Vier Stunden später sah Abby zu, wie die Digitalanzeige des Radioweckers von 11:59 auf 12:00 umsprang, und das Acid wirkte offensichtlich immer noch nicht. Sie lagen in Margarets riesigem Schlafzimmer herum und waren nicht auf einem Drogentrip. Sie langweilten sich.
»Ich glaube, ich sehe Leuchtspuren!«, sagte Abby und wedelte optimistisch mit den Fingern.
»Du siehst keine Leuchtspuren.« Margaret seufzte. »Zum neunmillionsten Mal.«
Abby zuckte mit den Schultern und machte sich wieder daran, Margarets Kassettenschuhkarton zu durchwühlen.
»Machst du gerade ernsthaft deine Hausaufgaben?«, bellte Margaret Glee an, die an ihr Bett gelehnt dasaß und ernsthaft ihre Hausaufgaben machte.
»Mir ist langweilig«, sagte Glee.
»Wie wär’s mit den Proclaimers?«, fragte Abby.
»Nein!«, blaffte Margaret.
»Von denen gibt es doch dieses eine gute Lied?«, überlegte Abby laut.
Margaret ließ sich in ihren Sessel fallen.
»Das ist doch scheiße«, ächzte sie. »Ehrlich, ich spüre überhaupt nichts. Was haltet ihr davon, sich zu besaufen, Leute? Glee, hör auf, deine Hausaufgaben zu machen, sonst tu ich dir weh.«
Abby ließ den Blick durchs Zimmer schweifen. Gretchen saß am anderen Ende des Raums, sah zum Fenster raus, flocht ihr Haar zu Zöpfen und löste sie anschließend wieder. Abby ging zu ihr und stellte sich neben sie.
»Was siehst du dir an?«, fragte sie.
»Die Glühwürmchen«, sagte Gretchen.
Abby sah auf den Hof seitlich des Hauses hinaus. Das einzige Licht im Schlafzimmer stammte von ein paar Kerzen, es war also dunkel genug, dass man durchs Fenster bis zum schwarzen Waldrand sehen konnte.
»Welche Glühwürmchen?«, fragte sie.
»Jetzt haben sie aufgehört«, sagte Gretchen.
»Ich habe ein Ouija-Brett«, schlug Margaret vor. »Habt ihr Lust, mit Satan zu reden?«
»Wusstet ihr, dass Crest-Zahnpasta satanistisch ist?«, fragte Glee, die von ihrer Mappe aufgesehen hatte.
»Glee …«, sagte Margaret.
»Wirklich«, sagte Glee. »Wenn man sich die Tube von der Seite anschaut, sieht man ein Bild von einem alten Mann mit zwei Hörnern, und seine Barthaare bilden eine umgedrehte 666. Und um ihn rum sind dreizehn Sterne. Ouija-Bretter werden von den Parker Brothers hergestellt, die auch Trivial Pursuit herausgeben.«
»Und?«, fragte Margaret seufzend.
»Wenn du also mit dem Teufel kommunizieren willst«, sagte Glee, »dann solltest du dir lieber die Zähne putzen, anstatt Ouija zu spielen.«
»Danke, du Besserwisserin«, sagte Margaret.
Es wurde leise in dem dunklen Zimmer. Gretchen verbarg ein Gähnen in ihrer Armbeuge. Irgendwer musste den Abend retten. Wie üblich war dieser Jemand Abby.
»Gehen wir schwimmen«, sagte sie.
»Scheiße, nein«, erwiderte Margaret. »Zu kalt.«
»Nur für eine Minute«, sagte Abby.
Ihr gefiel der Gedanke, rauszugehen.
»Ich komme mit«, sagte Gretchen und stemmte sich vom Fensterbrett hoch.
»Lasst mich noch die eine Matheaufgabe zu Ende machen.«
Margaret ging zu Glee und klappte ihr Heft zu.
»Menschenskind, du blöde Nuss«, sagte sie. »Mach mich nicht kirre.«
Sie polterten die drei Treppen runter, machten die Hoflichter an und liefen in den Garten.
»Macht die Lichter aus«, sagte Gretchen, »damit wir die Sterne sehen können.«
»Abby«, sagte Margaret, »der Schalter ist bei der Hintertür.«
Abby lief die Eingangstreppe wieder hoch, fand den Schalter hinter der Mikrowelle, und es wurde dunkel im Garten. Sofort erschien der Himmel heller, und das Lied der Grillen klang lauter. Ein aufgeblähter, orangefarbener Mond hing direkt über den Bäumen am Horizont. Die Nacht fühlte sich an, als lauschte sie ihnen, als Abby auf Zehenspitzen wieder die Treppe runterschlich.
»Wie wunderhübsch«, sagte Gretchen gerade.
Sie betrachteten eine Sekunde lang den Mond, wobei jede von ihnen angestrengt versuchte, auf den Trip zu kommen, aber der Mond hing bloß weiter als Mond am Himmel. Dann zog Gretchen ihr T-Shirt aus.
»Wahnsinnstittenalarm!«, rief sie, und dann rannte sie Richtung Anleger in die Dunkelheit, wobei sie ihre Kleider abstreifte, den Arm nach hinten streckte, um sich den BH aufzumachen, mit ihren langen Beinen die Meter durchs Gras fraß und in den Schatten verschwand.
»Warte!«, rief Margaret. »Es ist Ebbe.«
Gretchen wurde nicht langsamer. Sie hörten ihre schnellen Schritte auf dem Holzanleger.
»Gretchen!«, rief Abby. »Spring nicht!«
Sie rannten ihr nach, Margaret und Abby voran. Sie traten auf Abbys Shorts und Unterwäsche, die im Gras lagen. Vor ihnen war ein seichtes Platschen zu hören.
»Scheiße«, sagte Margaret.
Im Mondlicht sahen sie, dass die Ebbe aus dem Fluss ein schmutzig silbernes Wasserbändchen zwischen hohen, schlammigen Ufern gemacht hatte. Einen Moment lang hatte Abby vor Augen, wie Gretchen in den Matsch fiel und sich die Kniescheiben zertrümmerte, oder wie sie im keinen Meter tiefen Wasser landete und sich das Gesicht an einer im Dunkeln verborgenen Austernbank aufschlitzte.
»Gretchen?«, rief Abby.
Keine Antwort.
Sie und Margaret hatten das Geländer am Ende des Anlegers erreicht. Glee folgte hinterdrein.
»Wo ist Gretchen?«, fragte sie.
»Sie ist gesprungen«, antwortete Abby.
»Scheiße«, sagte Glee. »Geht es ihr gut?«
Sie sahen in beide Richtungen den Fluss entlang, doch Gretchen war verschwunden. Sie riefen ein paar Mal nach ihr. Ihre Stimmen verhallten über dem Wasser.
Abby rannte die Rampe zum Schwimmdock runter.
»Hier gibt’s Alligatoren!«, warnte Margaret.
»Gretchen?«, rief Abby über den Fluss.
Keine Antwort. Abby begriff, dass sie würde reingehen müssen.
»Hast du eine Taschenlampe?«, rief sie zu Margaret hoch. »Wir sollten das Boot zu Wasser lassen.«
»Und ihr über den Kopf fahren?«, sagte Margaret. »Geniale Idee.«
»Was dann?«, fragte Abby.
»Sie kann praktisch ewig die Luft anhalten«, sagte Margaret. »Wir warten, bis sie wieder auftaucht.«
Das Wasser schwappte um das Schwimmdock und ließ es auf und nieder schaukeln.
»Und wenn sie mit dem Kopf aufgeschlagen ist?«, erwiderte Abby.
»Gibt es hier wirklich Alligatoren?«, fragte Glee.
Etwas bewegte sich im Sumpfgras, und Abby schrak zusammen. War das ein Alligator? Wie klangen Alligatoren? Waren sie nachtaktiv? Sie wusste es nicht. Warum lernte man in der Schule nichts Nützliches?
Abby suchte den Fluss einmal mehr mit Blicken ab, in der Hoffnung, Gretchen zu entdecken, weil sie wirklich nicht ins Wasser springen wollte. Auf der anderen Seite bewegte sich etwas im Sumpfgras. Abby spähte angestrengt und sah einen Schatten, der sich aus der Dunkelheit löste und sich in Richtung Wasser schleppte. Sie sah genau hin. Etwas Nichtmenschliches schlängelte sich durch den Matsch und verursachte ein dumpfes, totes Plopp, als es in den schwarz ins Meer mündenden Fluss glitt. Ein steifer Wind kam vom Wasser her. Der Sommer war vorbei. Es wurde kalt.
»Gretchen!«, rief Glee.
»Wo?«, fragte Abby.
»Dort unten«, sagte sie. »Wo ich hinzeige.«
»Ich kann hier im Dunkeln nicht sehen, wo du hinzeigst.«
»Links«, sagte Glee. »An der Biegung.«
Abby blickte stromabwärts und schirmte ihre Augen mit der Hand vor dem Licht des orangefarbenen Mondes ab. Weit unten, wo der Fluss eine Biegung in Richtung Meer machte und hinter der sumpfgrasbewachsenen Böschung verschwand, war eine blasse Gestalt zu erkennen, die nach Gretchen aussah und sich einen Weg durch den Schlamm zu den Bäumen bahnte. Abby legte die Hände an den Mund.
»Gretchen!«, rief sie.
Die Gestalt lief weiter.
»Wie kommen wir dort runter?«, rief Abby zu Margaret hoch.
Von oben hörte sie ein Feuerzeug klicken und roch Menthol.
»Siehst du«, sagte Margaret. »Es ist alles in Ordnung mit ihr.«
Aber Abby wusste, dass nicht alles in Ordnung war. Wahrscheinlich wusste Gretchen nicht, wo es zurück zum Haus ging. Sie hatte null Orientierungssinn, und sie war nackt. Vielleicht hatte sie noch ihre Turnschuhe an, aber Abby hatte ihre Kleider.
»Hast du eine Taschenlampe?«, fragte Abby.
»Mach dich mal locker«, sagte Margaret. »Die ist in fünf Minuten wieder hier.«
»Ich gehe sie holen«, sagte Abby und ging die Rampe hoch. »Gib mir eine von denen.«
Margaret schüttelte eine Zigarette aus der Schachtel und gab sie Abby. Vor ihrem Gesicht leuchtete eine orangefarbene Flamme auf, und dann sah sie helle Flecken und sog Mentholrauch ein. Sie wollte es den anderen nicht sagen, aber ihr Herz pochte wie wild.
»Ich bin gleich wieder da«, sagte Abby.
»Nimm dich vor Schlangen in Acht«, rief Margaret ihr hilfsbereit nach.
Abby suchte sich einen Weg durchs lange Gras und tauchte ins Dunkel der Bäume ein. Unter den schwarzen Ästen war sie sofort vom Haus, von den Sternen, vom Himmel abgeschnitten. Sie hörte nur noch das Zirpen der Zikaden, das Geräusch trockener Blätter unter ihren Füßen und das gelegentliche Sirren einer Mücke am Ohr. Sie hatte das Gefühl, dass etwas sie belauschte. Sie bewegte sich so leise wie möglich und hielt sich dicht am Fluss. Zu ihrer Linken war der Wald stockdunkel.
Als Abby schließlich auf die kleine Lichtung an der Flussbiegung trat, war ihre Zigarette bis auf den Filter heruntergebrannt. Sie warf den Stummel ins Wasser, in der Hoffnung, dass im nächsten Moment Gretchen zwischen den Bäumen hervorstürmen würde, um sie darüber zu belehren, dass sie Mutter Natur Leid zufügte.
Nichts.
»Gretchen?«, flüsterte Abby laut in die Finsternis hinein.
Keine Antwort.
»Gretchen?«, versuchte sie es erneut, diesmal etwas lauter.
Ein Pfad aus niedergetrampeltem Sumpfgras und aufgewühltem Schlamm verriet, wo Gretchen offensichtlich aus dem Wasser geklettert war. Abby stellte sich dort, wo Gretchen wahrscheinlich herausgekommen war, an die Uferböschung und sah in den schwarzen Wald. Blätter seufzten im Wind, der durch die Baumkronen blies. Die Zikaden sangen noch immer ihr hohes Lied. Von weit weg war ein einziges, hohles Klopfen zu hören, bei dem sich Abby das Herz zusammenkrampfte.
»Gretchen!«, sagte sie mit normaler Lautstärke.
Keine Antwort kam aus dem Wald.
Bevor sie es sich anders überlegen konnte, trat Abby zwischen die Bäume, ging geradewegs in den Wald hinein und stellte sich dabei vor, sie wäre Gretchen. Wo wäre sie langgegangen? In welche Richtung hätte sie sich gewandt? Nach wenigen Sekunden war sie von tiefer Finsternis umgeben. Ihr haltlos umherirrender Blick suchte die Schatten ab und wollte ihnen Gestalt aufzwingen. Eine Hand vor dem Gesicht ausgestreckt, damit sie nicht gegen einen Baum lief und sich die Nase brach, drang Abby weiter vor.
Vor ihr lichtete sich der Wald, und der Mondschein fiel stumpfgrau auf etwas Eckiges, Schwarzes, das aus dem Boden ragte. Abby wurde langsamer, als sie die Lichtung betrat. Vor ihr ragte die Ruine eines Blockhauses auf, ein Rechteck mit nur einem Zimmer, dessen dicke Zementwände schwarz verkohlt und dessen Dach eingestürzt war. Ein einziges blindes Fenster starrte zu ihr herüber, und sie wurde das Gefühl einfach nicht los, dass etwas sie von dort beobachtete. Dann sah sie, wie die Dunkelheit im Blockhaus in Bewegung geriet. In diesem Moment wurde Abby klar, dass die Zikaden nicht mehr zirpten.
Ihr Herz schaltete in den vierten Gang. Sie wusste nicht, wo sie war. Sie hatte noch nie davon gehört, dass es hier irgendwelche Gebäude gab. In dem Blockhaus konnte eigentlich nichts sein, aber etwas darin bewegte sich, und Abby konnte den Blick einfach nicht abwenden. Die Dunkelheit in dem Haus war tiefer. Sie sah sie durch das Fenster, konnte beobachten, wie die Dunkelheit sich drehte, sich wand, schlängelte, wogte. Und ein Summen war zu hören, ein unheilvolles Knistern, das sie durch die Füße spürte, ein Brummen, das tief aus der Erde kam. Abby umfasste Gretchens Shorts und T-Shirt fester. Von weit her hörte sie ein Jagdhorn erschallen.
Das konnte nur das Acid sein. Jetzt wirkte es endlich. Sie musste sich nur umdrehen und weggehen. Hier gab es nichts, das ihr gefährlich werden konnte. Acid war eine starke Droge, aber sie hatte nie jemandem ernsthaft geschadet, vielleicht mit Ausnahme von Syd Barrett. Sie musste sich nur umdrehen und gehen. Es gab keinen Grund zur Sorge, weil nichts von alledem echt war.
In diesem Moment rief ein Mann ihren Namen.
»Abby«, sagte eine Stimme, die aus dem Haus kam.
Sie kam aus der Finsternis – ohne komische Soundeffekte, ohne irgendetwas Unheimliches daran, nur ein ganz normaler Mann, der in einem ganz normalen Tonfall ihren Namen sagte.
Ihre Hände wurden eiskalt; etwas rastete in Abbys Kopf ein, und sie rannte los. Sie verfiel in Panik, sie stolperte, sie rannte mit dem Gesicht gegen einen Baum, weil jemand direkt hinter ihr war, der sie jeden Moment am T-Shirt packen und zu dem dunklen Haus zurückzerren würde. Also rannte sie weiter.
Abby rannte dorthin, wo der Wald weniger dicht aussah. Sie rutschte auf Baumstämmen aus, stolperte über Äste und strauchelte in Büschen. Sie rannte weiter, während Dornen ihr die Schenkel zerstachen und Zweige ihr über die Augen peitschten, sogar, als etwas sich in ihren Haaren verfing und ihr den Kopf nach hinten riss. Sie rannte weiter und spürte, wie ihr die Haare an den Wurzeln ausgerissen wurden. Weiter vorne lichtete sich die Finsternis. Sie sah den Waldrand. Sie war fast da. Ein Winseln stieg in ihrer Kehle auf, und Licht schlug ihr ins Gesicht.
»Hee!«, sagte Margaret.
Abby stürzte aus dem Wald und landete auf Händen und Knien. Margaret und Glee standen im hüfthohen Gras auf dem Feld. Sie waren weit weg vom Fluss, weiter, als es Abby bewusst gewesen war.
»Hinter mir!«, sagte sie und stemmte sich aus dem kalten Gras hoch.
Margaret hob den Strahl der Taschenlampe von Abbys Gesicht und ließ ihn an der Wand aus Baumstämmen entlanggleiten, die in dem Licht schmuddelig, klein und kein bisschen unheimlich aussahen.
»Hast du jemanden gesehen?«, fragte Margaret.
»Wo ist Gretchen?«, fragte Glee.
»Ist sie nicht bei euch?«, fragte Abby keuchend.
»Scheiße«, sagte Margaret.
Margaret und Glee begannen, den Waldrand abzuschreiten, leuchteten mit der Taschenlampe zwischen die Bäume und riefen Gretchens Namen. Abby wurde klar, dass sie nur noch Gretchens Shorts in der Hand hatte. Das T-Shirt hatte sie anscheinend irgendwo im Wald fallen gelassen, und diese Erkenntnis stimmte sie seltsam traurig, als hätte sie etwas Teures und Unersetzliches kaputt gemacht. Trotzdem würde sie auf keinen Fall wieder dort reingehen, um es zu suchen. Auf keinen Fall würde sie noch einmal diesen Wald betreten, aus welchem Grund auch immer.
Nach einer Weile legte sich ihre Panik, und bald schritt sie mit Glee und Margaret den Waldrand ab. Dann kamen sie auf die Idee, dass Gretchen vielleicht im Haus war, und weil Abby nicht wollte, dass sie sich aufteilten, gingen sie alle drei zurück, doch niemand war dort. Sie stocherten im Nudelsalat herum, rauchten und versuchten, sich darüber klar zu werden, ob sie die Polizei anrufen sollten. Dann suchten sie Batterien für zwei weitere Taschenlampen und gingen wieder raus.
»Gretchen!«, riefen sie, während sie auf dem Grundstück herumliefen. »Gretchen? Greeeet-cheeenn!«
Als der Himmel langsam heller wurde und jeder Schritt sich anfühlte, als wateten sie durch flüssigen Beton, beschlossen sie, in den sauren Apfel zu beißen. Sie mussten die Polizei rufen.
»Ich bin so am Arsch«, sagte Margaret.
»Vielleicht ist sie tot«, sagte Abby. »Oder entführt.«
»Vielleicht steckt ein Kult dahinter«, mutmaßte Glee. »Teufelsanbeter oder so.«
»Halt verdammt noch mal die Klappe, Glee«, stöhnte Margaret. »Bevor ich mir das Leben ruiniere, gehen wir im Wald suchen.«
Obwohl der anbrechende Morgen alles grau einfärbte, ertrug Abby die Vorstellung nicht, in den Wald zurückzukehren.
»Niemals«, sagte sie. »Wir sollten die Polizei rufen. Vielleicht hat sie jemand entführt.«
»Wer denn?«, fragte Margaret und knipste ihre Taschenlampe an. Es war inzwischen hell genug, dass sie einander auch ohne gut sehen konnten. »Wer sollte sie entführen wollen? Niemand hat sie verdammt noch mal entführt. Bevor wir die Polizei rufen und ich für den Rest meines Lebens Stubenarrest bekomme, suchen wir sie ein letztes Mal.«
Margaret hatte die Gabe, einem das Gefühl zu vermitteln, dass man sich wie ein dummes Kleinkind anstellte, weshalb Abby ihr und Glee hinaus aufs sichere, offene Feld und von dort zurück in den Irrgarten aus Bäumen folgte.
»Wir sind hier nicht zu einer Party unterwegs«, sagte Margaret. »Verteilt euch.«
»Bei Scooby-Doo fängt damit immer der Ärger an«, erwiderte Glee, gehorchte aber, und Abby tat es ihr widerwillig gleich. Zu dritt schwärmten sie im Wald aus, doch Abby behielt ihre Taschenlampe selbst dann noch an, als der Himmel sich aufhellte. Anfangs versuchte sie, sich dicht am Waldrand zu halten, aber der Gedanke daran, dass Margaret über ihre Feigheit schimpfen würde, in Verbindung mit der Vorstellung, dass Gretchen vielleicht irgendwo verletzt und bewusstlos herumlag, zwang sie, tiefer hineinzugehen. Die Stämme der Weihrauchkiefern und Palmettopalmen hinderten sie daran, sich in einer geraden Linie fortzubewegen, lockten sie in Sackgassen und drängten sie immer weiter vom Waldrand weg. Als sie sie schließlich einmal mehr zu dem Betonblockhaus führten, hätte sie am liebsten geschrien.
Stattdessen holte sie tief Luft und zwang sich, Ruhe zu bewahren. Im schmutzigen Morgenlicht bot das Blockhaus einen deprimierenden Anblick. Es war mit Schmierereien von Jugendlichen bedeckt, die ihre Initialen und seltsame Symbole darauf hinterlassen hatten, die vielleicht perverse Sexpraktiken darstellen sollten: »Fresst Scheiße Hausaufgaben«. »Die vier Unberufenen« und »Bombardiert die Killerwale«. Abby spürte den Druck beobachtender Augen und wirbelte herum.
Nichts außer Baumstämmen. Sie wandte sich wieder dem Gebäude zu und sah eine blasse Gestalt am Fenster stehen und zu ihr herausstarren. Sie hatte dunkle Löcher statt Augen und einen ausgefransten schwarzen Riss als Mund. Abbys Taschenlampe fiel mit einem dumpfen Laut zu Boden.
»Wie spät ist es?«, fragte Gretchen.
Ihre Kehle war rau, ihre Stimme heiser. Dann verschwand sie vom Fenster und kam um das Haus herum, abgesehen von ihren Sneakers splitternackt, bis zu den Hüften mit schuppig getrocknetem Schlamm beschmiert und mit Dreckstreifen auf dem Rest des Körpers, die Hände schwarz, Blätter im Haar. Sie trat ins Licht, und die aufgehende Sonne spiegelte sich in ihren Augen, die für einen Moment wie kalte Silberscheiben aussahen.
»Wo warst du?«, fragte Abby.
Gretchen schob sich an ihr vorbei in Richtung Wald.
»Gretchen?«, rief Abby und eilte ihr hinterher. »Ist alles in Ordnung mit dir?!«
»Bestens«, sagte Gretchen. »Mir ist kalt, ich bin nackt, und am Verhungern. Ich habe die ganze Nacht im Scheißwald verbracht.«
Diese Antwort ließ Abby sprachlos zurück. Gretchen fluchte nie. Sie hielt Gretchen ihre Shorts hin.
»Die hab ich gefunden«, sagte sie. »Aber dein T-Shirt habe ich verloren.«
Gretchen riss Abby die Shorts aus der Hand und stieg mit kalten, steifen Gliedern hinein. Sie zog sie hoch, verschränkte die Arme vor der Brust und klemmte sich die Hände unter die Achseln.
»Wir dachten, du hättest dich verlaufen«, erklärte Abby. »Wir suchen dich schon, seit du vom Anleger gesprungen bist. Margaret wollte gerade die Polizei rufen.«
Gretchen, die mit den Armen ihre Brüste bedeckte und Gänsehaut am ganzen Leib hatte, beugte sich vor, immer weiter, bis sie hockte, als wollte sie pinkeln, und dann erstarrte sie. Die Haare hingen ihr vors Gesicht, und Abby brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass sie weinte. Dann kauerte Abby sich neben Gretchen und schlang die Arme um ihren eiskalten Rücken.
»Pst, pst, pst«, sagte sie und rieb ihr über die Schultern. »Schon gut.«
Gretchen lehnte sich unbeholfen bei ihr an und schniefte und bebte eine ganze Minute lang, ehe ein undefinierbarer Laut aus ihrer Kehle drang.
»Wie bitte?«, fragte Abby.
»Ich will nach Hause«, wiederholte Gretchen.
»Da gehen wir hin«, sagte Abby.
Sie stand auf, zog Gretchen mit sich hoch, drehte sie herum und versuchte, loszugehen. Doch Gretchens Beine waren so steif, dass sie nicht mehr als stolpern konnte.
»Glee!«, brüllte Abby. »Mar-ga-ret!«
Sekunden später kamen die Mädchen durch den Wald gebrochen.
»Scheiße noch mal, Gott sei Dank«, sagte Margaret.
Dann waren Glee und Margaret bei Gretchen und führten sie von der Lichtung. Margaret zog ihr großes T-Shirt aus und streifte es Gretchen über den Kopf, weil Margaret wenigstens einen BH anhatte. Abby stand da und sah den anderen hinterher. Erleichterung durchströmte ihre Glieder. Sie warf einen Blick zurück auf das Blockhaus und sah etwas modern Anmutendes hinter einer Ecke hervorragen. Sie beugte sich vor, um besser sehen zu können. Dort stand ein großer Metallkasten auf dem Erdboden. Staubig grün hockte er im Wald, eine weiße 14 auf die Seite geprägt. Sie ging zu dem Kasten und legte eine Hand darauf. Er summte. Auf einer mit einem Vorhängeschloss gesicherten Seitenklappe war ein Southern-Bell-Logo aufgeprägt, und ihr wurde klar, dass das Summen der letzten Nacht von irgendeiner Art Telefonanlage gestammt hatte.
Nun, da das Geheimnis gelüftet war, wandte sie sich erneut dem Blockhaus zu und stellte fest, dass es nicht mehr böse aussah, nur noch verdreckt. Die halbe Decke war runtergekommen, und Haufen großer Zementbrocken bedeckten den Boden. Die Innenwände waren von oben bis unten mit weiteren obszönen Schmierereien vollgekritzelt, jeder Quadratzentimeter war von krakeligen Symbolen, unleserlichen Worten, seltsamen Schriftzeichen oder Zahlen, Sexbildern und Bandnamen über Möchtegern-satanistischen Symbolen bedeckt. Auf dem Boden lagen leere Wine-Cooler-Flaschen und Zigarettenkippen verstreut.
Ein Zementklumpen lag genau in der Mitte, groß und rund wie ein Esstisch und zu einer Seite gekippt, sodass die Fläche zum Fenster zeigte. Wässriges Morgenlicht strahlte eine Hälfte davon an. Auf seiner Oberfläche war etwas Rotes verschmiert, bei dem es sich um frische Farbe handeln mochte. Abby entfernte sich langsam von dem Fenster und machte, dass sie aus dem Wald herauskam.
Es war bloß Farbe, sagte sie sich. Weiter nichts.