Vierzehntes Kapitel
Nouks Erkundungstour und Uris Nachricht
Nouk zog große Kreise über dem Meer von schwarzen Zelten. Das sollte er auskundschaften? Zum Glück hatte er keine näheren Anweisungen erhalten, denn das, was in den Zelten wohnte, gruselte selbst ihn. Zunächst war es ihm schwergefallen zu begreifen, was sich da unter ihm ausbreitete. Es ging ihm nicht um die vielen Zelte, die mehr eine Stadt als ein Dorf bildeten. Die Bewohner waren das Problem. Schatten, die sich zwischen den Reihen der Zelte bewegten, als wären sie Wesen. Nur dass es keine Wesen waren, sondern Schatten, lebendige Schatten! Er konnte es kaum fassen und musste seinem feuerspuckenden Kopf das Maul zuhalten, damit ihm kein Flämmchen entfuhr. Diese Schatten hatten sich zudem mit einem Schutzzauber vor ungebetenen Gästen geschützt. Kein Wesen, das einen Schatten hatte, kam in dieses Dorf hinein. Nur gut, dass er keinen Schatten hatte und deshalb die Aufgabe seiner Erweckerin tadellos erledigen konnte. Einerseits war es dumm, dass er nicht wusste, was sie genau wissen wollte, andererseits hatte er so mehr Zeit hinausgeschunden. Vielleicht war sie ihn auch schon bald leid, sah ihn als Ballast an und würde ihn freilassen? Auf einen Versuch kam es an.
Ziellos ließ er sich über dem Dorf treiben. Was sollte er zuerst tun? Die Zelte zählen? Die Abstände abmessen? Oder die Nuria anlocken, die sich immer wieder in der Nähe des Schutzwalles aufbauten, um die Schatten zu beobachten? Er belauschte sie bei ihren ratlosen Gesprächen. Die Feuerwesen wollten sie vertreiben, die Zelte anzünden und sie brennen sehen, jedoch wussten sie nicht wie. Auch sie konnten den Schutzzauber nicht brechen, denn obwohl sie keine Wesen des Lichts waren, hatten sie Schatten, Schatten aus Feuer. Deshalb fürchteten sie die lebendigen Schatten. In diesem Zusammenhang hatte Nouk eines beobachten können: Es war die Furcht, die die Schatten nährte. Sie brauchten kein Licht, Emotionen dagegen machten sie stark. Wenn die Schatten die Nuria bemerkten, kamen sie an die Grenzen ihres Dorfes und labten sich an ihrer Furcht. Es war, als würden sie schweben, wenn sie die Furcht der Feuerwesen wahrnahmen. Diese Erkenntnis musste er jedoch nicht mit seiner Herrin teilen. Sie hatte ihn nur auf Erkundungstour geschickt. Er sollte das Schattendorf erkunden. Dazu gehörten die Nuria nicht. Und die Schatten selbst auch nicht. Seufzend setzte er zu einem letzten Rundflug an. Was sollte er berichten? Konnte er es noch länger hinauszögern, bevor er zurückkehren musste? Er war schon seit Stunden unterwegs, und seine Flügel schmerzten ihn. Das lange Fliegen war ungewohnt für ihn. Er hatte viel zu lange geschlafen. Was war nur aus dieser wunderschönen Welt geworden? Er verstand sie nicht mehr. Schließlich trat den Rückflug an.
Ludmilla stand an derselben Stelle, an der der Kobolddrache sie verlassen hatte, und starrte in den Himmel. Sie schien verärgert. Ihre Gefährten saßen auf dem Boden und sprachen leise miteinander. Nouk hoffte, dass die Wesen ihn nicht bemerken würden, und setzte vorsichtig neben Ludmilla auf.
Sie ließ ihm keine Chance, mit ihr allein zu sprechen. »Da bist du ja endlich«, schnappte sie. Und bevor er etwas sagen konnte, flüsterte sie schon: »Lando, Eneas, er ist endlich zurück.« Sie packte ihn an seinem Haupthals und schüttelte ihn. »Du willst mich wohl zum Narren halten, was? Ich hatte dir keine genauen Instruktionen geben können. So läuft das nicht. Nicht mit mir!«
Seine beiden freien Köpfe nickten eingeschüchtert, während der Hauptkopf in ihrem Griff würgte und spuckte.
»Noch so eine Nummer, und ich schicke dich dahin zurück, wo du her kommst«, drohte sie weiter.
Das war ein Fehler, denn der grimassenschneidende Kopf fing an zu grinsen. »Nichts lieber als das«, flötete der Hauptkopf. »Oder denkst du tatsächlich, dass es mir Spaß macht, herumkommandiert zu werden? Und das auch noch von einem Menschenmädchen, das sich für mächtig hält?«
»Ein bisschen mehr Respekt, wenn ich bitten darf.« Eneas’ hohe Stimme überschlug sich fast vor Aufregung.
Ludmilla schnaubte. »Was hast du die ganze Zeit getrieben? Etwa die Zelte gezählt?«
Nouk blickte die Wesen abwechselnd an. Das hatte er tatsächlich, aber es war wohl nicht so geschickt, dies zuzugeben. »Ich habe nach Auffälligkeiten gesucht«, erklärte er und versuchte, nicht kleinlaut zu wirken.
»Und welche gefunden?«, fragte Lando.
»Es sind Schatten«, seufzte Ludmilla. »Was soll es da für Auffälligkeiten geben?«
»Es sind lebendige Schatten«, stellt der Kobolddrache fest und schluckte. »Was habe ich verpasst, dass es nun lebendige Schatten gibt. Wir Drachen respektieren die Schatten, sie sind die wahren mächtigen Wesen in Eldrid, jedoch nur, wenn sie mit ihren Herren verbunden sind. Diese Schatten« – einer der Köpfe stieß einen Funkenregen zu Boden – »sind losgelöst von ihren Wesen und laufen lebendig durch die Gegend. Wie geht das überhaupt?«
»Genau diese Frage stellen wir uns auch«, unterbrach ihn Lando ungeduldig. »Wir haben dich über das Schattendorf geschickt, um sie auszuspionieren.«
»Ausspionieren? Soll ich mich in Gefahr begeben?«
»Du bist ein Drache mit drei Köpfen und beherrschst das Feuer, wie solltest du dich in Gefahr bringen?«, argwöhnte Ludmilla.
Der Kobolddrache würdigte ihre Bemerkung mit einer Grimasse eines seiner Köpfe. »Ich«, betonte er, »habe zwar keinen Schatten und bin sehr mächtig, jedoch bin ich auch noch nie lebendigen Schatten begegnet, und selbst die Nuria haben Angst vor ihnen.« Er schlug sich die Krallen vor die Schnauze. Jetzt hatte er es doch ausgesprochen. Warum konnte er nie sein Maul halten, wenn er es wollte?
»Was haben die Nuria genau gemacht?«, wollte Eneas wissen.
»Was wohl? Sie stehen an der Grenze zum Dorf und kommen nicht rein, genau wie ihr.«
Die Drei tauschten besorgte Blicke aus.
Der Kobolddrache grinste mit seinem Hauptkopf. »Solange ihr Schatten habt, kommt ihr da auch nicht rein.«
Ludmilla fing an, im Kreis zu laufen. »Was machen sie in dem Dorf?«
Der feuerspuckende Kopf schwankte hin und her. »Das konnte ich nicht herausfinden.«
»Was hast du überhaupt herausgefunden?«, stieß Lando verärgert hervor.
»Es leben in den Zelten mehrere Schatten, da sie sie sich teilen. Selbst wenn ich die Zelte zählen würde, wüsste ich am Ende immer noch nicht, wie viele Schatten sich in dem Dorf aufhalten. In jedem Fall sind es viel mehr Schatten als Zelte.«
Ludmilla hielt den Atem an. Hunderte Zelte und mindestens zwei lebendige Schatten pro Zelt. Das wären mehrere hunderte, wenn nicht sogar tausend. Wo sollte das hinführen? Wäre ihre Mission von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen, wenn sie gewusst hätten, womit sie es wirklich zu tun hatten? Es gab so viele lebendige Schatten, und dann gab es wahrscheinlich auch noch die mächtigen Schatten, die sich zum Pentagramm verbanden.
»Du bleibst hier«, befahl sie dem Kobolddrachen. »Wir müssen uns beraten und brauchen keinen Spion unter uns.«
»Ich bin kein Spion!« Ihm entfuhr eine kleine Stichflamme, aber die drei beachteten ihn nicht weiter. Stattdessen hockten sie sich in sicherer Entfernung auf den Boden und steckten die Köpfe zusammen.
»Das ist nicht gut«, murmelte Ludmilla. »So viele lebendige Schatten. Godal ist nur einer von ihnen.«
»Nein«, unterbrach Lando sie. »Er ist der Schattenkönig. Er führt sie an. Ohne ihn sind sie ziellos.«
»Das behauptest du.« Eneas’ Körper glitzerte in allen Farbfacetten. »Woher willst du das wissen? Möglich ist auch, dass sie längst einem anderen Kommando unterstehen. Es gibt noch drei weitere mächtige Schatten, vielleicht sogar vier. Warum sollte alles nur an Godal hängen? Schau dir das Dorf an. Es sind so viele. Ich gebe Ludmilla recht. Außerdem sollten wir Zamir und seine Macht nicht unterschätzen. Du hast das Dorf der schattenlosen Wesen und die riesige Wolke über Fenris gesehen. Zamir hat Großes und Mächtiges vor. Wenn es das Pentagramm der Schatten wirklich gibt, dann ist Godal einer von ihnen, und dann kann ihm nur der Eine die Stirn bieten. Wir müssen den Einen finden, und er muss das Pentagramm zerstören.« Er schlug sich die Hand vor den Mund.
»Also glaubst du doch daran«, lachte Lando leise. »Ich wusste es. Ich wusste, dass ich in dir den richtigen Gefährten gewählt habe.«
Ludmilla blickte die beiden nachdenklich an. Godal war einer von den fünf mächtigen Schatten des Pentagramms. Das war mehr als logisch.
Ludmilla, Ludmilla, hörst du mich?, erklang plötzlich Uris Stimme in ihrem Kopf.
»Ja«, antwortete sie laut, besann sich sofort und dachte: Ich kann dich hören, Uri. Angestrengt lauschte sie in sich hinein.
Es wird immer schlimmer. Wir müssen einen Weg finden, Zamir unschädlich zu machen , sprach Uri weiter. Hör mir zu! Meine Kraft ist begrenzt, und ich kann die Verbindung zu dir nur kurz aufrecht erhalten. Bitte versucht, in das Land der Nuria zu gelangen und eine Wiar ausfindig zu machen. Lasst euch ganz genau erklären, wie die Macht einer Wiar funktioniert. Oder noch besser: Bringt sie mit. Bringt eine Wiar zu mir, damit ich mit ihr reden kann. Kannst du das für mich tun? Für Eldrid? Ich hoffe, es geht dir gut, Ludmilla. Lass Lando auf dich aufpassen. Er kann das. Er ist wirklich einer von den Guten. Vertraue ihm. Bitte.
Noch bevor sie antworten konnte, bemerkte sie, dass die Verbindung abgebrochen war.
Ihre Freunde starrten sie verständnislos an.
»Uri«, fragte Lando zögerlich. »Er kommt hier in deinen Kopf hinein?«
Sie nickte. »Uri hat mich sehr kurz erreichen können. Er klang schwach und konnte die Verbindung nicht lange halten. Seine Macht konnte ich kaum spüren. Ich glaube nicht, dass es ihm sonderlich gut geht, aber er bat mich, dass wir in das Land der Nuria reisen, eine Wiar finden und eine zu ihm bringen.« Sie lachte kurz auf. »Wie gut, dass wir schon im Land der Nuria sind.«
»Eine Wiar«, wiederholte Eneas ungläubig.
»Ja, eine Wiar. Was ist eine Wiar?«
»Bist du dir ganz sicher, dass er Wiar gesagt hat?«, fragte Lando kritisch.
Sie nickte, und ihre Freunde wechselten bedeutsame Blicke.
»Die Wiar gehören einem kleinen Hexenvolk an, das hier im Land der Nuria lebt. Es ist äußerst scheu, bösartig und sehr sehr mächtig«, erklärte Eneas langsam.
»Und was macht sie so mächtig?« Ludmilla rutschte unruhig hin und her.
»Sie können Dinge zum Leben erwecken«, flüsterte Lando und blickte dabei nur Eneas an. »Sie hauchen jedem Gegenstand das Leben ein. Dieser bekommt eine wesensartige Gestalt mit einem Kopf, Armen, Beinen und sogar einem Herz. Es wird zu einem eigenständigen Wesen und kann sehr gefährlich werden, da es der Wiar hörig ist.«
»Obwohl Godal Zamir nicht hörig ist«, entfuhr es ihr.
Lando starrte sie verblüfft an. »Du hast recht, aber Uri möchte, dass wir ihm eine Wiar bringen. Er scheint darin die Lösung zu sehen. Wahrscheinlich vermutet er, dass Zamir die Macht einer Wiar benutzt hat, um Godal zum Leben zu erwecken.«
»Er sagte, dass es wichtig sei zu wissen, wie die Macht der Wiar genau funktioniert«, ergänzte sie.
»Das muss es sein«, mischte sich Eneas ein. »Eine andere Erklärung, warum wir die Wiar aufspüren und zu ihm bringen sollen, gibt es nicht. Er würde uns niemals und vor allem Ludmilla nicht unnötig in eine solche Gefahr bringen, wenn es nicht dringend notwendig wäre.«
»Warum Gefahr?« Ludmilla blies sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und zog ihren Pferdeschwanz enger zusammen.
»Sie wird nicht freiwillig mitkommen.« Eneas’ Körper entfuhr ein Funkenregen in allen nur erdenklichen Farben. »Und wie gesagt, die Wiar sind sehr mächtig und äußerst bösartig. Ich kenne kein Wesen, das einer Wiar begegnet ist und keinen Schaden erlitten hat.«
»Schaden?«
»Sie sind wirklich böse«, flüsterte Eneas. »Du möchtest ihnen nicht begegnen.«
»Das ist aber genau das, was er von uns verlangt«, schnaubte Lando. »Ich halte das für keine gute Idee.«
»Wenn eine Wiar uns helfen kann, Zamir zu entmachten, dann ist es das Risiko wert. Und gerade eben haben wir festgestellt, dass wir keinen Plan haben. Jetzt haben wir einen.« Ludmilla stand entschlossen auf. »Den Drachen nehmen wir mit. Er wird uns noch von Nutzen sein.«
Ihre Freunde rührten sich jedoch nicht.
»Gehen wir nun auf die Suche nach dieser Wiar?«, fragte Ludmilla ungeduldig.
»Ja, aber vorher müssen wir noch mehr über das Schattendorf erfahren«, warf Lando ein und winkte Nouk zu sich.
»Wie viele Zelte sind es? Die Anzahl der Schatten lässt sich schätzen, wenn wir wissen, wie viele Zelte es genau sind. Und vielleicht kannst du den einen oder anderen Schatten belauschen. Wir müssen so viel wie möglich über sie herausfinden.«
Die Köpfe des Kobolddrachen schwankten hin und her. Ludmilla warf ihm einen auffordernden Blick zu. »Worauf wartest du? Du hast einen Auftrag!«
Nouk wand sich, doch er war verpflichtet, seiner Herrin zu gehorchen. »Diese Fragen kann ich euch sofort beantworten.« Einem der Köpfe entfuhr ein unwilliges Zischen. »Ich habe die Zelte gezählt. Was sie vorhaben, kann ich nicht in Erfahrung bringen, da sie nicht sprechen. Wie sie untereinander kommunizieren, weiß ich nicht.«
»Dann finde das heraus oder versuche es zumindest. Außerdem müssen wir wissen, ob sich die mächtigen Schatten in dem Dorf aufhalten. Du erkennst sie an ihrer Aura, da sie viel mehr Magie in sich vereinen als die anderen. Ich erwarte dich in einer Stunde hier zurück, und zwar mit genauen Zahlen und Informationen.«
Ihre Stimme war bestimmt und duldete keinen Widerspruch. Der Kobolddrache erhob sich murrend und feuerspuckend in die Luft und verschwand in der Dunkelheit.
»Wer weiß, ob er nicht doch etwas herausfinden kann«, flüsterte Ludmilla.
Eneas und Lando rückten näher an sie heran.
»Ja, einen Versuch ist es wert«, wisperte Eneas verschwörerisch. »Und dann verschwinden wir hier und suchen das Dorf der Wiar und das so schnell wie möglich.«
Lando schwieg.
»Was passt dir nicht?«, drängte sie ihn.
Der Formwandler sprach nur sehr zögernd. »Unabhängig davon, dass wir meiner Meinung nach nicht mehr über das Schattendorf erfahren werden, wird es sehr schwer, das Dorf der Wiar zu finden. Eneas und ich wissen nicht, wo es liegt. Es gibt nur ein einziges, irgendwo im Herzen des Landes der Nuria.«
Er hielt kurz inne und ließ seinen Blick über die schwarze Ebene schweifen. »Nicht nur, dass wir das Dorf finden müssen, wir werden dafür das Land der Nuria durchqueren müssen. Das ist sehr gefährlich.«
Eneas’ Augen wurden größer. Er versuchte, unmerklich den Kopf zu schütteln, aber Lando ignorierte es und sprach unbeirrt weiter.
»Die Nuria sind ein ebenso gefährliches Volk wie die Wiar. Nur mit einem kleinen, aber feinen Unterschied. Sie haben ebenfalls eine besondere Macht.« Wieder machte er eine Pause, als suchte er nach den richtigen Worten. »Die Nuria sind vor allem so gefährlich, weil ihre Macht es ist, unsere Magie komplett zu lähmen. In der Anwesenheit der Nuria wirst du keine einzige von deinen Kräften nutzen können, egal ob bewusst oder unbewusst. Es ist, als würde das Feuer unsere Schatten lähmen. Das ist gefährlich, Ludmilla, sehr gefährlich. Wenn wir es also schaffen sollten, das Land der Nuria unbeschadet zu durchqueren und das Dorf der Wiar zu finden, müssen wir uns den Hexen stellen. Eine Wiar wird uns nicht ohne weiteres begleiten. Sie wird sich weigern, wird mit uns kämpfen. Vielleicht müssen wir sie gefangen nehmen und hetzen uns damit die restlichen Wiar auf den Hals. Mitsamt ihren Mächten.« Er schüttelte langsam den Kopf. »Ich habe dabei kein gutes Gefühl.«