindurchjagte und mit einer Haarbürste auf sie einschlug. Abby hatte schreckliche Angst davor, dass Mrs Lang sie bemerken würde, und irgendwo in ihrem Kopf wusste sie, dass sie sich hätte verstecken sollen, aber stattdessen stand sie einfach stocksteif da, während Mrs Lang Gretchen auf dem Boden zwischen den beiden Betten hinterherkroch. Gretchen rollte sich auf dem Teppich zusammen und gab einen hohen Ton von sich, während Madonna ungestört weitersang. Auf und nieder fuhr Mrs Langs Arm, während sie Schläge auf Gretchens Beine und Schultern einprasseln ließ.

Gretchens Mom ging an den Kassettenrekorder und drückte auf die Knöpfe, riss die Klappe auf und zog die Kassette raus, während sie noch lief, sodass sie eine lange Spur von Magnetbandschleifen hinterließ. In der plötzlichen Stille hörte Abby das Aufjaulen, mit dem die Mechanik des Rekorders zum Stillstand kam. Der einzige andere Laut war Mrs Langs schweres Atmen.

»Räum diesen Saustall hier auf«, sagte sie. »Bald kommt dein Vater nach Hause.«

Dann stürmte sie aus dem Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu.

Abby kroch über das Bett und sah zu Gretchen hinab, die auf dem Boden lag. Sie weinte nicht einmal.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte Abby.

Gretchen hob den Kopf und sah zur Schlafzimmertür.

»Ich bringe sie um«, flüsterte sie. Dann wischte sie sich über die Nase und blickte zu Abby auf. »Verrate nie jemandem, dass ich das gesagt habe.«

Abby fiel ein Tag im vorangegangenen Sommer ein, als sie und Gretchen ins Zimmer von Gretchens Eltern geschlichen waren und die Nachttischschublade ihres Dads geöffnet hatten. Darin lag unter einer alten Ausgabe des Reader’s Digest ein kurzläufiger schwarzer Revolver. Gretchen holte ihn raus und richtete ihn erst auf Abby und dann nacheinander auf beide Kopfkissen auf dem Bett.

»Peng«, flüsterte sie. »Peng.«

Nun dachte Abby an diese geflüsterten »Pengs«, und als sie Gretchen in die trockenen Augen sah, wusste sie, dass hier etwas ernsthaft Gefährliches vorging. Aber sie verriet niemandem davon. Stattdessen half sie Gretchen beim Aufräumen, rief dann ihre Mom an und bat sie, sie abzuholen. Was immer an jenem Abend nach der Rückkehr von Gretchens Dad noch geschehen war, Gretchen sprach nie davon.

Ein paar Wochen später war Gras über die Sache gewachsen, und die Langs nahmen Abby auf eine zehntägige Urlaubsreise nach Jamaika mit. Sie und Gretchen ließen sich Cornrows flechten, die bei jedem Schritt klapperten. Abby bekam Sonnenbrand. Sie spielten jeden Abend Uno, und Abby gewann fast jedes Mal.

»Du schummelst«, sagte Gretchens Dad. »Ich kann nicht glauben, dass meine Tochter eine Falschspielerin in unsere Familie geholt hat.«

Abby aß zum ersten Mal Hai. Es schmeckte wie ein Steak aus Fisch. Sie hatten ihren ersten großen Streit, weil Abby dauernd Weird Als »Eat It« auf dem Kassettenrekorder in ihrem Zimmer spielte, bis zum vorletzten Tag, als ihre Kassette plötzlich mit rosa Nagellack vollgeschmiert war.

»Es tut mir leid«, sagte Gretchen und betonte dabei jedes einzelne Wort, als sei sie von Adel. »Es war ein Versehen.«

»War es nicht«, sagte Abby. »Du bist egoistisch. Ich bin die Lustige, und du bist die Gemeine.«

Sie versuchten ständig, herauszufinden, welche von ihnen welche war. Kürzlich hatten sie Abby zur Lustigen erklärt und Gretchen zur Schönen. Bislang war noch keine von ihnen die Gemeine gewesen.

»Du hängst dich nur an meine Familie dran, weil du arm bist«, erwiderte Gretchen bissig. »Lieber Gott, bin ich dich leid.« Gretchens Zahnspange verursachte ihr ständige Schmerzen, und Abby bekam von ihren zu fest geflochtenen Zöpfen Kopfschmerzen. »Weißt du, welche du bist?«, fragte Gretchen. »Du bist die Dumme. Du spielst dieses bescheuerte Lied, als wäre es was Cooles, dabei ist es was für Kleinkinder. Es ist unreif, und ich will es nicht mehr hören. Du wirst bescheuert davon.«

Abby schloss sich im Badezimmer ein, und Gretchens Mom musste ihr gut zureden, damit sie fürs Abendessen herauskam, das sie dann allein draußen auf dem Balkon zu sich nahm, wo die Mücken sie zerstachen. Nachdem in jener Nacht die Lichter ausgegangen waren, spürte sie, wie jemand zu ihr ins Bett kroch, und dann lag Gretchen neben ihr.

»Tut mir leid«, flüsterte sie und füllte Abbys Ohr dabei mit ihrem heißen Atem. »Ich bin die Dumme. Du bist die Coole. Bitte sei nicht wütend auf mich, Abby. Du bist meine beste Freundin.«

 

In der siebten Klasse hatten sie ihre erste Party mit Engtanz und Knutschen, und Abby gab Hunter Prioleaux einen Zungenkuss, während sie sich zu »Time after Time« hin und her wiegten. Sein riesiger Bauch war härter, als sie erwartet hatte, und er schmeckte nach Kaugummi und Cola, aber er war auch ziemlich verschwitzt und roch nach Rülpsern. Er lief Abby für den Rest des Abends nach, weil er ihr an die Wäsche wollte, bis sie sich auf der Toilette versteckte, während Gretchen ihn verjagte.

Dann kam ein Tag, der Abbys Leben für immer veränderte. Sie und Gretchen brachten gerade ihre Tabletts zurück und redeten darüber, dass sie nicht mehr wie kleine Kinder in der Mensa essen konnten, sondern anfangen mussten, sich etwas Gesundes in die Schule mitzubringen, damit sie mit den anderen zusammen draußen essen konnten, als sie Glee Wanamaker bei der Geschirrrückgabe stehen sahen. Sie rang die Hände, knetete regelrecht ihre Finger, und ihre Augen waren gerötet und glänzten feucht, während sie angestrengt in den großen Mülleimer starrte. Sie hatte ihre Zahnspange auf das Tablett gelegt und sie anschließend mit dem Rest zusammen in den Müll geworfen, und nun wusste sie nicht mehr, an welchem Mülleimer sie gewesen war.

»Ich muss in allen suchen«, schluchzte sie. »Das ist meine dritte Zahnspange. Mein Dad bringt mich um.«

Abby wollte gehen, doch Gretchen bestand darauf, dass sie Glee halfen, und so brachte William von der Mensaaufsicht sie zur Hintertür raus und zeigte ihnen die acht bis zum Bersten gefüllten Plastiksäcke voll warmer Milch, halb gegessener Pizzastücke, Früchtecocktail, geschmolzenem Eis, feuchten Pommes und geronnenem Ketchup. Es war April, und die Sonne hatte den Inhalt der Säcke zu einem stinkenden Brei eingekocht. Noch nie hatte Abby etwas so Schlimmes gerochen.

Sie hatte keine Ahnung, warum sie Glee halfen. Abby hatte keine Zahnspange. Sie hatte nicht mal eine Klammer. Alle anderen hatten eine, aber ihre Eltern wollten ihr keine bezahlen. Sie bezahlten für praktisch gar nichts, weshalb sie zweimal die Woche das gleiche marineblaue Kordkleid tragen musste und ihre beiden weißen Blusen langsam durchsichtig wurden, weil sie sie so oft wusch. Abby machte ihre Wäsche selbst, weil ihre Mom in der häuslichen Pflege arbeitete.

»Ich mache den ganzen Tag für andere Leute die Wäsche«, hatte Abbys Mom zu ihr gesagt. »Du hast keine gebrochenen Arme. Also kannst du auch deinen Beitrag leisten.«

Ihr Vater hatte die Milchprodukteabteilung bei Family Dollar geleitet, aber man hatte ihn entlassen, weil er versehentlich haufenweise abgelaufene Milch eingekauft hatte. Er hatte bei Randys Modellbauladen ein Schild aufgehängt, auf dem er kleinere Reparaturen an den Motoren von ferngesteuerten Modellflugzeugen anbot, aber nachdem mehrere Kunden sich darüber beschwert hatten, dass er zu langsam arbeitete, ließ Randy ihn das Schild wieder abnehmen. Jetzt hing ein Zettel von ihm an der Oasis-Tankstelle am Coleman Boulevard, auf dem stand, dass er für 20 Dollar jeden Rasenmäher wieder hinkriegte. Er redete praktisch überhaupt nicht mehr, und ihr Vorgarten füllte sich mit kaputten Rasenmähern.

Langsam hatte Abby das Gefühl, dass ihr alles zu viel wurde. Das Gefühl, dass sie überhaupt nichts ausrichten konnte. Dass ihre Familie bergab rutschte und sie mit sich zog, und dass am Ende ihres Weges ein Abgrund wartete. Dass jede Klausur eine Prüfung auf Leben und Tod war, und wenn sie auch nur einmal versagte, würde sie ihr Stipendium verlieren, von der Albemarle Academy fliegen und Gretchen nie wiedersehen.

Und jetzt stand sie hinter der Cafeteria vor acht Säcken dampfenden Mülls und hätte am liebsten losgeheult. Warum war sie diejenige, die Glee half, obwohl Glee einen Börsenmakler als Dad hatte? Warum half niemand ihr? Sie hatte keine Ahnung, was der Grund dafür war, aber in diesem Moment veränderte Abby sich. Etwas in ihrem Kopf rastete ein, und von einer Sekunde auf die andere funktionierte ihr Denken anders.

Sie musste nicht arm sein. Sie konnte sich eine Arbeit suchen. Sie musste Glee nicht helfen. Aber sie konnte. Sie konnte selbst entscheiden, wie sie sein wollte. Sie hatte die Wahl. Das Leben konnte eine endlose Folge freudloser Pflichten sein, oder sie konnte irgendwie dafür sorgen, dass es Spaß machte. Manches war schlecht, und manches war gut, aber sie konnte sich entscheiden, worauf sie sich konzentrierte. Ihre Mom konzentrierte sich auf die schlechten Dinge. Abby musste das nicht tun.

Während sie im Gestank einer Schulladung fauligen Mülls hinter der Mensa stand, spürte Abby, wie sie innerlich auf ein neues Programm umschaltete und die Welt heller wurde, als ihr Gehirn die Sonnenbrille abnahm. Sie drehte sich zu Gretchen um und sagte: »Mama hat das Essen im Ofen!«

Dann öffnete sie den nächsten Sack, holte ein halb zerkautes Stück Pizza daraus hervor und warf es wie eine Frisbeescheibe aufs Dach, bevor sie die Arme bis zu den Ellbogen in ein Meer fettiger, schleimiger Essensreste grub. Als sie schließlich Glees Zahnspange fanden, hatten sie Käsefäden im Haar, Furchtcocktail auf der Kleidung und lachten wie Wahnsinnige, während sie einander mit schlaffen Salatblättern bewarfen und Pommes gegen die Wand schnipsten.

 

Die achte Klasse war das Jahr von Max Headroom und Spuds Mackenzie, dem Biermaskottchen. Das Jahr, in dem Abbys Dad anfing, am Samstagmorgen stundenlang Zeichentrickserien zu sehen und auf einer Pritsche in seinem Hinterhofschuppen zu schlafen. Es war das Jahr, in dem Abby Gretchen dazu überredete, sich rauszuschleichen, damit sie mit dem Fahrrad über die Ben-Sawyer-Brücke auf Sullivan’s Island fahren konnten. Der Halleysche Komet zog an der Erde vorbei, und alle waren mitten in der Nacht am Strand, um zuzusehen. Sie suchten sich ein einsames Plätzchen, wo sie sich im kalten Sand auf den Rücken legten und zu den Millionen von Sternen hinaufblickten.

»Also, nur damit ich das richtig verstehe«, sagte Gretchen in der Dunkelheit. »Das Ding ist ein schmutziger Schneeball in Erdnussform, der durchs All schwebt, und deshalb sind alle so aus dem Häuschen?«

Gretchen war keine große Wissenschaftsromantikerin.

»Er kommt nur einmal alle fünfundsiebzig Jahre an uns vorbei«, sagte Abby und versuchte angestrengt zu erkennen, ob der Lichtpunkt, den sie sah, sich bewegte, oder ob sie sich das nur einbildete. »Wir sehen ihn vielleicht nie wieder.«

»Gut«, sagte Gretchen. »Weil mir nämlich eiskalt ist und ich Sand in der Unterhose habe.«

»Glaubst du, dass wir noch Freundinnen sein werden, wenn er das nächste Mal vorbeizieht?«, fragte Abby.

»Ich glaube, wir werden tot sein«, sagte Gretchen.

Abby rechnete im Kopf nach und stellte fest, dass sie dann achtundachtzig sein würden.

»In der Zukunft wird sich die menschliche Lebensdauer erhöhen«, sagte sie. »Vielleicht leben wir dann noch.«

»Aber dann wissen wir nicht mehr, wie man die Uhren an unseren Videorekordern stellt, und wir werden alt sein und junge Leute hassen und die Republikaner wählen, wie meine Eltern«, sagte Gretchen.

Sie hatten sich kürzlich Der Frühstücksclub ausgeliehen, und erwachsen zu werden kam ihnen wie das Schlimmste vor, was einem passieren konnte.

»Wir enden nicht wie sie«, sagte Abby. »Wir müssen nicht langweilig werden.«

»Wenn ich nicht mehr glücklich bin, bringst du mich dann bitte um?«, fragte Gretchen.

»Klar doch«, antwortete Abby.

»Im Ernst«, sagte Gretchen. »Nur wegen dir bin ich nicht längst durchgedreht.«

Einen Moment lang schwiegen sie.

»Wer sagt, dass du nicht durchgedreht bist?«, fragte Abby.

Gretchen schlug nach ihr.

»Versprich mir, dass du immer meine Freundin sein wirst«, sagte sie.

»ANADA«, antwortete Abby.

Das war ihre Abkürzung für »Ich liebe dich«. Aber nicht auf die Art.

So lagen sie im eiskalten Sand und spürten, wie die Erde sich unter ihnen drehte, und gemeinsam zitterten sie, als der Wind vom Meer her über sie strich und fünf Millionen Kilometer entfernt in der kalten, fernen Schwärze des Alls eine Eiskugel an ihrem Planeten vorbeizog.