Fünfzehntes Kapitel
Vince
Nouk landete pünktlich nach einer Stunde wieder neben Ludmilla. Sein Bericht war, wie erwartet, eine Enttäuschung. Er konnte genau sagen, wie viele Zelte es waren, jedoch nicht, wie viele Schatten, da sie kamen und gingen und das unentwegt. Auch hatte er sie weder ausspionieren noch die mächtigen Schatten entdecken können.
»Sie sprechen nicht«, murrte der Kobolddrache, während seine beiden Nebenköpfe ungeduldig hin und her schwenkten. »Das hatte ich bereits gesagt. Und die mächtigen Schatten, so wie ihr sie nennt, habe ich nicht ausmachen können. Diese Schatten haben alle Magie. Wer weiß schon, welche davon mächtiger sind als die anderen. Es sind auf jeden Fall eigenständige Wesen. Eine ganz neue Spezies in Eldrid.«
Angewidert schüttelte sich der kleine Drache. Ludmilla atmete deutlich hörbar aus, so dass Nouk zusammen zuckte. »Wirklich, ich habe mir alle Mühe gegeben. Es gab ein Zelt in der Mitte des Dorfes, das größer war als die anderen Zelte, aber darin war kein Schatten und auch sonst kein Wesen.«
»Was soll das heißen?«, knurrte Lando. »Gab es außer Schatten auch Wesen in diesem Dorf?«
Nouk drehte sich ihm widerwillig zu, wobei er mit seinen Füßen auf dem Boden watschelte wie eine Ente. »Nein, soll es nicht heißen«, fauchte er, und ein Feuerschwall fuhr vor Landos Füßen auf den Boden.
Ludmilla nahm eine drohende Haltung ein, und der Drache zog sich zurück.
In diesem Augenblick wurden sie von einem dumpfen Knall unterbrochen.
Alle drei, auch der Kobolddrache, fuhren herum. Nicht weit von der Stelle, an der sie saßen, lag ein Körper auf dem Boden. Ludmilla erkannte den blonden Haarschopf sofort. Eine Sonnenbrille lag neben ihm auf dem glatten Stein.
»Vince«, keuchte sie und näherte sich vorsichtig dem leblosen Körper. »Vince«, ihre Stimme wurde lauter.
In diesem Moment ertönte ein Stöhnen, und er krümmte sich.
Sofort wich Ludmilla wieder zurück. »Nouk«, befahl sie. »Halte ihn in Schach. Er darf mir nicht zu nahe kommen.«
Eneas und Lando lachten schallend auf und schlugen sich gleichzeitig auf die Münder, um die Lautstärke zu unterdrücken.
»Es ist Vince Taranee, Ludmilla. Kein lebendiger Schatten. Er kann dir nichts anhaben. Und schon vergessen? Er hat keine Ahnung, wie Eldrid funktioniert. Mich würde wundern, wenn er überhaupt begreift, wo er hier gelandet ist«, höhnte Lando.
Der Kobolddrache ließ sich davon nicht beirren. Er hatten einen Befehl von seiner Herrin erhalten, und den führte er aus. Also fauchte er wie ein zu großer Tiger und baute sich vor dem Jüngling auf. Vince bemerkte ihn zunächst nicht. Verwirrt setzte er sich auf, rieb sich den Kopf, während er sich umschaute. Er schien orientierungslos. Schließlich blieb sein Blick an Ludmilla hängen.
»Du«, brummte er und zeigte mit dem Finger auf sie. »Das hättest du nicht tun sollen. Das wird dir noch leidtun, dass du vor mir geflohen bist. Ich habe eine Überraschung für dich.«
Er wollte sich erheben, taumelte heftig und setzte sich wieder. Er sah sich um, als ob er Hilfe erwartete. Als sein Blick erneut in Ludmillas Richtung wanderte, entdeckte er Nouk, der sich vor ihm aufgebaut hatte. Der Kobolddrache hatte die Flügel gespreizt und den Brustkorb aufgebläht wie eine Königskobra.
Vince wischte sich die hellblonden Haare aus dem Gesicht und blickte das Wesen überrascht an. »Was ist das denn?«, stammelte er. Er betrachtete Nouk voller Neugier und fing an zu grinsen.
»Nicht«, rief Lando warnend, aber da war es zu spät.
Vince brach in dem Moment in Gelächter aus, als ihn ein Feuerschwall genau im Gesicht traf und ihm die Haarspitzen versengte. Er schrie auf und schob sich zurück, so schnell er konnte.
»Nouk«, befahl Ludmilla. »Lass das! Du darfst ihn grillen, aber erst, wenn ich es dir gestatte.«
»Was soll das denn heißen?«, schimpfte Vince, während er besorgt sein Gesicht abtastete. Bei seiner eigentümlichen Art, das S auszusprechen, zuckten die Wesen von Eldrid gemeinsam zusammen. Ludmilla grinste. Sie hatten offenbar allesamt ein sehr empfindliches Gehör, wenn es um den speziellen S -Laut von Vince ging.
»Das soll heißen«, konterte sie leise und bestimmt, »dass du dich besser nicht mit mir anlegst. Was willst du hier?«
»Was werde ich wohl wollen, Ludmilla Scathan«, knurrte er. »Ich habe einen Auftrag, und den erfülle ich.«
»Mich an Zamir auszuliefern?«
»Ganz genau!«
»Und was dann? Weißt du, was Zamir mit mir vor hat? Hast du die leiseste Ahnung, was hier vor sich geht?«
Vince hob die Schultern. »Das geht mich nichts an. Wir, die Taranee-Familie, wollen den Schatten meines Großvaters zurück. Deshalb erfülle ich den Auftrag, den Zamir mir aufgetragen hat. Das ist der Preis.«
Lando lachte leise und trat neben Ludmilla. »Wenn es doch so einfach wäre.«
»Was ist daran so lustig?«
»Was denkst du denn, warum Ludmilla hier ist?«, knurrte der Formwandler. Sein Körper stand unter Hochspannung, und es sah so aus, als würde er sich in jeder Sekunde auf Vince stürzen.
Vince hob ungeduldig die Schultern. »Sollte mich das interessieren?«
»Ja, das sollte es. Denn auch Ludmilla hat eine Aufgabe, und unter anderem versucht sie, ihrer Großmutter ihren Schatten zurückbringen.«
Vince blickte sie verwundert an. »Und warum hast du das nicht schon längst getan? Warum bist du noch hier?«
Ludmilla lachte auf, und ihre Freunde stimmten mit ein. Sogar Nouks Hauptkopf gackerte wie ein kleines Küken, was dazu führte, dass das Gelächter für einen kurzen Moment laut und ausgelassen wurde.
»Du hast keine Ahnung, oder?«, fragte Eneas. Die hohe Stimme klang dabei etwas schrill, während er sich neben seinen Freunden aufbaute.
»Tut nicht alle so überheblich. Anscheinend habe ich keine Ahnung. Ja und? Es interessiert mich auch nicht.«
Lando schlenderte scheinbar lässig zu ihm hinüber und beugte sich über ihn. »Wirklich? Es interessiert dich nicht? Du wolltest nie durch diese Welt reisen? Eldrid ist dir völlig egal? Du hast nicht dein Leben darauf hingefiebert, die magische Welt zu erkunden und Zauberkräfte und Wesen zu erleben, von denen du bisher nur träumen konntest?«
Vince sprang auf und blickte dem Formwandler in seine verschiedenfarbigen Augen. »Hey, ich bin schon erwachsen. Ich träume nicht mehr, und das bisschen Magie kann mich nicht beeindrucken.«
Lando winkte Eneas heran und nickte ihm zu. »Ist das so?«
Der Unsichtbare nahm eine andere Farbe an und verschwand dann vor Vince’ Augen.
Dieser blinzelte ungläubig und trat einen Schritt zurück. »Wow«, entfuhr es ihm.
»Eneas ist ein Unsichtbarer«, erklärte Lando überheblich. »Und ich«, damit verwandelte er sich in eine Raubkatze und wieder zurück, »bin ein Formwandler.«
Vince stolperte weiter rückwärts.
Ludmilla lächelte vor sich hin. Die beiden hatten Recht. Vince war völlig unwissend, und sie glaubte ihm kein Wort, wenn er behauptete, dass ihm diese Welt egal sei.
»Was machen wir nun mit ihm?«, wandte sie sich an ihre Freunde.
Nouk knurrte wie ein Tiger. »Ich verarbeite ihn gerne sofort zu Kohlebriketts, erlaube es mir nur.«
Sie hob abwehrend die Hand. Der Formwandler hob die Schultern. »Er ist Ballast für uns. Wir überlassen ihn den lebendigen Schatten oder den Nuria. Vielleicht lassen wir ihn wählen.« Ein böses Lächeln huschte über sein Gesicht.
»Das können wir nicht machen«, unterbrach ihn Eneas. »Er ist ein Mensch. Er ist unschuldig.«
»Ob er so unschuldig ist, wissen wir nicht.« Ludmilla funkelte Vince an. »Was hast du damit gemeint, dass es mir noch leidtun wird, dass ich vor dir geflohen bin?«
Vince hatte sich in abwehrender Haltung auf den Boden gesetzt und blinzelte sie an. »Das«, stotterte er, »sollte eine Überraschung sein.«
»Eine Überraschung?« Sie schürzte die Lippen. »Jetzt bin ich gespannt.«
Er schluckte und sah sich hilfesuchend um. »Ich dachte eigentlich, dass mir einer der lebendigen Schatten gefolgt ist. Als Unterstützung sozusagen. Da habe ich mich wohl geirrt.«
Ludmilla sah ihn zweifelnd an. »Ja, klar. Einer der mächtigen lebendigen Schatten hat nichts Besseres zu tun, als dich zu unterstützen und dir hierher zu folgen.«
Vince hob die Schultern.
Nouk fauchte los. »Ich glaube dir kein Wort. Du lügst. Er hat etwas getan, Herrin. Etwas Böses. Ich kann es riechen.«
»Das stimmt nicht«, schrie Vince los. »Ich habe gar nichts getan. Das waren diese Kreaturen. Sie haben euren Freund, den Großen mit dem langen Zopf, gefoltert. Er wollte nicht sagen, wo ihr hin seid, da haben sie ihn bedrängt und kopfüber über das Becken gehängt. Darin haben sie Feuer auflodern lassen und hätten ihn beinahe lebendigen Leibes verbrannt. Er wollte es nicht sagen, nur irgendwann, als seine Haut schon in Fetzen herunterhing, hat er es gesagt.« Er senkte die Stimme. »Es war schrecklich, aber ich hatte damit nichts zu tun.«
Lando musste Eneas festhalten, sonst hätte er sich auf Vince gestürzt.
»Er lebt«, schrie dieser und schob sich rückwärts. »Er ist nicht tot. Und mich haben sie daraufhin in das Becken gestoßen. Ich weiß doch gar nicht, wo ich hier bin und wie ich zurückkommen soll.«
Eneas riss sich von Lando los und war mit einem Satz neben Vince.
»Bitte, unsichtbarer Riese, tu mir nichts. Ich kann euch nichts anhaben. Der Formwandler hat recht: Lasst mich hier. Werft mich den Schatten zum Fraß vor oder diesen Nuria. Nur tu mir nichts.« Er bebte.
Ludmilla trat an Eneas heran und fasst ihn am durchsichtigen Handgelenk.
»Er ist es nicht wert. Schau doch, wie er zittert. So spricht kein Killer oder einer, der foltern kann. Er sagt die Wahrheit.«
Der Unsichtbare wandte sich ihr zu. Tränen glitzerten in seinen Augen.
»Mainart«, schluchzte er.
»Ich weiß«, erwiderte sie sanft, »Gwendolyn pflegt ihn bestimmt wieder gesund, genauso wie sie es bei Lando getan hat.« Sie nickte bekräftigend und zog ihn weg.
Vince atmete auf, als sich Nouk erneut vor ihm aufbaute und ihm kleine Flammen gefährlich nahe an seinem Gesicht in die Luft blies.
»Lasst ihn«, bat Ludmilla leise. »Er kann uns nichts anhaben. Er hat keine Macht und keine Ahnung, wo er hier ist. Er wird sehr lange brauchen, bis er zu Zamir zurückkehrt. Bis dahin sind wir längst da, wo wir hin wollen.«
Lando nickte. »Sie hat recht, Eneas. Wir sollten aufbrechen und ihn seinem Schicksal überlassen. Er kann uns nicht gefährlich werden, und folgen wird er uns auch nicht können.«
Auf Eneas überdimensionalem langen Gesicht erschien ein breites Grinsen. »Das stimmt. Also lassen wir ihn hier. Das rächt zwar Mainarts Verletzungen nicht, aber es verschafft mir ein wenig Genugtuung.«
»Wir brechen auf«, bestimmte Ludmilla. »Nouk, du begleitest uns. Ich gehe davon aus, dass du dich im Land der Nuria auskennst. Also wirst du uns den Weg weisen.«
Sie winkte den Drachen zu sich. »Wir suchen das Dorf der Wiar. Führe uns zu ihnen. Und umgehe dabei die Nuria. Das ist ein Befehl, und du hast mir zu gehorchen«, flüsterte sie so leise, dass es nur Nouk verstand.
»Hey«, schrie Vince und stand auf. »Wollt ihr mich hier wirklich stehen lassen? Das könnt ihr nicht tun.«
»Doch, Vince Taranee, das können wir, und genau das werden wir«, sprach Ludmilla mit fester Stimme. »Ich wünsche dir viel Glück bei deiner Mission, und ich verspreche dir eins: Mich wirst du nicht an Zamir ausliefern.«
Mit diesen Worten verschwand sie direkt vor Vince’ Augen, genauso wie Eneas und Lando, der sich in einen Adler verwandelte.